Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 07.08.2014

LSG Niedersachsen: akte, zustand, asthma bronchiale, stationäre behandlung, körperliche unversehrtheit, trauma, unfallversicherung, rente, expertise, persönlichkeitsstörung

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Unfallversicherung
SG Lüneburg 2. Kammer, Gerichtsbescheid vom 07.08.2014, S 2 U 38/12
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 22.12.2010 und der
Widerspruchsbescheid vom 20.02.2012 werden aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass
- eine längere depressive Reaktion mit gemischter Störung von Gefühlen und
Ängsten bei subsyndromaler PTBS,
- ein Zustand nach akuter Exazerbation eines atopischen Ekzems unmittelbar
nach dem Überfall mit erneuten Schüben und
- eine traumatisch bedingte ängstlich-akzentuierte Persönlichkeitsstörung
Folgen des Unfalls vom 29.11.2005 sind.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin entsprechend den gesetzlichen
Vorschriften eine Rente nach einer MdE i. H. v. 30 % zu gewähren.
3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen
Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung von Unfallfolgen und eine
Rentengewährung.
Bei der im Jahr 1950 geborenen Klägerin besteht an vorbestehenden
Erkrankungen seit dem Jahr 2000 ein nummuläres Ekzem an den Beinen,
welches insbesondere von August 2005 bis zum 07.11.2005 durch D.
behandelt wurde (Bl. 49-1, 49-2 der Akte der Beklagten <= UA>).
Anamnestisch sind eine Asthmaerkrankung und eine Höhenangst bekannt.
Seit Juni 2001 war sie in einer Tankstelle als Kassiererin beschäftigt, wo sie
am 29.11.2005 von zwei Männern überfallen wurde. Gegenüber E. gab sie am
25.03. 2013 den Hergang und die Zeit danach im Wesentlichen
folgendermaßen wieder (= Bl.12 ff. des Gutachtens = Bl. 120 ff. der Akte des
Sozialgerichts <= SG>):
Am 29.11.2005 gegen 22.30 Uhr habe sie während der Übergabe an ihre
Kollegin von der Spät- zur Nachtschicht die Kasse gerade vor sich gestellt, als
ein ausländisch aussehender Mann mit Kapuze vor ihr gestanden sei. Er habe
zunächst nichts gesagt, so dass sie selbst auch nichts Böses gedacht habe.
Dann sei ein zweiter Mann mit Strickmütze und vorgehaltener Pistole
hinzugetreten und habe gesagt: „Wo ist das Geld?“ Sie habe gedacht, ihr Herz
bleibe stehen und geantwortet: „Da steht es!“ Er habe sie aufgefordert, in die
Knie zu gehen und dann das Geld eingepackt. Inzwischen sei der erste Mann
zur Kollegin gegangen mit der Aufforderung: „Geld her!“ Der zweite Mann dann
habe nachgeschaut, ob alles Geld aus den Kassen weg sei. Danach habe sie
eine Zeitlücke mit black-out. Während des Überfalls habe sie kein Zeitgefühl
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gehabt. Die Kollegin habe wohl die Polizei gerufen. Bei deren Eintreffen habe
sie gezittert, gefroren und einen roten Kopf gehabt. Die Polizei habe sie über
zwei Stunden verhört und dann auf ihren Wunsch nachhause gebracht.
Am nächsten Tag habe sie ihren Hausarzt aufgesucht, der ihr das Medikament
„Tavor“ verschrieben habe. Kurz nach dem Überfall sei außerdem ein stark
juckender Hautausschlag am ganzen Körper aufgetreten, weswegen sie ab
dem 12.12.2005 stationär behandelt werden musste. Die ersten Tage nach
dem Überfall sei sie mit schlotternden Knien zur Arbeit gegangen. Aus Angst
vor einem Verlust des Arbeitsplatzes habe sie vom Kopf her abgekoppelt und
versucht weiter zu arbeiten. Bis vor einem halben Jahr habe sie täglich eine
halbe Stunde vor der Arbeit 0,5 mg Tavor eingenommen. Sie habe mit der
Chefin abgesprochen, dass sie abends in der Dunkelheit eine zweite Person
zur Unterstützung bekomme, die Tür abschließe und nur noch über den
Nachtschalter bediene. Nur unter diesen Bedingungen und der Tavor-
Medikation habe sie überhaupt weiterarbeiten können. Nachts habe sie immer
wieder an den Überfall denken müssen, verbunden mit Zittern und Frieren.
