Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 09.07.2014

LSG Niedersachsen: zuwendung des arbeitgebers, juristische person, nachzahlung, ausnahme, bedürftigkeit, aufteilung, niedersachsen, genehmigung, vervielfältigung, sozialleistung

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Angelegenheiten nach dem SGB II
Nachzahlungen auf Sozialleistungen (hier: Kindergeld) sind nach § 11 Abs.
3 SGB II, ggf. in Verbindung mit § 11 Abs. 2 S. 3 SGB II, auf sechs Monate zu
verteilen.
SG Osnabrück 33. Kammer, Urteil vom 09.07.2014, S 33 AS 133/13
§ 11a SGB 2, § 11 Abs 3 SGB 2, § 11 Abs 1 SGB 2
Tenor
Die Klagen werden abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Kläger begehren höhere Leistungen für die Monate August und September
2012 ohne Anrechnung einer Kindergeldnachzahlung.
Der Kläger zu 1.) beantragte im September 2010 Kindergeld für den Kläger zu
3.). Dieses wurde im Mai 2011 rückwirkend bewilligt – jedoch noch nicht
ausgezahlt.
Im Juli 2012 beantragte er für sich und die anderen Kläger Leistungen nach
dem SGB II bei der für den Beklagten handelnden Q. (im Folgenden
einheitlich: der Beklagte). Mit Bescheid vom 12. September 2012 bewilligte der
Beklagte Leistungen für Juli 2012 in Höhe von insgesamt 204,73 Euro. Auf
den Gesamtbedarf in Höhe von 1.488 Euro rechnete er Kindergeld in Höhe
von 184 Euro an. Das anrechenbare Einkommen bestimmte er mit 1.099,27
Euro. Mit Bescheid vom gleichen Tage lehnte er Leistungen für die Zeit ab
August 2012 ab. Denn am 20. August 2012 erhielt der Kläger eine Zahlung in
Höhe von 7.136 Euro auf das Kindergeld für einen Teil des zurückliegenden
Zeitraums. Der Rest wurde von der Familienkasse an den Beklagten erstattet.
Den ausgezahlten Betrag betrachtete er als Einmalzahlung und verteilte ihn
auf sechs Monate zu je 1.189,33 Euro. Unter Zugrundelegung der
Berechnungsgrundlagen für den Vormonat ergab sich ein übersteigendes
Einkommen von 1.181,44 Euro. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies
der Beklagte als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 15. Januar
2013).
Die Kläger (zunächst die Kläger zu 1. und 2.) haben am 14. Februar 2013
Klage erhoben.
Sie tragen vor, dass die Nachzahlung nicht zu berücksichtigen sei. Der Kläger
zu 1.) sei seinerzeit nicht auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Er
hätte damals über das Kindergeld frei verfügen können. Die
Kindergeldnachzahlung diene der Herstellung eines rechtmäßigen Zustandes.
Es handele sich um eine zweckbestimmte Einnahme. Streitig seien nur die
Monate September und August 2012, weil für die Zeit danach Leistungen
aufgrund eines Eilverfahrens bewilligt worden seien und der Verbrauch der
Zahlung nachgewiesen sei.
Im April 2013 haben die Kläger beantragt, das Rubrum um den Kläger zu 3.)
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zu erweitern.
Sie beantragen,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12. September 2012
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2013 zu
verurteilen, an die Kläger Leistungen nach dem SGB II ohne
Berücksichtigung der Kindergeldnachzahlung zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, dass nach früheren Entscheidungen die von den Klägern
vorgetragenen Umstände im Rahmen der besonderen Härte nach der alten
Alg-II VO berücksichtigt werden könnten. Nach der Neufassung des § 11 Abs.
3 SGB II sei eine Berücksichtigung ausgeschlossen.
Die Kammer hat die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.
Entscheidungsgründe
Die Klagen haben keinen Erfolg.
