Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 03.04.2014

LSG Niedersachsen: verrichten der notdurft, schüler, unfallversicherung, versicherungsschutz, schule, arbeitsunfall, toilette, anerkennung, feststellungsklage, anfang

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Unfallversicherung
Essen und Trinken sind grundsätzlich auch während der Arbeit bzw. des
Schulbesuchs private, eigenwirtschaftliche Handlungen, so dass kein
Versicherungsschutz für Unfälle infolge des Essens oder Trinkens selbst,
beispielsweise durch Verschlucken, Verbrennen, Abbrechen eines Zahnes
oder Vergiftung, besteht. Ausnahmen sind nur anerkannt, wenn Umstände
aus dem versicherten Risikobereich wesentlich zum Unfall beitragen.
Verwirklicht sich jedoch kein Risiko, das der eigenwirtschaftlichen Tätigkeit
innegewohnt hat, sondern das besondere Gefahrenmoment der Schüler-
Unfallversicherung, das sich aus der unzureichenden Beaufsichtigung und
dem typischen Gruppenverhalten von Schülern oder Jugendlichen ergibt,
ist der Versicherungsschutz zu bejahen.
SG Osnabrück 19. Kammer, Urteil vom 03.04.2014, S 19 U 103/12
Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom 13. März 2012 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2012 wird aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass der Schüler I. (geb. am J.) am K. einen Schul-
/Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten hat.
3. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Der am L. geborene Kläger begehrt die Anerkennung seines Unfalls vom
15. Dezember 2010 als Arbeits-/Schulunfall im Sinne der gesetzlichen
Unfallversicherung.
Der Kläger ist Schüler des Gymnasiums M. in M.. Am Unfalltag suchte der
Kläger während der Pause gemeinsam mit einem Mitschüler die Toilette auf
dem Schulgelände auf, um seine Notdurft zu verrichten. Im Waschraum
befanden sich zu diesem Zeitpunkt zwei weitere Schüler. Als der Kläger nach
dem Durchqueren des Waschraumes die Tür zum Toilettenbereich passierte,
erhielt er von einem dieser weiteren Mitschüler einen Stoß in den Rücken. Der
Kläger stürzte daraufhin und schlug mit seinem Oberkiefer gegen den
Eckpfosten einer Toilettenkabine. Er erlitt hierbei eine Schädigung des rechten
oberen Schneidezahns.
Die Schule zeigte dem Beklagten den Unfall an und gab an, der Kläger sei
aufgrund eines versehentlichen Stoßes eines Mitschülers gestürzt. Der
Beklagte lehnte gegenüber dem Vater des Klägers als dessen gesetzlichen
Vertreters mit Bescheid vom 13. März 2012 die Anerkennung des Unfalls als
Schul-/Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung mit der
Begründung ab, dass der Aufenthalt in den Toilettenräumen zum Verrichten
der Notdurft eine private, unversicherte Tätigkeit darstelle.
Der hiergegen erhobene Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid
vom 14. Mai 2012).
Hiergegen richtet sich die am 24. Mai 2012 vor dem Sozialgericht Osnabrück
erhobene Klage, mit der der Kläger – vertreten durch seinen Vater als
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gesetzlichen Vertreter – sein Begehren weiter verfolgt.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers trägt vor, dass es für den Schüler
einer Schule keine andere Möglichkeit gäbe, als während der Schulzeit und im
organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule die Toilette zu
besuchen. Gegen die Rechtsauffassung des Beklagten spräche, dass mit dem
Betreten das Haftungsprivileg des § 106 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB
VII) aufgehoben würde. Dies wäre ein systemwidriges Verständnis der
Haftungssituation.
Der Kläger beantragt,
1. den Bescheid des Beklagten vom 13. März 2012 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2012 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, festzustellen, dass der Kläger am K.
einen Schul-/Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung
erlitten hat.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er weist darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) während des Aufenthalts auf Schultoiletten zwecks Verrichtung einer
Notdurft grundsätzlich kein Versicherungsschutz bestünde. Lediglich der Weg
zur Toilette und zurück sei gesetzlich unfallversichert. Der
Versicherungsschutz auf dem Weg zur Toilette ende jedoch mit dem Betreten
der Sanitäranlagen, d.h. mit dem Durchschreiten der zu ihnen führenden Tür.