Gleichzeitig sind Bildsequenzen des Überfalls aufgetreten, insbesondere die
Situation, als sie sich habe hinknien müssen. Sie habe sich stark
zurückgezogen und nur noch auf ihre Arbeit und ihre Tochter konzentriert,
während sie früher viel kontaktfreudiger gewesen sei. Auch habe sie jetzt
große Angst in der Dunkelheit und gehe deswegen lieber nicht aus dem Haus.
Dies sei vor dem Überfall nicht der Fall gewesen. Auch auf der Straße sei sie
wachsamer geworden und würde Reaktionen bei der Begegnung mit
ausländisch aussehenden Männern sowie bei Männern mit Kapuzen und
Strickmützen verspüren. Fernseh- oder Zeitungsberichte über Überfälle oder
andere Gewalttaten könne sie nicht ertragen, da ansonsten Herzklopfen und
Magenprobleme auftreten würden. Jahrelang habe sie weiter funktioniert, weil
sie es musste und vom Kopf her wollte. Erst im Nachhinein habe sie registriert,
dass sie bei dem Überfall Angst um ihr Leben gehabt habe, da sie wie in
Trance gewesen sei.
Bei der Untersuchung vom 01.03.2010 hatte sie außerdem ausgeführt, dass
die Szene des Überfalls heute noch wie auf einem Film abgescannt sei. In der
Zeit danach seien Magenschmerzen und Sodbrennen häufig aufgetreten, was
vorher noch nie der Fall gewesen sei. Trotz vorhandener Müdigkeit seien auch
Einschlafstörungen aufgetreten, verbunden mit Herzrasen und Unruhe. Sie
habe auch durchgängig Albträume ohne Besserungstendenz. Anfangs seien
oft Bilder aufgetreten, in denen sie „während des Überfalls unten gesessen
habe“. Auslöser für diese Bilder seien Strickmützen und schwarze Helme
gewesen. Zuhause sei alles besser gegangen, sie habe jedoch kaum alleine
nach draußen gehen können. Auch habe sie ausgesprochene Angst vor der
Dunkelheit und lasse abends im Haus die Jalousien herunter, die ihr Mann
rundherum neu angebracht habe. Wenn sie abends allein sei, würde auch das
autogene Training nicht funktionieren. Sie würde sich nur mit ihrem Ehemann
im Hause sicher fühlen, ansonsten könne sie nicht schlafen (Bl. 112-4 ff. UA).
Nach dem Überfall suchte die Klägerin zunächst im Internet Kontakt zu einem
Schweriner Kripobeamten, mit dem sie sich über den Unfall austauschte.
Außerdem kontaktierte sie den Weißen Ring. Am 29.12.2005, 03.01.2006 und
am 13.01.2006 begab sich die Klägerin durch Vermittlung der Beklagten in
psychologische Behandlung zu F. von der G.. Die Klägerin berichtete dabei,
dass sie das Erlebte nicht mehr einfach herunterschlucken könne. Als
Symptomatik würde ein starkes Würgen dominieren, welches sie noch nie
zuvor erlebt habe. Allerdings würde insoweit auch ein Zusammenhang mit
einer Konfliktsituation mit ihrer Chefin bestehen, die sich durch den Überfall
deutlich verschärft habe. Durch ein klärendes Gespräch mit der Chefin und die
Sitzungen mit der Psychologin trat die Würgesymptomatik nicht mehr auf (Bl.
11 ff. UA).
Da einige Tage nach dem Überfall Hautveränderungen am gesamten Körper
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auftraten und sich massiv verschlimmerten, wurde vom 12.12.2005 –
21.12.2005 im Dermatologischen Zentrum in Buxtehude eine stationäre
Behandlung durchgeführt (Bl. 23, 49-2 UA). Während des Aufenthalts nahm
sie auch in Ansehung des Überfalls einen Psychologen in Anspruch, der einen
Zustand nach Belastungsreaktion feststellte (Bl. 39-1 Rs. UA). Auch D. vertrat
im Bericht vom 02.07.2007 die Auffassung, dass eine starke psychische
Belastungssituation zu einer Verschlimmerung des Hautzustandes,
insbesondere eines Ekzems, führen könne. Im Bericht vom 16.03.2006 führte
die behandelnde Hautärztin, H. aus, dass bei der Klägerin weiterhin eine akute
Exazerbation eines atopischen Ekzems und Depressionen vorliegen würden
(Bl. 23 UA).
