Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 28.05.2002

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 28.05.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 7 U 61/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9 U 457/00
Das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 14. November 2000 sowie der Bescheid der Berufungsbeklagten vom 27.
Mai 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 1998 werden aufgehoben. Die Berufungsbeklagte
wird verurteilt, als Folge des Arbeitsunfalls vom 13. August 1996 - deutliche Bewegungseinschränkung des linken
Mittelfingers mit unvollständigem Faustschluß und Streckdefizit - Schädigung des Nervus medianus im Bereich der
linken Hand mit trophischen Störungen und Schmerzbeschwerden festzustellen und dem Berufungskläger ab 21.
Oktober 1996 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 vH zu gewähren. Die
Berufungsbeklagte hat dem Berufungskläger dessen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligen streiten darüber, ob der Berufungskläger als Folge eines Arbeits-unfalles am 13. August 1996 eine
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grade davongetragen hat.
An diesem Tage geriet der Berufungskläger bei versicherter Tätigkeit mit dem Mittelfinger der linken Hand in eine
nachlaufende Maschine und zog sich dabei eine kombinierte Riß- Quetschverletzung am beugeseitigen Mittelfinger
links mit Verlust des A 3 – A 5 Ringbandes sowie des ulnaren Seitenzügels der FDS-Sehne zu. Nach der operativen
Erstversorgung vom 13. bis 20. August 1996 in der Roland-Klinik-Bremen war der Berufungskläger vom 21. Oktober
1996 an wieder arbeitsfähig. Jedoch verblieb als Dauerschaden eine deutliche Bewegungseinschränkung des linken
Mittelfingers mit unvollständigem Faustschluß und Streckdefizit. Daneben klagte er über persistierende elektrisierende
Mißempfindungen und erhebliche Schmerzbeschwerden im Bereich des Mittelfingers und Ringfingers der linken Hand.
Die Berufungsbeklagte ließ nach Beiziehung von Befundberichten verschiedener Ärzte das Rentengutachten des
Facharztes für plastische Chirurgie und Handchirurgie I. vom 20. Februar 1997 erstatten, der bei dem Berufungskläger
neben einer deutlichen Bewegungseinschränkung des linken Mittelfingers mit unvollständigem Faustschluß und
Streckdefizit noch ausgeprägte Sensibilitätsstörungen über der Beugeseite des linken Mittelfingers bei trophisch
gestörtem Haut- und Weichteilmantel, Blutzirkulationsstörungen am linken Mittelfinger mit Herabsetzung der
Hauttemperatur, eine Minderung der groben Kraft links sowie glaubhafte subjektive Beschwerden feststellte, die durch
diese Unfallfolgen verursachte MdE indessen auf lediglich 10 vH einschätzte. Mit Bescheid vom 27. Mai 1997 lehnte
daraufhin die Berufungsbeklagte die Gewährung einer Verletztenrente ab.
Am 5. Juni 1997 erhob der Berufungskläger Widerspruch, zu dessen Begründung er auf die Schwere seiner
Schmerzbeschwerden und Mißempfindungen hinwies. Die Berufungsbeklagte ließ daraufhin das Gutachten des Dr. J.
vom 8. Januar 1998 erstatten, der aus handchirurgischer Sicht die beim Berufungskläger verbliebenen Unfallfolgen als
lediglich leichte Bewegungseinschränkung des linken Mittelfingerend- und mittelgelenkes mit daraus resultierender
leichter Behinderung des Faustschlusses beschrieb und die hierdurch bedingte MdE in Übereinstimmung mit dem
Vorgutachten auf lediglich 10 vH auf Dauer einschätzte. Mit Widerspruchsbescheid vom 9. März 1998 wies daraufhin
die Berufungsbeklagte den Widerspruch unter Hinweis darauf zurück, daß die unfallbedingte MdE ein
rentenberechtigendes Ausmaß nicht erreiche.