Die Klage des Klägers zu 3.) ist unzulässig, da sie nicht innerhalb der Frist des
§ 87 SGG erhoben wurde. Die ursprüngliche Klage der Kläger zu 1.) und 2.) ist
nicht als Klage auch des Klägers zu 3.) auszulegen gewesen, weil die
Übergangsfrist bis Mitte 2007 lange abgelaufen war (BSG, Urteil vom 07.
November 2006 – B 7b AS 8/06 R –, BSGE 97, 217-230):
2. […] Für eine Übergangszeit (bis 30. Juni 2007) sind dabei
Klageanträge (maßgeblich: Antragszeitpunkt) wegen der besonderen
rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten und daraus
resultierenden Zweifel in Erweiterung der üblichen Auslegungskriterien
danach zu beurteilen, in welcher Weise die an einer
Bedarfsgemeinschaft beteiligten Personen die Klage hätten erheben
müssen, um die für die Bedarfsgemeinschaft insgesamt gewünschten
höheren Leistungen zu erhalten, es sei denn, einer solchen
Auslegung wird durch die betroffenen Personen widersprochen bzw.
eine Bedarfsgemeinschaft bestritten oder einzelne Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft sind offensichtlich vom Leistungsbezug nach
dem SGB II ausgeschlossen (etwa: §§ 7 Abs. 4, 28 Abs. 1 S. 1 SGB
II).
3. Materiellrechtliche Grundlage für die Auslegung des Prozessrechts
ist, dass das SGB II keinen Anspruch einer Bedarfsgemeinschaft als
solcher, die keine juristische Person darstellt, kennt, sondern dass -
außer bei ausdrücklichem gesetzlichen Ausschluss -
Anspruchsinhaber jeweils alle einzelnen Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft sind, selbst wenn dies in den Bescheiden der
Beklagten und - soweit ersichtlich - anderer Arbeitsgemeinschaften (§
44b SGB II) sowie der Leistungsträger i. S. des § 6 Abs. 1 SGB II nicht
deutlich zum Ausdruck kommt ([…]). Dies belegt bereits der Wortlaut
des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II („Leistungen erhalten Personen“) und
des Abs. 2 Satz 1 („Leistungen erhalten auch Personen“).
Systematisch hätte es außerdem der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 3
SGB II über die Fiktion der Hilfebedürftigkeit aller Personen in einer
Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 2 S 1 SGB II) nicht bedurft, wenn es
sich bei dem Alg-II-Anspruch um einen solchen für die
Bedarfsgemeinschaft als solche handeln würde. Eine derartige
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Rechtsfolge bedürfte im Übrigen einer näheren rechtlichen
Ausgestaltung dieser Gemeinschaft, bei der es sich weder um eine
Gemeinschaft des bürgerlichen Rechts noch sonstige
Gesamthandsgemeinschaft noch um eine Bruchteilsgemeinschaft
handelt. Darüber hinaus würde eine entsprechende Annahme einen
völligen Bruch mit überkommenen Vorstellungen des Rechts der
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bedeuten, ohne dass die
Gesetzesmotive hierzu irgendetwas aussagen. Aus der
Bedarfsgemeinschaft kann auch ansonsten keine
Gesamtgläubigerschaft (§ 428 Bürgerliches Gesetzbuch ) oder
eine gesetzliche Verfahrens- und Prozessstandschaft jedes Mitglieds
für die Ansprüche der anderen Mitglieder abgeleitet werden. Auch dies
würde dem Einzelanspruchscharakter widersprechen; insbesondere
wäre die Regelung über die Vertretungsvermutung in § 38 SGB II
dann überflüssig.
Das einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft kann also schon
deshalb nicht mit einer eigenen Klage die Ansprüche aller Mitglieder
der Bedarfsgemeinschaft verfolgen. […]
Im Übrigen sind die Klagen als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklagen
statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Sie sind jedoch unbegründet.
Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger jeweils nicht
in ihren Rechten. Die Kläger haben jeweils keinen Anspruch nach den
Vorschriften der §§ 7 ff., 19 ff. SGB II, weil sie nicht im Sinne von § 9 SGB II
hilfebedürftig sind. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist nicht hilfebedürftig, wer seinen
Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen bestreiten
kann. Nach § 9 Abs. 2 SGB II ist das Einkommen und Vermögen von
Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen. Das Kindergeld in
Höhe von ca. 1.181 Euro war als Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II
neben dem sonstigen Erwerbseinkommen zu berücksichtigen und führte dazu,
dass der Gesamtbedarf gedeckt war, so dass es auf eine Aufschlüsselung der
Bedarfsanteile nicht mehr ankam. Entgegen der Auffassung der Kläger
handelte es sich bei der Nachzahlung von Kindergeld, um Einkommen (1.),
welches nicht zweckbestimmt oder sonst freizulassen war (2.) und welches im
Übrigen auf die Monate August und September zu verteilen war (3.). Die
Rechtsprechung zu § 2 Abs. 4 S. 2 Alg-II VO a. F. ist nicht mehr
heranzuziehen (4.).
1. Nach § 11 Abs. 1 SGB II sind alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert
Einkommen. Kindergeld ist insoweit dem Kind zuzurechnen, als es zur
Deckung seines Bedarfs erforderlich ist (§ 11 Abs. 1 S. 4 SGB II). In Höhe von
184 Euro hat der Beklagte bereits Kindergeld bei der laufenden
Leistungsbewilligung berücksichtigt. Im Übrigen ist Kindergeld als
Sozialleistung Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II, auch wenn es für
vergangene Zeiträume gezahlt wird (BSG, Urteil vom 7. Mai 2009, Az.: B 14 AS
4/08 R, juris, Rn. 13–17; BSG, Urteil vom 7. Mai 2009, Az.: B 14 AS 13/08 R,
18 – 28; B 4 AS 70/07 R, juris, Rn. 16–19).
2. Es ist auch nicht nach § 11a SGB II freizulassen. Es handelt sich bei dem
Kindergeld nicht um eine Leistung nach § 11a Abs. 1 SGB II, also Leistungen
nach dem SGB II, Grundrente nach dem BVG oder verwandten Gesetzen oder
Renten oder Beihilfen im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 3 SGB II. Es handelt sich
auch nicht um eine Schadensersatzleistung für immaterielle Schäden (§ 11a
Abs. 2 SGB II). Schließlich handelt es sich auch nicht um eine besondere
zweckbestimmte Einnahme im Sinne des § 11a Abs. 3 SGB II. Kindergeld ist
nach § 11 Abs. 1 SGB II im Gegenteil regelmäßig zu berücksichtigen und dient
ebenso wie die Leistungen nach dem SGB II der Sicherung des
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Existenzminimums.
§ 11a Abs. 3 SGB II ist auch nicht entsprechend anzuwenden. Wenn schon
nach § 11a Abs. 2 SGB II ausdrücklich Schadensersatz für
Vermögensschäden von der Privilegierung ausgenommen ist, dann gilt dies
erst recht für Nachzahlungen auf Sozialleistungen, weil Nachzahlungen
ebenfalls vergangene rechtswidrige Zustände ausgleichen sollen.