Im Rahmen des beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und
Familie durchgeführten OEG-Verfahrens erstattete E. unter dem 16.03.2010
ein neurologisch-psychiatrisches Zusammenhangsgutachten. Darin gelangte
sie zu dem Ergeb-nis, dass bei der Klägerin als Folgen des Überfalls eine
„akute Belastungsreaktion mit psychosomatischem Beschwerdekomplex nach
Raubüberfall am 29.11.2005, eine längere depressive Reaktion mit gemischter
Störung von Gefühlen und Ängsten und ein Zustand nach akuter Exazerbation
eines atopischen Ekzems unmittelbar nach dem Überfall“ vorliegen würden.
Diese Gesundheitsstörungen seien mit einem Grad der Schädigung (= GdS)
von 20 zu bewerten (Bl. 112-5 ff. UA).
Demgegenüber gelangte I. im psychiatrischen Zusammenhangsgutachten
vom 13.10.2010 zu dem Ergebnis, dass es aufgrund des Unfalls vom
29.11.2005 nur zu einer Anpassungsstörung gekommen sei, die sich fast
vollständig zurückgebildet habe. Eine posttraumatische Belastungsstörung (=
PTBS) habe sich nicht entwickelt, da das sog. A2-Kriterium nicht erfüllt sei und
die Klägerin auch nicht das geforderte Vermeidungsverhalten aufweisen
würde. Die anderen psychischen Störungsbilder (Agoraphobie, Höhenangst
und eine generalisierte Angststörung) würden auf einer ängstlich abhängige
Persönlichkeits-struktur - bedingt durch die biografischen Erfahrungen -
beruhen und seien unfallunabhängig. Gleiches würde für das Asthma
bronchiale mit einem Benzodiazepin-Gebrauch gelten. Nach Abschluss der
ambulanten Psychotherapie im Januar 2006 sei keine unfallbedingte
Behandlungsbedürftigkeit mehr festzustellen. Die Minderung der
Erwerbsfähigkeit (= MdE) sei ab diesem Zeitpunkt mit unter 10 %
einzuschätzen. Bei seiner Expertise stützte sich J. auf ein psychologisches
Zusatzgutachten von K. vom 13.09.2010 (Bl. 127-1 UA). Mit dem Bescheid
vom 22.12.2010 erkannte die Beklagte nachstehende Unfallfolgen an:
- Eine vorübergehende Anpassungsstörung mit einer überwiegenden
Beeinträchtigung anderer Gefühle und
- eine vorübergehende Verschlimmerung der unfallunabhängigen
Hauterkrankung (nummuläres Ekzem).
Weiterhin wurde festgestellt, dass vom 12.12.2005 - 21.12.2005 unfallbedingte
Arbeitsunfähigkeit und vom 12.12.2005 - 13.01.2006 unfallbedingte
Behandlungsbedürftigkeit bestand. Eine Entschädigungsverpflichtung ab dem
14.01.2006 und eine Rentenzahlung wurden abgelehnt (Bl. 143-1 UA).
Im Widerspruchsverfahren führte L. in der hautärztlichen Stellungnahme vom
01.10. 2011 aus, dass die vorliegenden seelischen Störungen mit großer
Wahrscheinlichkeit wesentlich für die Provokation und Unterhaltung der
„Prurigo simplex subacuta“ verantwortlich seien. Aufgrund der Aktenlage und
der Anamnese würden sich weitere Erkrankungen, die dieses
Hauterkrankungsbild verursachen könnten, nicht verifizieren lassen. Nach dem
vorliegenden psychiatrischen Gutachten von I. habe die psycho-emotionale
Anpassungsstörung jedoch nur bis Januar 2006 bestanden. Sofern danach
nur noch die generalisierte Angststörung wirksam gewesen sei, könnten die
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anhaltenden Beschwerden nicht mehr als Unfallfolge angesehen werden (Bl.
195-2 UA). In der beratungsärztlichen Stellungnahme vertrat schließlich M. die
Ansicht, dass weder eine Anpassungsstörung noch eine unfallbedingte
Behandlungsbedürftigkeit bzw. eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit oder
eine MdE bestanden hätten (Bl. 204 ff. UA). Der Widerspruch wurde mit dem
Widerspruchsbescheid vom 20.02.2012 zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am
21.03.2012 beim SG Lüneburg Klage erhoben und sich hierbei auf das
Gutachten von E. vom 16.03.2010 berufen. Demgegenüber hat die Beklagte
eingewandt, dass das Gutachten von E. für die Versorgungsverwaltung
erstattet worden sei und daher nicht auf die gesetzliche Unfallversicherung
übertragen werden können.