Am 20. März 1998 ist Klage erhoben worden, mit der der Berufungskläger im wesentlichen geltend gemacht hat, der
Sachverhalt sei auf neurologischem Fachgebiet nicht ausreichen aufgeklärt worden. Die bei ihm auf Dauer
verbliebenen Schmerzen und Mißempfindungen rechtfertigten, von einer MdE um mindestens 20 vH auszugehen. Das
Sozialgericht (SG) hat zur weiteren Sachaufklärung den Befundbericht des Nervenarztes Dr. K. vom 25. Juni 1998 an
die Berufungsbeklagte ausgewertet, in dem über die Erhebung elektroneurographischer sowie elektromyographischer
Normalbefunde des Nervus medianus im Bereich der linken Hand berichtet wird. Sodann hat es das neuro-
chirurgische Fachgutachten des Dr. L. M., vom 28. Oktober 1998 erstatten lassen. Dr. L. hat darin bei dem
Berufungskläger eine Quetschung von Endästen des Nervus medianus bei der Verletzung des Mittelfingers der linken
Hand mit nachfolgend entwickelter Algie diffusante im Bereich des verletzten Mittelfingers sowie des benachbarten
Ringfingers diagnostiziert und die unfallbedingte MdE unter Hinweis auf das erhebliche Schmerzsyndrom und die
hierdurch zusätzlich eingeschränkte Gebrauchsfähigkeit der linken Hand auf 20 vH eingeschätzt. Die
Berufungsbeklagte hat sich durch den Neurologen und Psychiater Dr. N., O., beraten lassen, und dessen
Stellungnahme vom 12. Januar 1999 zu den Gerichtsakten gereicht. Darin hat Dr. N. die Auffassung vertreten, es
könne kein Zweifel daran bestehen, daß es bei der vom Berufungskläger am 13. August 1996 erlittenen
Quetschverletzung des linken Mittelfingers auch zu einer Irritation und Beschädigung von sensiblen und autonomen
Nervenstrukturen gekommen sei. Hieraus sei indessen lediglich eine beeinträchtigte Gebrauchsfähigkeit des
Mittelfingers abzuleiten; Mißempfindungen in den übrigen Bereichen der Hand würden hingegen nicht durch die
Unfallfolgen, sondern vermutlich durch ein Karpaltunnelsyndrom erklärt. Die unfallbedingte MdE betrage hiernach auch
unter Berücksichtigung der Schmerzbeschwerden lediglich 10 vH. Das SG hat hierzu die ergänzende Stellungnahme
des Dr. L. vom 8. Februar 1999 eingeholt, zu der Dr. N. unter dem 28. April 1999 seinerseits erneut Stellung
genommen hat. Beide Ärzte haben dabei die von Ihnen vertretene Auffassung zum Umfang der unfallbedingten
neurologischen Schädigungen jeweils aufrecht erhalten.
Nach gutachtlicher Anhörung des Chirurgen und Orthopäden Dr. P. hat das SG – auf Antrag des Berufungsklägers
gemäß § 109 SGG – weiterhin das neurochirurgische Gutachten des Priv-Doz Dr. Q., R., Bremen vom 19. Januar
2000 erstatten lassen. Dieser Gutachter hat die vor ihm von Dr. L. gestellte Diagnose einer unfallbedingten Algie
diffusante als Unterform einer Causalgie im Bereich der Finger III und IV bestätigt und die hierdurch verursachte
Minderung der Erwerbsfähigkeit des Berufungsklägers auf 30 vH geschätzt. Zur Begründung dieser Einschätzung hat
er besonders darauf hingewiesen, daß die starken causalgieformen Beschwerden und die sie begleitenden vegetativen
Störungen, insbesondere Durchblutungsstörungen, nicht nur die Funktionsfähigkeit der beiden unmittelbar betroffenen
Finger, sondern diejenige der gesamten linken Hand beeinträchtigten.
In einem weiteren vom SG eingeholten Gutachten ohne Datum, bei Gericht eingegangen am 25. Juli 2000, hat
schließlich der Unfallchirurg Dr. S. neben einer Bewegungseinschränkung des III. Fingers links beim Berufungskläger
eine Störung der Nervenfunktion am III. und IV. Finger links im Sinne einer Causalgie diagnostiziert, als deren
Ursache eine unfallbedingte Verletzung des Nervus medianus bei offensichtlicher Mitbetroffenheit des Nervus digitalis
communis festgestellt und die hierdurch verursachte MdE mit 20 vH veranschlagt.