Da sich der Kläger innerhalb der Toilettenräume verletzt habe, sei er nicht
gesetzlich unfallversichert gewesen. Zudem habe sich auch kein besonderes
Gefahrenmoment verwirklicht, das typisch für die Schule sei, denn der Kläger
sei nur aufgrund eines versehentlichen Stoßes eines Mitschülers gestürzt. Die
örtlichen Gegebenheiten hätten keine besondere Gefahrquelle dargestellt. Die
Toilettenräume seien ausreichend groß gewesen; es hätten sich insgesamt
auch nur vier Schüler dort aufgehalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten
verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und
Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Klage ist als kombinierte Anfechtungs-
und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGG
zulässig, da der Kläger neben der Aufhebung der Bescheide die Feststellung
begehrt, seinen Sturz als Arbeitsunfall anzuerkennen. Das insoweit
erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers ergibt sich aus der Ablehnung
von Entschädigungsleistungen durch die Beklagte mit der Begründung, dass
kein Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung vorgelegen
hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann der Versicherte in
dieser Situation die Grundlagen der in Frage kommenden Leistungsansprüche
vorab im Wege einer isolierten Feststellungsklage klären lassen.
Die Feststellungsklage der Kläger ist auch begründet. Der Bescheid des
Beklagten vom 13. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
14. Mai 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn
der Kläger hat Anspruch auf Feststellung, dass sein Sturz am K. ein Schul-
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/Arbeitsunfall war.
Arbeitsunfälle nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Unfälle von Versicherten
infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden
Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherten Tätigkeiten sind auch das
Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden
unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1
SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper
einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod
führen.
Nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII sind Schüler während des Besuchs von
allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an
unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im
Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahme kraft
Gesetzes gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert. Dem
Versicherungsschutz unterliegen in erster Linie Betätigungen während des
Unterrichts, in den dazwischen liegenden Pausen und solche im Rahmen so
genannter Schulveranstaltungen. Allerdings ist der Schutzbereich der
"Schülerunfallversicherung" enger als der Versicherungsschutz in der
gewerblichen Unfallversicherung, weil er auf den organisatorischen
Verantwortungsbereich der Schule beschränkt ist, wie sich sowohl aus dem
Wortlaut der Vorschrift als auch ihrer Entstehungsgeschichte ergibt. Außerhalb
dieses Verantwortungsbereichs besteht in der Regel kein
Versicherungsschutz auch bei Verrichtungen, die wesentlich durch den
Schulbesuch bedingt sind und ihm deshalb an sich nach dem Recht der
gewerblichen Unfallversicherung zuzuordnen wären.
Im vorliegenden Fall war der Kläger war als Schüler einer allgemeinbildenden
Schule im obigen Sinne gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert und stand
damit während des Aufenthalts in der Schule am K. sowie während der Pause
grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Der
Kläger hat während dieser Zeit einen Unfall erlitten, denn er ist aufgrund eines
Stoßes seines Mitschülers gestürzt und hat hierbei eine Schädigung des
rechten oberen Schneidezahns erlitten.
Entgegen der Ansicht des Beklagten liegt ferner auch ein sachlicher
Zusammenhang zwischen dem Sturz nach Schubsen durch den Mitschüler als
unfallbringende Tätigkeit und der versicherten Tätigkeit als Schüler vor, so
dass die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Schul-/Arbeitsunfalls
gegeben sind.
Ob ein bestimmtes Verhalten der grundsätzlich versicherten Tätigkeit
zuzurechnen ist, bestimmt sich nach der Zweckrichtung (Handlungstendenz).
Diese muss auf die versicherte Tätigkeit gerichtet sein. Es gibt zahlreiche
Verrichtungen des täglichen Lebens, die gleichzeitig sowohl den
eigenwirtschaftlichen Interessen des Versicherten als auch den betrieblichen
Interessen des Arbeitgebers dienen können. Diese sind grundsätzlich dem
persönlichen Lebensbereich des Versicherten und nicht der versicherten
Tätigkeit zuzurechnen und stehen daher - solange dies das Gesetz nicht
wegen besonderer Erfordernisse des sozialen Schutzes ausdrücklich
anordnet - nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, auch
wenn sie mittelbar der Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis
dienen.
Der Versicherungsschutz ist daher zu verneinen, wenn sich die betreffende
Person zur Unfallzeit rein persönlichen, von der versicherten Tätigkeit nicht
mehr beeinflussten Bedürfnissen und Belangen widmet wie Essen, Trinken,
Schlafen, dem Verrichten der Notdurft oder einem privaten Spaziergang.
Grenze ist dabei nach der Rechtsprechung des BSG stets das Durchschreiten
der Tür. Essen und Trinken sind daher grundsätzlich auch während der Arbeit
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bzw. des Schulbesuchs private, eigenwirtschaftliche Handlungen, so dass kein
Versicherungsschutz für Unfälle infolge des Essens oder Trinkens selbst,
beispielsweise durch Verschlucken, Verbrennen, Abbrechen eines Zahnes
oder Vergiftung, besteht. Ausnahmen sind nur anerkannt, wenn Umstände aus
dem versicherten Risikobereich wesentlich zum Unfall beitragen (Urteil des
Hessischen LSG vom 13. Oktober 2004, Az.: L 3 U 320/03).