Unter dem 17.05.2013 hat E. ein weiteres psychiatrisches
Zusammenhangsgutachten - unter Zugrundelegung der für die gesetzliche
Unfallversicherung geltenden Maßstäbe - erstattet. Darin gelangte sie zu dem
Ergebnis, dass bei der Klägerin als Folgen des angeschuldigten Ereignisses
„eine längere depressive Reaktion mit gemischter Störung von Gefühlen und
Ängsten bei subsyndromaler PTBS, ein Zustand nach akuter Exazerbation
eines atopischen Ekzems unmittelbar nach dem Überfall mit erneuten
Schüben und eine traumatisch bedingte ängstlich akzentuierte
Persönlichkeitsstörung“ vorliegen würde und die MdE seit Januar 2006
gleichbleibend mit 30 % einzuschätzen sei (Bl. 87 f., 99 SG-Akte).
Demgegenüber hat M. in der Stellungnahme vom 20.06.2013 die Ansicht
vertreten, dass dem Gutachten von E. nicht gefolgt werden könne. In den
ergänzenden Stellungnahmen vom 29.08.2013 und vom 02.12.2013 hat E. an
ihrem Votum festgehalten, ebenso wie M. in den Stellungnahmen vom
30.09.2013 und vom 10.12.2013. M. hat dabei auch ausgeführt, dass E. dem
Gericht gegenüber die ungeprüften Beschwerden der Klägerin als gegebene
Tatsachen ausgeben würde, sich daher Zweifel an ihrer Neutralität ergeben
würden und dem Gericht daher vorgeschlagen werden könne, die Klägerin
einer anderen qualifizierten Einrichtung zur Begutachtung vorzustellen.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
1.) den Bescheid der Beklagten vom 22.12.2010 und den
Widerspruchsbescheid vom 20.02.2012 abzuändern,
2.) festzustellen, dass
- eine längere depressive Reaktion mit gemischter Störung von Gefühlen
und Ängsten bei subsyndromaler PTBS,
- ein Zustand nach akuter Exazerbation eines atopischen Ekzems
unmittelbar nach dem Überfall mit erneuten Schüben und
- eine traumatisch bedingte ängstlich akzentuierte
Persönlichkeitsstörung
Folgen des Unfalls vom 29.11.2005 sind.
3.) Die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Rente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Am 21.02.2013 hat die Klägerin außerdem gegen den Bescheid des
Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie vom
07.12.2011 und den entsprechenden Widerspruchsbescheid vom 24.01.2013
beim SG Lüneburg Klage erhoben und beantragt, ihr Leistungen nach dem
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OEG ausgehend von einem GdS von mindestens 30 zu gewähren (Az. S 11
VE 2/13). Mit dem Beschluss des SG Lüneburg vom 03.06.2014 wurde das
Ruhen dieses Verfahrens angeordnet, um dem dortigen Beklagten
Gelegenheit zu geben, über einen Antrag gemäß § 44 SGB X zu entscheiden.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten
zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind
rechtswidrig und waren aufzuheben, da die Beklagte die Unfallfolgen
unzutreffend bezeichnet und die Gewährung einer Rente zu Unrecht
abgelehnt hat.
Gem. § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII wird eine Rente gewährt, wenn infolge des
Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus die
Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 % gemindert ist. Diese Voraussetzungen
sind hier erfüllt, da die geltend gemachten Gesundheitsstörungen Folgen des
Überfalls vom 29.11.2005 sind und eine MdE i. H. v. 30 % bedingen.
Nach den Anerkennungsgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung ist
die geltend gemachte Gesundheitsstörung (einschließlich der
Brückensymptome) im Wege des Vollbe-weises nachzuweisen. Darüber
hinaus ist für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen dem Unfall und
dem Gesundheitsschaden ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit
erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung aber nur dann erreicht, wenn
bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche
Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR
2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich erst dann zur
Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen
Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste
Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-
Hahn/Mehr-tens, Kommentar § 8 SGB VII, Rz. 10, m. w. N.). Die reine
Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs ist daher für eine Anerkennung
nicht ausreichend (BSG, Urt. v. 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R, S. 8 f.; Urt. v.
02.05.2001 - B 2 U 16/00 R, S. 7 m. w. N.; Urt. v. 02.04.2009 - B 2 U 29/07 R;
Landessozialgericht <= LSG> Niedersachsen, Urt. v. 25.07.2002 - L 3/9/6 U
12/00, S. 6.).