3. Es spricht auch nichts gegen eine Verteilung der Einnahme nach § 11 Abs.
3 S. 3 SGB II. Danach sind einmalige Einnahmen auf einen Zeitraum von
sechs Monaten zu verteilen, wenn im Monat des Zuflusses ohne Aufteilung die
Bedürftigkeit entfiele. § 11 Abs. 2 S. 3 ordnet für laufende Einnahmen, welche
in größeren als monatlichen Abständen zufließen die Anwendung des § 11
Abs. 3 S. 3 SGB II an. Die Kammer kann dabei dahinstehen lassen, ob
nachgezahltes Kindergeld eine einmalige Einnahme im strengen Wortsinne
darstellt oder ob es als laufendes Einkommen zu behandeln ist (vgl. BSG,
Urteil vom 16. Mai 2012, Az.: B 4 AS 154/11 R, juris, Rn. 21; Urteil vom 7. Mai
2009, Az.: B 14 AS 13/08 R, juris, Rn. 26). Denn jedenfalls würde es sich um
laufendes Einkommen handeln, welches nicht monatlich anfällt. Zwar müsste
das Kindergeld monatlich gezahlt werden. § 11 Abs. 2 S. 3 SGB II stellt jedoch
auf den tatsächlichen Zufluss ab. Und Nachzahlungen auf Sozialleistungen
erfolgen nicht im Monatstakt, sondern stellen eine Ausnahme dar.
Außerdem weist die Kammer in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die
zitierte Rechtsprechung des BSG für die Kammer nicht bindend. Die
Entscheidung vom 7. Mai 2009 (und die Parallelentscheidung B 14 AS 4/08 R)
ist nicht bindend, weil die Problematik der Verteilung laufender Einnahmen sich
dort nicht stellen konnte. Zu entscheiden war ein Fall vor Einführung der
Verteilungsmöglichkeit zum 1. Oktober 2005. Der Hinweis des BSG in
Randnummer 27 ist irreführend, weil seit dem 1. Oktober 2005 § 2 Abs. 3 Alg-II
VO a. F. entsprechend anwendbar war auf laufende Einnahmen, die in
unterschiedlicher Höhe oder in unregelmäßigen Zeitabständen zufließen und
weil die Alg-II VO in der ursprünglichen Fassung, welche die Verteilmöglichkeit
gar nicht kannte, anzuwenden gewesen wäre.
Die Entscheidung vom 16. Mai 2012 enthält in Randnummer 21 keinen
tragenden Erwägungsgrund. Es bedurfte dort nämlich keiner Entscheidung zu
der Frage, ob eine einmalige oder laufende Einnahme vorlag, weil auch eine
einmalige Einnahme nicht zu verteilen gewesen wäre, weil sie dazu viel gering
gewesen wäre. Es ging dort um eine Nachzahlung von Lohn durch den
Arbeitgeber. Es wäre andernfalls zu klären gewesen, ob die Nachzahlung eine
in unregelmäßigen Abständen zufließende Zuwendung des Arbeitgebers war,
so dass ohnehin § 11 Abs. 2 S. 3 SGB II bzw. § 2 Abs. 2 S. 3 Alg-II VO 2008
greifen würde. Daran ändert auch nichts, dass nach der Rechtsprechung des
BSG laufende Einnahmen solche sind, die auf einem einheitlichen
Rechtsgrund beruhen und regelmäßig erbracht werden, während sich bei
einmaligen Einnahmen das Geschehen in einer einzigen Leistung erschöpft
(vgl. BSG, Urteil vom 7. Mai 2009, Az.: B 14 AS 13/08 R, juris, Rn. 26). Denn
dies hat das BSG nicht davon abzuhalten, Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld
als Arbeitgebersonderzahlungen als einmalige und zu verteilende Einnahmen
zu betrachten (BSG, Az.: B 4 AS 180/10 R, Urteil vom 27. September 2011,
Rn. 9 u. Rn. 11).
4. Die Rechtsprechung zur § 2 Abs. 4 S. 2 Alg II-VO a. F. ist nicht mehr
heranzuziehen (z. B. SG Düsseldorf, Urteil vom 9. März 2009, Az.: S 35 AS
12/07, juris). Diese Vorschrift sah vor, dass im Einzelfall unter näher
bestimmten Voraussetzungen von der Verteilung einmaliger Einnahmen
abgesehen werden konnte. Durch die eindeutige Fassung des § 11 Abs. 3
SGB II ist hierfür kein Raum mehr.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.