Im vorliegenden Fall hat sich der Unfall in den Toilettenräumen der Schule
ereignet; der Kläger hatte die Tür zu den Toiletten auch bereits durchschritten,
so dass der Aufenthalt des Klägers in diesen Räumen grundsätzlich nicht
unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat.
Jedoch ist der Sturz nicht infolge der Verrichtung der Notdurft, z.B. durch
Ausrutschen auf einem nassen Boden, eingetreten, sondern infolge eines
Stoßes durch einen Mitschüler. Es hat sich somit kein Risiko verwirklicht, das
der eigenwirtschaftlichen Tätigkeit – hier der Verrichtung der Notdurft –
innegewohnt hat. Vielmehr hat sich – entgegen der Ansicht des Beklagten –
das besondere Gefahrenmoment der Schüler-Unfallversicherung verwirklicht,
das sich aus der unzureichenden Beaufsichtigung und dem typischen
Gruppenverhalten von Schülern oder Jugendlichen ergibt.
Im Rahmen der Schüler-Unfallversicherung sind als eine weitere Besonderheit
die Gefahren zu berücksichtigen, die sich aus unzureichender Beaufsichtigung
oder dem typischen Gruppenverhalten von Schülern oder Jugendlichen
ergeben (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. u.a. Urteil vom 25. Januar
1977 – Az.: 2 RU 50/76). Gründe hierfür sind das "Übergangsstadium vom
Kind zum werdenden Mann", der noch ungebändigte jugendliche Spiel- und
Nachahmungstrieb, der natürliche Spieltrieb junger Menschen und das
(zwangsweise) Zusammensein vieler Schüler und Jugendlicher. Daher hat es
das BSG als typisches Gruppenverhalten gewertet, dass Schüler das
Schubsen des Mitschülers dem sachlichen Gespräch vorziehen und ihr
Verhalten hierbei in eine Rangelei oder sogar Schlägerei hineingleiten kann,
die dann unmittelbar zu auch vom Schädiger nicht von Anfang an
beabsichtigten Handlungen und sich hieraus ergebenden Verletzungen führt.
Gerade bei Schülern im Pubertätsalter sind Raufereien und Rangeleien
Ausfluss typisch gruppendynamischer Verhaltensweisen (Urteil des BSG vom
5. Oktober 1995, Az.: 2 RU 44/94). Eine schematische Altersgrenze, ab der
solche gruppendynamischen Prozesse von Schülern und Jugendlichen
ausgeschlossen werden müssen, ist abzulehnen (Urteil des BSG vom 7.
November 2000, Az.: B 2 U 40/99 R).
Im vorliegenden Fall haben Umstände aus dem versicherten Risikobereich
wesentlich zum Unfall beigetragen – und nicht die von dem Kläger
beabsichtigte eigenwirtschaftliche Tätigkeit der Verrichtung der Notdurft.
Dieses im Rahmen der Schüler-Unfallversicherung versicherte Risiko hat sich
nur zufällig in den Räumen der Toilette verwirklicht, so dass sich das
besondere Gefahrenmoment der Schüler-Unfallversicherung verwirklicht hat
und damit der sachliche Zusammenhang zu bejahen ist.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Einwand des Beklagten, es habe nur
ein versehentlicher Stoß in den Rücken vorgelegen. Unabhängig davon, ob
ein Stoß in den Rücken überhaupt versehentlich erfolgt, hält die Kammer es für
lebensfremd, dass eine bloße versehentliche Berührung im Sinne einer
unbeabsichtigten Bewegung einen Sturz nach vorne zur Folge hat. Zur
Überzeugung der Kammer hat im vorliegenden Fall vielmehr ein Stoß im
Rahmen einer typischen Rempelei unter Schülern im Pubertätsalter
vorgelegen – auch wenn das Ausmaß der Folgen der Handlung vom
Schädiger nicht von Anfang an beabsichtigt gewesen ist.
Dass sich zur Zeit des Unfallereignisses in den Toilettenräumen vier Schüler
aufgehalten haben, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn die
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Anzahl der Schüler kann nicht entscheidend für die Frage sein, ob sich das
besondere Gefahrenmoment der Schüler-Unfallversicherung verwirklicht hat,
zumal eine schematische Grenze, die auch abhängig wäre von der Größe des
betreffenden Raumes, nicht zu ziehen wäre. Im Übrigen hat sich der Stoß im
vorliegenden Fall direkt nach dem Passieren der Tür zum Toilettenbereich
ereignet, somit an einer Stelle, bei der der Kläger wenig
Ausweichmöglichkeiten hatte und die gerade für einen Stoß eines Mitschülers
im Rahmen einer Rempelei gut geeignet ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.