Bei Anwendung dieser Grundsätze ist hier zunächst eine „subsyndromale
PTBS“ als Unfallfolge anzuerkennen. Die Kammer folgt hierbei der Expertise
von E..
Laut ICD-10 F43.1 entsteht die PTBS als eine verzögerte oder protrahierte
Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder
längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem
Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich
aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen
oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von
Betäubtsein und emotio-naler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich
Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der
Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und
Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt
ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer
übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression
sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und
Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer
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Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist
wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet
werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen
chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde
Persönlichkeitsänderung (F62.0) über. Die diagnostischen Kriterien des DSM-
IV TR Nr. 309.81 der PTBS lauten (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v.
31.03.2011 - L 3 U 319/08):
A-Kriterium:
Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die
folgenden Kriterien vorhanden waren:
1. Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren
Erlebnissen konfrontiert, die tatsächlich oder drohenden Tod oder ernsthafte
Verletzung oder die Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen
Person oder anderer Personen beinhalteten.
2. Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder
Entsetzen.
B-Kriterium:
Es kommt zum beharrlichen Wiedererleben des Ereignisses auf mindestens
eine der folgenden Weisen:
1. Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das
Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können.
2. Wiederkehrende belastende Träume von dem Ereignis.
3. Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt
(beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wieder zu erleben, Illusionen,
Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden, einschließlich solcher,
die beim Aufwachen oder bei Intoxikation auftreten).
4. Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder
externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses
symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.
5. Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen
Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren
oder an Aspekte desselben erinnern.
C-Kriterium:
Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind,
oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht
vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:
1. Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit
dem Trauma in Verbindung stehen.
2. Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die
Erinnerungen an das Trauma wachrufen.
3. Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern.
4. Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen
Aktivitäten.
5. Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen.
6. Eingeschränkte Bandbreite des Affektes (z. B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle
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7. Gefühl einer eingeschränkten Zukunft.
D-Kriterium:
Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (d. h. Erregung) (vor dem Trauma
nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:
1. Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen.
2. Reizbarkeit oder Wutausbrüche.
3. Konzentrationsschwierigkeiten.
4. Hypervigilanz (übermäßige Wachsamkeit).
5. Übertriebene Schreckreaktionen.
E-Kriterium:
Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als
einen Monat.
F-Kriterium:
Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen
Funktionsbereichen.
Ausgehend von diesen Kriterien hat E. ausführlich, fachkundig und
nachvollziehbar dargelegt, dass bei der Klägerin die Diagnosekriterien einer
PTBS vorlagen. Das A-Kriterium ist erfüllt, da die Klägerin während des
Überfalls mit einer Schusswaffe bedroht wurde und sie dabei um ihr Leben
fürchten musste. Sie war daher mit einem Erlebnis konfrontiert, welches den
drohenden Tod bzw. eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der
eigenen Person beinhaltete.
Auch das sog. A 2-Kriterium ist erfüllt. E. hat zutreffend darauf hingewiesen,
dass die Initialreaktion schockartig war und mit vegetativen
Begleiterscheinungen (Zittern, Frieren, roter Kopf) einherging. Die Klägerin
musste auch von der Polizei nach der Vernehmung nach Hause gefahren
werden, da sie selbst hierzu nicht in der Lage war. Da sie den Überfall nicht
verarbeiten konnte, wurde ihr vom Hausarzt das Medikament Tavor
verschrieben. Weiterhin hat sie im Internet einen Kontakt zu einem
Kripobeamten aufgebaut, mit dem sie sich über den Überfall austauschte.
Außerdem kontaktierte sie den Weißen Ring. Am 29.12.2005, 03.01.2006 und
am 13.01.2006 begab sich die Klägerin außerdem durch Vermittlung der
Beklagten in psychologische Behandlung zu F. von der G..
Das B-Kriterium ist erfüllt (Nrn. 1, 2), da bei der Klägerin zunächst immer wieder
Intrusionen von dem Überfall auftreten. So traten Bilder auf, bei denen sie sich
während des Überfalls hinknien musste. Auslöser hierfür waren der Anblick
von Strickmützen. Nach den Ausführungen von E. leidet die Klägerin bis heute
auch unter zwei- bis dreimal wöchentlich auftretenden Albträumen mit Bildern
von dem Überfall.
