Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 23.01.2003

LSG Nsb: erwerbsfähigkeit, behinderung, gefährdung, rehabilitation, arbeitsamt, weiterbildung, wettbewerbsfähigkeit, arbeitsmarkt, form, ausbildung

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 23.01.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 6a RA 127/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 RA 183/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beigeladene hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin des
Berufungsverfahrens zu erstatten, im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin berufsfördernde Leistungen zur
Rehabilitation zu bewilligen, die ihr von der Bei-geladenen bereits gewährt worden sind.
Die im November 1961 geborene Klägerin ist gehörlos. Sie erlernte vom 1. August 1979 bis 30. Juni 1981 den Beruf
der Bauzeichnerin und war nach Abschluss der Ausbildung bis Januar 1998 in dem Architekturbüro tätig, in dem sie
ausgebildet worden war. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihr wegen Arbeitsmangels gekündigt.
Im Februar 1998 beantragte die Klägerin berufsfördernde Leistungen zur Rehabi-litation bei der Beigeladenen
(Arbeitsamt I.), die sich jedoch nicht für zuständig hielt und den Antrag an die Beklagte abgab. Die Klägerin
begründete ihren Reha-Antrag damit, dass sie keine Kenntnisse im CAD-Zeichnen habe. Da jedoch fast alle
Arbeitgeber diese Kenntnisse bei Bauzeichnern erwarteten, sei es erforder-lich, dass sie an einer entsprechenden
zwei Monate dauernden berufsfördernden Maßnahme teilnehme.
Das Arbeitsamt I. übermittelte der Beklagten einen entsprechenden Eingliede-rungsvorschlag. Darin wurde die
Teilnahme der Klägerin an der beruflichen Bil-dungsmaßnahme "CAD-Fachkraft für das Bauwesen” im
Berufsförderungswerk J. vorgeschlagen. Ergänzend führte das Arbeitsamt aus, dass die Klägerin aufgrund ihrer
Behinderung auf die begleitenden Dienste eines Berufsförderungswerks an-gewiesen sei. Ohne diese berufliche
Anpassung sei eine Wiedereingliederung der Klägerin nicht möglich.
Mit Bescheid vom 12. Juni 1998 lehnte die Beklagte die Gewährung berufsför-dernder Maßnahmen ab, da die
gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Die Klägerin könne die Tätigkeit als Bauzeichnerin weiterhin ohne
erhebliche Ge-fährdung der Erwerbsfähigkeit ausüben. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos. In dem
Bescheid vom 26. November 1998 bekräftigte die Beklagte ihre Auffassung, dass ein Anspruch auf die Gewährung
der begehrten berufsför-dernden Leistungen nicht bestehe. Vielmehr hätten die medizinischen Ermittlun-gen ergeben,
dass die Klägerin ihre bisherige Tätigkeit als Bauzeichnerin ohne erhebliche Gefährdung oder Minderung ihrer
Erwerbsfähigkeit ausüben könne. Die angestrebte Weiterbildung zur CAD-Fachkraft diene lediglich der beruflichen
Qualifikation und sei daher nicht aus behinderungsbedingten Gründen erforder-lich. Daher sei die Zuständigkeit der
Beklagten nicht begründet.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass es keinesfalls zutreffend sei, dass sie
die Tätigkeit einer Bauzeichnerin ohne er-hebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit weiter ausüben könne. Die
Vermittlung von Bauzeichnerinnen ohne CAD-Kenntnisse sei völlig aussichtslos, da ihre Ge-hörlosigkeit noch negativ
hinzutrete. Hinzu komme, dass die für die Klägerin bei einer Ausbildung erforderlichen besonderen Hilfen nur in Reha-
Einrichtungen er-bracht werden könnten, die von Seiten des Arbeitsamtes nicht gefördert werden könnten.