Mit Urteil vom 14. November 2000 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen
ausgeführt, daß eine als Unfallfolge beim Berufungskläger eingetretene Verletzung von Nerven der linken Hand nicht
nachgewiesen sei. Dr. K. habe bei dem Berufungskläger elektroneurographische und elektromyographische
Untersuchungen durchgeführt, die Normalbefunde ergeben hätten. Als Unfallfolge nachgewiesen sei hiernach lediglich
eine mäßig ausgeprägte Bewegungseinschränkung des III. Fingers, die zu einer MdE um lediglich 10 vH führe.
Mit seiner am 19. Dezember 2000 eingelegten Berufung verfolgt der Berufungskläger sein Begehren weiter. Er macht
geltend, daß das SG die durch eine unfallbedingte Nervenschädigung verursachten Schmerzbeschwerden im Bereich
der linken Hand bei der Bemessung der MdE zu Unrecht unberücksichtigt gelassen habe und beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 14. November 2000 sowie den Bescheid der Berufungsbeklagten vom 27.
Mai 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 1998 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, als Folge des Arbeitsunfalls am 13. August 1996
- Bewegungseinschränkung des linken Mittelfingers mit unvollständigem Faustschluß und Streckdefizit - Schädigung
des Nervus medianus im Bereich der linken Hand mit trophischen Störungen und Schmerzbeschwerden
festzustellen und dem Berufungskläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 20
vH zu gewähren.
Die Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der Unfallakten der Berufungsbeklagten Bezug genommen, die beigezogen worden sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Berufung ist begründet. Dem Berufungskläger steht für die Zeit ab
21. Oktober 1996 gegen die Berufungsbeklagte nach §§ 580 Abs. 1 und 2, 581 Abs. 1 RVO ein Anspruch auf
Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH zu. Das SG hat die Grundsätze, nach denen sich im Recht der
gesetzlichen Unfallversicherung die für die Gewährung der Verletztenrente maßgebliche Bemessung der
unfallbedingten MdE vollzieht, in seinem Urteil vom 14. November 2000 zutreffend dargelegt. Gleichermaßen
zutreffend hat es ausgeführt, aus welchen Gründen im Fall des Berufungsklägers davon auszugehen ist, daß dieser
bei dem Arbeitsunfall am 13. August 1996 als Folge der Riß-Quetschverletzung an der Beugeseite des linken
Mittelfingers eine Bewegungseinschränkung des Mittelfingers davongetragen hat und weshalb diese mit einer MdE um
10 vH zu bewerten ist. Der Senat nimmt insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen in entsprechender Anwendung
von § 153 Abs 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Seite 5, letzter Absatz bis Seite 7,
erster Absatz) Bezug. Anlaß zu weiteren Ausführungen besteht auch deshalb nicht, weil die Beteiligten die
erstinstanzliche Entscheidung insoweit nicht angegriffen haben.
Im Gegensatz zur Auffassung des SG beschränken sich indessen die beim Berufungskläger unfallbedingt
eingetretenen und über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus verbliebenen Gesundheitsstörungen nicht auf die mit
einer MdE um 10 vH zu bewertende Bewegungseinschränkung des linken Mittelfingers. Zur Überzeugung des Senats
steht vielmehr fest, daß der Berufungskläger als weitere Unfallfolge eine Schädigung des Nervus medianus mit
trophischen Störungen und Schmerzbeschwerden davongetragen hat. Dies haben – unbeschadet ihrer
unterschiedlichen Beurteilung in Bezug auf die hierdurch verursachte MdE – mit Dr. L., Dr. N. und Dr. Q. alle im
Verfahrensverlauf gehörten neurochirurgischen Sachverständigen übereinstimmend bestätigt. Der Senat sieht vor dem
Hintergrund dieses einhelligen neurochirurgischen Urteils auch keinen Anlaß, mit Rücksicht auf die von Dr. K. als
behandelndem Neurologen erhobenen Befunde an einer unfallbedingten Verletzung des Nervus medianus zu zweifeln.
Zwar trifft es zu, daß Dr. K. bei den von ihm durchgeführten elektroneurographischen und elektromyographischen
Untersuchungen, deren wesentlicher Zweck im übrigem die differentialdiagnostischen Abklärung des seinerzeitigen
Verdachts auf ein Karpaltunnelsyndrom gewesen ist. Normalbefunde erhoben und seinen Befundberichten vom 16.