Weiterhin sind auch mindestens drei der sog. C-Kriterien (Nrn 1, 2 und 4 und 6)
erfüllt. E. hat schlüssig dargelegt, dass sich das Vermeidungsverhalten der
Klägerin zunächst als Ängste in der Dunkelheit äußert, da sie sich nicht mehr
alleine heraustraut. Außerdem hat die Klägerin angegeben, dass sie es
vermeidet, Medienberichte von Überfällen oder Gewalttaten bzw. Krimis
anzusehen, da ansonsten Herzklopfen und Magenprobleme auftreten (Bl. 123,
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126 f. SG-Akte). Darüber hinaus besteht eine reduzierte psychische
Reagibilität, welche sich als Rückzugsgefühl äußert. Die Klägerin hat ihre
sozialen Kontakte bis auf den engsten Familienkreis zurückgefahren und geht
nicht mehr auswärts Essen oder zum Kegeln (Bl. 126 SG-Akte). Schließlich
besteht auch eine affektive Einengung (Bl. 195 SG-Akte). Der Auffassung von
I., dass bei der Klägerin aufgrund der von ihr gezeigten Fotographien vom
Tatort ein Vermeidungsverhalten nicht festgestellt werden könne, konnte sich
die Kammer nicht anschließen. Da die Reaktionen nach Überfällen individuell
unterschiedlich sind, kann vielmehr das C-Kriterium auch durch andere der
dort genannten Tatbestandsalternativen erfüllt werden. Zur Feststellung des C-
Kriteriums ist es daher insbesondere auch nicht zwingend erforderlich, dass
die eine Person den Überfallort meidet, da sich die Reaktionen auf den Überfall
auch auf andere Art und Weise den Weg bahnen können. Im Übrigen konnte
die Klägerin die Arbeit in der Tankstelle nur unter Einnahme des Medikaments
Tavor und drastisch veränderten Arbeitsbedingungen (Einstellung einer
zweiten Person zur Unterstützung, Abschließen der Tür und Bedienung nur
über den Nachtschalter) weiterführen (Bl. 122 SG-Akte).
Das D-Kriterium (Nr. 1, 3 und 5) ist erfüllt, weil nach den überzeugenden
Ausführungen von E. weiterhin eine innere Unruhe, Schlaf- und
Konzentrationsstörungen bestehen und die Vigilanz sich erheblich gesteigert
ist. So hat die Klägerin vor ihrem Haus eine Infrarotkamera installieren lassen,
damit sie die Haustür auch in der Dunkelheit von innen kontrollieren kann.
Auch auf der Straße ist die Klägerin wachsamer geworden, insbesondere bei
Vergegenwärtigung von Männern mit Kapuzen oder Strickmützen. E. hat
schließlich darauf hingewiesen, dass noch heute bei der Schilderung des
Überfalls deutliche affektive Einbrüche mit Weinen und Zittrigkeit festzustellen
waren (Bl. 130 SG-Akte).
Schließlich sind auch das E- und F-Kriterium erfüllt, da das Störungsbild länger
als einen Monat andauert, inzwischen chronifiziert ist und in klinisch
bedeutsamer Weise zu Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen
Funktionsbereichen führt.
Die Kammer folgt E. ebenfalls darin, dass sich als Folgen des Unfalls auch
„eine Depression mit gemischter Störung von Ängsten und Gefühlen, eine
traumatisch bedingte, ängstlich akzentuierte Persönlichkeitsstörung und ein
Zustand nach akuter Exa-zerbation eines atopischen Ekzems unmittelbar
nach dem Überfall mit erneuten Schüben“ herausgebildet hat. In diesem
Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass eine PTBS schon per
definitionem mit Depressionen und/oder Ängsten vergesellschaftet sein kann
(ICD-10 F43.1). Auch in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine akute
Belastungssituation in eine akute PTBS oder andere chronische Traumafolgen
übergehen kann (LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 31.03.2011 - L 3 U 319/08,
m. w. N.). Hinsichtlich der überfallbe-dingten Entstehung eines solchen
Mischbildes im konkreten Fall nimmt die Kammer vollinhaltlich auf Bl. 6 die
Stellungnahme von E. vom 29.08.2013 (Ad 10 = Bl. 182 SG-Akte) Bezug.
Darüber hinaus wurden auch die Exazerbation der vorher nur auf die
Unterschenkel begrenzten Hauterscheinungen von den gehörten Hautärzten -
insbesondere auch von L. - auf die psychische Symptomatik zurückgeführt.