Die Beigeladene hat ausgeführt, dass sie den rechtlichen Standpunkt der Klägerin teile. Auch sie hat vor allem darauf
hingewiesen, dass die Klägerin im Hinblick auf die Art der bei ihr bestehenden Behinderung die zur
Wiedereingliederung in das Berufsleben erforderliche Weiterbildung nur in einer behinderungsgerechten Ein-richtung
erreichen könne. Es treffe nicht zu, dass die Erwerbsfähigkeit der Kläge-rin aus medizinischer Sicht nicht
beeinträchtigt sei. Vielmehr müsse in der Ge-samtschau festgestellt werden, dass die Klägerin aufgrund ihrer
Behinderung in ihrer Erwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigt sei. Denn gerade ihre Gehörlosig-keit sei es, die die
angestrebte Reha-Maßnahme nur in einer behinderungsge-rechten Einrichtung zulasse. Aus diesen Gründen sei die
Beklagte verpflichtet, im Rahmen des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation die beantragte
Maßnahme zu fördern. Sie – die Beigeladene – könne in diesem Fall nicht Kostenträger sein. Unabhängig davon habe
man die von der Klägerin bean-tragte Maßnahme im Rahmen der freien Förderung zunächst gewährt (Dauer vom 10.
August 1998 bis 9. August 1999), um unabhängig von dem Streit um die Zu-ständigkeit ihre Wettbewerbsfähigkeit auf
dem Arbeitsmarkt schnell zu verbes-sern. Die Beklagte ist dem mit dem Hinweis entgegen getreten, dass die Klägerin
weiterhin als Bauzeichnerin ohne erhebliche Gefährdung oder Minderung der Er-werbsfähigkeit tätig sein könne. Eine
medizinische Notwendigkeit, die zur Durch-führung berufsfördernder Leistungen zur Rehabilitation zu Lasten der
Beklagten führen würde, sei damit nicht gegeben. Dabei sei es auch ohne Bedeutung, dass diese
Fortbildungsmaßnahme in einer speziellen Einrichtung stattfinden müsse.
Das Sozialgericht (SG) hat einen Befundbericht der behandelnden Ärztin K. vom 29. Juli 1999 beigezogen, dem
zahlreiche Arztberichte beigefügt waren, und die Klage dann mit Gerichtsbescheid vom 26. Juni 2000 abgewiesen. In
den Gründen hat es im Einzelnen ausgeführt, dass die Beklagte den Rehabilitationsantrag der Klägerin zu Recht
abgelehnt habe, da die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 10 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht
erfüllt seien. Denn die Er-werbsfähigkeit der Klägerin als Bauzeichnerin sei nicht aufgrund ihrer Behinde-rung
(Gehörlosigkeit) gefährdet oder gemindert gewesen. Vielmehr sei sie - wie bei entsprechend ausgebildeten gesunden
Bauzeichnern - durch den Umstand gefährdet, dass die Klägerin über keine CAD-Kenntnisse verfüge. Dieses Risiko
falle nicht in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Daran ändere auch nichts der Umstand, dass eine
entsprechende Bildungsmaßnahme wegen der Gehörlo-sigkeit der Klägerin nur in einer speziellen Reha-Einrichtung
erbracht werden kön-ne. Denn es gebe keine Rechtsvorschrift des Inhalts, dass in Fällen dieser Art der
Rentenversicherungsträger für die Gewährung der berufsfördernden Leistungen zuständig sei.
Gegen den ihr am 14. Juli 2000 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 11. August 2000 eingelegte
Berufung der Beigeladenen, mit der sie weiterhin die von ihr vertretene Rechtsauffassung verfolgt. Sie führt
insbesondere noch einmal aus, dass Ziel der Maßnahme gewesen sei, in einer der Behinderung der Klägerin
gerechtwerdenden Form Kenntnisse zu vermitteln und damit auch ihre Erwerbsfä-higkeit zu erhalten und zu
verbessern. Die Klägerin schließt sich diesen Ausfüh-rungen an.