Juni 1998 an die Berufungsbeklagte und vom 25. Juni 1998 an das SG zufolge insoweit keine Hinweise auf eine
Schädigung des Nervus medianus im Bereich des canalis carpi gewonnen hat. Seine Vermutung, die vom
Berufungskläger beklagte Beschwerdesymptomatik sei hiernach lediglich durch oberflächliche sensible
Hautveränderungen bedingt, wird aber durch die von Dr. N. geteilte Diagnose des Dr. L. widerlegt, wonach bei der
körperlichen Untersuchung des Berufungsklägers eindeutige Symptome einer dem Nervus medianus zuzuordnenden
Schädigung sympathischer Nervenfasern feststellbar gewesen sind, die sich in einer typischen vegetativen
Fehlregulation von Hauttemperatur und muskulärer Durchblutung geäußert haben. Auch Dr. Q. hat solche Befunde bei
der körperlichen Untersuchung des Berufungsklägers erheben können und hieraus die ausdrücklich als zweifelsfrei
gekennzeichnete Diagnose einer Nervenschädigung jedenfalls des Nervus medianus abgeleitet. Soweit dieser
Sachverständige darüber hinaus auch eine Schädigung des Nervus digitalis communis diskutiert hat, vermag der
Senat eine solche nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen. Dr. S. hat eine solche Schädigung lediglich
deshalb postuliert, weil diese die Einbeziehung des beim Unfall unverletzten IV. Fingers links in die
Beschwerdesymptomatik am besten erkläre. Indessen bedarf es nach den überzeugenden Ausführungen des
Sachverständigen Dr. L. in dessen Gutachten vom 28. Oktober 1998 der Annahme einer Schädigung weiterer Nerven
als des Nervus medianus nicht, um die Einbeziehung des linken Mittelfingers in die Beschwerdesymptomatik zu
erklären. Dr. L. hat nämlich insoweit unter überzeugenden Hinweisen auf die einschlägige Fachliteratur dargelegt, daß
nicht nur bei einer Causalgie im engeren Sinne, sondern auch bei der von ihm diagnostizierten Algie diffusante eine
gleichzeitige Betroffenheit mehrerer Finger im Versorgungsgebiet derselben Nerven beobachtet werde. Andererseits
vermag sich der Senat aus diesem Grunde auch nicht der Auffassung des Dr. N. in dessen Gutachten vom 12.
Januar 1999 anzuschließen, wonach die beim Berufungskläger mit Sicherheit vorliegende Verletzung des Nervus
medianus nur im Falle einer Causalgie, nicht jedoch im Falle einer Algie diffusante geeignet sei, Beschwerden auch
an dem unverletzten Mittelfinger hervorzurufen. Dies gilt um so mehr, als die von Dr. N. zur Erklärung der für
glaubhaft gehaltenen Beschwerden des Berufungsklägers im Bereich des Mittelfingers herangezogene Verursachung
durch ein Karpaltunnelsyndrom schon nach den diesbezüglichen differentialdiagnostischen Feststellungen des
behandelnden Arztes Dr. K. in seinen Befundberichten vom 16. und 25. Juni 1998 nicht trägt (vgl. hierzu auch das
Gutachten des Dr. Rauschert, S. 4).
Ist hiernach aber als weitere Unfallfolge beim Berufungskläger eine Schädigung des Nervus medianus im Bereich der
linken Hand mit trophischen Störungen und Schmerzbeschwerden verblieben, so ist die unfallbedingte MdE mit
insgesamt 20 vH zu veranschlagen. Der Senat folgt insoweit den übereinstimmenden Vorschlägen der Gutachter Dr.
L. und Dr. S., die hierbei die unfallbedingte Betroffenheit sowohl des verletzten Ringfingers wie auch des
mitbetroffenen Mittelfingers der linken Hand mitberücksichtigt haben. Dem abweichenden Vorschlag des Dr. N.
vermag der Senat demgegenüber nicht zu folgen, weil dieser Gutachter von einer unfallbedingten Schädigung lediglich
des Ringfingers ausgegangen ist. Andererseits erscheint dem Senat die Schätzung der unfallbedingten MdE durch
den Gutachter Dr. Q. zu hoch, soweit dieser diese mit 30 vH über die bei einem Totalverlust der beiden betroffenen
Finger zu veranschlagende MdE hinausgeht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Ein Grund, gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.