Der Ansicht von I., nach der die bei der Klägerin bestehenden
Krankheitsanlagen als die allein wesentliche Ursache für das nach dem
14.01.2006 bestehende Krankheitsbild anzusehen sind, konnte sich die
Kammer nicht anschließen. Nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung
geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ist ein Gesundheitsschaden
dann als Unfallfolge anzuerkennen, wenn der Unfall eine wesentliche Ursache
hierfür war. Dabei erfordert die Feststellung einer wesentlichen Ursache jedoch
nicht, dass der Unfall die alleinige oder überwiegende Bedingung hierfür
gewesen ist. Haben mehrere Ursachen gemeinsam zum Gesundheitsschaden
beigetragen, sind sie nebenein-ander stehende Teilursachen. Kein Faktor hebt
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die Mitursächlichkeit des anderen auf. Dabei kann sogar eine verhältnismäßig
niedriger zu wertende Bedingung für "den Erfolg" rechtlich wesentlich sein. Als
Faustregel lässt sich dabei festhalten, dass ein Faktor jedenfalls dann noch als
wesentlich für den Eintritt des Gesundheitsschadens anzusehen ist, wenn er
neben anderen Bedingungen daran mit einem Drittel beteiligt war
(Schönberger/Mehrtens/Valen-tin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S.
25 f. m. w. N.). Da allerdings ein Versicherter grundsätzlich in dem Zustand
geschützt ist, in dem er den Versicherungsfall erlitten hat, kann aber auch ein
Ursachenbeitrag, dessen Anteil an dem Schaden mit unter einem Drittel
anzusetzen ist, noch als wesentlich angesehen werden. Nach der
Rechtsprechung des BSG darf bei einem Vergleich der kausalen Bedeutung
einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen
krankhaften Anlage das Ereignis nur dann als rechtlich unwesentlich
angesehen werden, wenn die Krankheitsanlage so stark ausgeprägt war, dass
die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art
unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedarf, sondern dass jedes andere
alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit oder in naher Zukunft die
Erscheinung ausgelöst hätte (BSGE 62, 220, 222, 223). Für diese
Konstellation hat es sich eingebürgert, den Unfall als rechtlich unwesentliche,
sog. Gelegenheitsursache zu bezeichnen.
In diesem Kontext schließt sich Kammer schließt der Auffassung von E. an,
dass der Überfall vom 05.05.2006 weit über eine normale Alltagsbelastung
hinausging. Weiterhin waren auch die vorbestehenden Krankheitsanlagen
(atopische Diathese, Asthma-beschwerden und Höhenängste) nicht so
ausgeprägt, dass jedes andere alltägliche Ereignis zu dem jetzigen Zustand
geführt hätte. Die Störungsbilder sind in dieser massiven Form vielmehr erst im
unmittelbaren Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Überfall in
Erscheinung getreten. Die Kammer teilt dabei die Auffassung von E., dass es
ohne den Überfall nicht zur Entwicklung der vorliegenden Krankheitsbilder
gekommen wäre und hält ihre Analyse, dass der unfallbedingte Anteil an deren
Entstehung mit 80 % einzuschätzen ist, für schlüssig (Bl. 48 f. des Gutachtens
= 156 SG-Akte). Der Überfall ist auch weiterhin für die Ausprägung und das
Fortbestehen der Krankheitsbilder zumindest i. S. einer wesentlichen
Teilursache verantwortlich. Der Schlussfolgerung von I., dass die Folgen des
Überfalls abgeklungen seien und eine sog. Verschiebung der
Wesensgrundlage für die psychischen Beschwerden eingetreten sei, konnte
die Kammer nicht folgen, da ihm eine Trennung der psychischen
Gesundheitsstörungen in einen unfallbedingten und unfallunabhängigen Teil
nicht gelungen ist. Die Auswirkungen der PTBS sind vielmehr nach wie vor
wirksam, was sich allein schon aus den von E. und N. festgestellten
vegetativen Begleitsymptomen ergibt, wenn die Klägerin das
Überfallgeschehen schildert (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v.
31.03.2011 - L 3 U 319/08). Im Übrigen hat auch K. eingeräumt, dass die
Klägerin weiterhin Symptome zeigt, die im Zusammenhang mit dem
Überfallereignis stehen (Bl. 127-7 UA). Die von I. als unfallunabhängig
beschriebene Agoraphobie ist schließlich vor dem Unfall niemals festgestellt
worden. Sie ist vielmehr als Ausdruck eines unfallbedingten
Vermeidungsverhaltens (siehe oben C-Kriterium) anzusehen.
Die Kammer hält schließlich auch die MdE-Einschätzung von E. für zutreffend.