Die Klägerin und die Beigeladene (schriftsätzlich) beantragen,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 26. Juni 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Juni
1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1998 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt erneut aus, dass die Klä-gerin nach wie vor als Bauzeichnerin
ohne erhebliche Gefährdung oder Minde-rung der Erwerbsfähigkeit tätig sein könne. Es gebe keine medizinische
Notwen-digkeit, die allein zu einer Zuständigkeit der Beklagten führen würde, berufsför-dernde Maßnahmen
durchzuführen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitsandes wird auf die Ge-richtsakten und die Akten der Beklagten
Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143 f Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und
somit zulässig.
Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Der Gerichtsbescheid des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Denn sie
hat zutreffend entschieden, dass sie die von der Klägerin begehrte berufliche Rehabilitationsmaßnahme nicht zu
erbringen hat.
Das SG hat in seinem Urteil die hier maßgeblichen Rechtsgrundlagen geprüft und rechtsfehlerfrei angewendet und
sich zutreffend mit dem Vorbringen der Klägerin und der Beigeladenen auseinander gesetzt. Der Senat nimmt deshalb
zur Ver-meidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbeschei-des vom 26. Juni 2000
Bezug (§ 153 Abs 2 SGG).
Im Berufungsverfahren haben sich neue Gesichtspunkte nicht ergeben. Soweit die Beigeladene die Auffassung
vertritt, die Zuständigkeit der Beklagten für die beantragte Rehabilitationsmaßnahme sei schon deshalb gegeben, weil
die Kläge-rin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Leistungen durch die Be-klagte erfülle, kann dieser
Ansicht nicht zugestimmt werden. Sie entspricht nicht der gesetzlichen Regelung, die nicht allein auf das Vorliegen
der versicherungs-rechtlichen Voraussetzungen abstellt, sondern darüber hinaus das Vorliegen per-sönli cher
Voraussetzungen fordert, die in § 10 SGB VI normiert sind. Wie das SG schon im Einzelnen ausgeführt hat, liegen
diese persönlichen Voraussetzungen im Falle der Klägerin jedoch nicht vor. Denn es bestand keine medizinische Not-
wendigkeit zur Durchführung berufsfördernder Maßnahmen zur Rehabilitation der Klägerin, sondern die Maßnahme war
erforderlich, um die Wettbewerbsfähigkeit der Klägerin auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Hierzu hat die Beigeladene
richtig ausgeführt, dass eine Berufsausübung als technische Zeichnerin ohne fundierte CAD-Kenntnisse unter den
derzeitigen Bedingungen des Arbeitsmarktes nicht realistisch sei.
Eine andere Beurteilung ergibt sich entgegen der Auffassung der Beigeladenen auch nicht daraus, dass die
erforderliche Maßnahme nur in einer Einrichtung durchgeführt werden konnte, in der eine behindertenspezifische
Begleitung der Maßnahme sichergestellt war. Diese Tatsache vermag eine Zuständigkeit der Be-klagten nicht zu
begründen. Der Senat verweist auch insoweit auf die Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides. Nur ergänzend
weist er darauf hin, dass die Beigeladene im Rahmen der ihr obliegenden Förderung der Teilhabe behinderter
Menschen am Arbeitsplatz auch besondere Leistungen zu erbringen hat, wie sie etwa in § 102 SGB III im Einzelnen
bestimmt sind.
Nach allem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG und entspricht billigem Er-messen. Dabei hat der Senat
berücksichtigt, dass das Berufungsbegehren maß-geblich von der Beigeladenen verfolgt wurde. Ungeprüft hat der
Senat gelassen, ob die Beigeladene nicht bereits nach SGB III (vor-)leistungspflichtig war und im Anschluss an die
(Vor-)Leistung und ohne Einschaltung der Klägerin die Zustän-digkeit der Kostentragung mit der Beklagten allein hätte
klären müssen.
Es bestand kein Anlass, die Revision zuzulassen, § 160 SGG.