Auf die Ausführungen auf Bl. 56 des Gutachtens (= Bl. 164 SG-Akte) wird
vollinhaltlich Bezug genommen. Der Klägerin ist daher entsprechend den
gesetzlichen Vorschriften eine Rente nach einer MdE i. H. von 30 % zu
gewähren (§ 130 SGG).
Den Ansichten von M. konnte sich die Kammer nicht anschließen. Hierbei ist
zunächst zu berücksichtigen, dass seine Stellungnahmen nur nach Aktenlage
abgegeben wurden und daher schon per se wichtige Parameter einer
psychiatrischen Expertise nicht enthalten. Gerade auf psychiatrischem
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Fachgebiet setzt die positive wie negative Feststellung von
Gesundheitsstörungen stets ein persönliches Gespräch des Gutachters mit
dem Probanden sowie eine Verhaltensbeobachtung voraus, insbesondere
dann, wenn Kausalitätsfragen der gesetzlichen Unfallversicherung zu
diskutieren sind. Dabei kommt den Angaben der Versicherten zwar keine
ausschließliche, jedoch eine erhebliche Bedeutung zu. Aus gegebenem
Anlass wird darauf hingewiesen, dass dabei keine Beweisregel dahingehend
existiert, dass diesen Angaben stets nur dann Glauben zu schenken ist, wenn
sie jeweils durch weitere Beweismittel belegt werden. Eine solche
Vorgehensweise würde insbesondere bei der Feststellung von psychischen
Gesundheitsstörungen an ihre Grenzen stoßen, da diese stets nur subjektiv
wahrgenommen werden und sich daher „einer Messbarkeit“ entziehen.
Vielmehr ist anerkannt, dass ein versierter - und den Probanden persönlich
untersuchender - Gutachter verlässliche Aussagen zum Vorliegen und zur
Ausprägung von psychischen Gesundheitsstörungen treffen kann, wenn er
dessen Angaben mit den allgemein- und fachmedizinischen
Untersuchungsergebnissen, der Krankenhistorie und der
Verhaltensbeobachtung im Rahmen der Exploration kritisch abgleicht
(Plausibilitätsprüfung, ob Befund- und Beschwerdeebene übereinstimmen und
ein konsistentes Bild ergeben). Diesen Anforderungen wird das Gutachten von
E., die im Zusammenhang mit sozialgerichtlichen Fragestellungen eine
erfahrene und gründliche Sachverständige auf neu rologisch-psychiatrischem
Fachgebiet ist, vollkommen gerecht. Sie hat dabei insbesondere die
Informationen aus dem Vorbefunden mit den Untersuchungsergebnissen und
den Eindrücken während der körperlichen Untersuchung und persönlichen
Befragung abgeglichen und zu einem konsistenten Bild zusammengeführt.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich bei keiner der durchgeführten
Untersuchungen irgendwelche Hinweise auf Simulation oder Aggravation
feststellen ließen, so dass an der Glaubwürdigkeit der Klägerin keine Zweifel
bestehen.
Jeglicher Grundlage entbehrt daher der Vorwurf, „dass E. dem Gericht
gegenüber die ungeprüften Beschwerden der Klägerin als gegebene
Tatsachen ausgeben würde, so dass sich Zweifel an ihrer Neutralität ergeben
würden. Diese Behauptungen sind nicht nur offensichtlich unzutreffend und
persönlich herabsetzend. M. überschreitet vielmehr in sachwidriger Weise
seine Kompetenzen, da die Beurteilung, ob eine Expertise neutral erstattet
wurde, allein den mit der Entscheidung befassten Gerichten obliegt. Dies gilt im
Übrigen selbstverständlich auch für beratungsärztliche Stellungnahmen eines
Unfallversicherungsträgers. Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass
M. nicht zum ersten Male versucht, gerichtliche Sachverständige in der
geschilderten Weise zu diskreditieren (vgl. z. B. Az. der Bekl. 01519 – 06 – 744
11027 – 06 S = gerichtliches Az. S 2 U 15/09), wird nochmals angeregt, dass
die Beklagte kritisch überprüft, ob derartige beratungsärztliche Stellungnahmen
einer sachlichen Diskussion bei der Beurteilung von
unfallversicherungsrechtlichen Fragestellungen förderlich sind.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der
Sachverhalt, soweit er für die Entscheidung von Bedeutung ist, geklärt ist und
die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Der Sachverhalt weist auch
in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine besonderen Schwierigkeiten auf.
Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen ärztlichen Auffassungen zu den
relevanten medizinisch-rechtlichen Fragestellungen gehört zum Standardfall
einer sozialgerichtlichen Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.