Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 25.01.2001

LSG Nsb: geschäftsführender gesellschafter, rente, diabetes mellitus, zumutbare tätigkeit, erwerbsunfähigkeit, firma, geschäftsführer, berufsunfähigkeit, erwerbsfähigkeit, beweiswert

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 25.01.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 14 RA 107/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 RA 76/99
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Unter den Beteiligten ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit
vom 1. Oktober 1995 bis zum 31. Januar 1997 streitig.
Der am 16. April 1932 geborene Kläger hat von 1949 bis 1951 den Beruf des Rechtsan-waltsgehilfen erlernt und
danach bis 1956 als Bürovorsteher gearbeitet. Von 1956 bis 1958 besuchte er die Akademie für Welthandel,
anschließend war er nach eigenen Anga-ben bis 1984 als Referent für Export , Vertriebsleiter, Prokurist und
Exportleiter tätig. Sei-nen letzten Pflichtbeitrag zur Rentenversicherung zahlte der Kläger im November 1967. Ab
Januar 1972 entrichtete er freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung der Angestell-ten.
Im Dezember 1989 gründete er in Berlin zusammen mit seinem Sohn L. die Firma M ... Das Stammkapital der GmbH
betrug 50.000,- DM, von dem der Kläger zunächst 40.000,- DM übernahm. Zugleich wurde der Kläger zum alleinigen
Geschäftsführer bestellt, ohne – nach seinen eigenen Angaben – ein Geschäftsführergehalt bezogen zu haben. In der
Gesellschafterversammlung der GmbH von 23. Januar 1997 übertrug der Kläger seine Geschäftsanteile in der Höhe
von 30.000,- DM an seinen Sohn L. (20.000,- DM) und zwei weitere Personen (je 5000,- DM). Er selbst behielt nur
noch 10.000,- DM als Stammkapital. Zugleich wurde der Kläger als Geschäftsführer abberufen. Seit dem 1. Mai 1997
erhält der Kläger von der Beklagten eine Regelaltersrente (Bescheid vom 3. Februar 2000).
Im September 1995 beantragte der Kläger bei der Beklagten wegen allgemeiner Er-schöpfung die Gewährung einer
Rente wegen verminderter Leistungsfähigkeit und legte den Befundbericht des Internisten Dr. N. vom 9. Januar 1996
vor. Die Beklagte veran-lasste das internistische Gutachten des Dr. O., P., vom 25. Januar 1996. Der Gutachter
diagnostizierte Diabetes mellitus, Wirbelsäulen- und Erschöpfungssyndrom und hielt den Kläger für fähig, leichte bis
mittelschwere Arbeiten ohne Zeitdruck vollschichtig zu ver-richten. Mit Bescheid vom 16. April 1996 lehnte die
Beklagte daraufhin die Gewährung einer Rente ab. Auf den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch hin holte
die Beklagte das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Dr. Q., P., vom 22. Juli 1996 ein. Der Gutachter hielt bei
im Vordergrund stehender allgemeiner Erschöpfung Tätigkei-ten als Vertriebsleiter nicht mehr für zumutbar, körperlich
leichte Arbeiten, nicht im Akkord und in Wechselschicht, ohne große Anforderungen an die gedankliche Ein- und
Umstell-fähigkeit aber noch für vollschichtig für möglich. Nach Anhörung des berufskundlichen Dienstes gewährte die
Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 7. Juli 1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Februar 1997
bis zum 30. April 1997. Gegen die-sen Bescheid legte der Kläger erneut Widerspruch ein mit dem Begehren, ihm
Rente we-gen Erwerbsunfähigkeit bereits ab dem 1. Oktober 1995 zu gewähren. Mit Widerspruchs-bescheid vom 18.
März 1998 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie u.a. aus:
Der Kläger sei ausgehend vom Beruf des Vertriebsleiters bis zum 22. Januar 1997, dem Zeitpunkt der Aufgabe seiner
Tätigkeit als geschäftsführender Gesellschafter in seiner eigenen GmbH, in der Lage gewesen, als Geschäftsführer
zumindest die gesetzliche Lohnhälfte eines vergleichbaren qualifizierten Vertriebsleiter zu erzielen. Bei
Berücksichtigung des medizinischen Sachverhalts sei der Kläger seit dem 23.Januar 1997 in seiner beruflichen
Leistungsfähigkeit qualitativ so ge-mindert, dass sich für ihn keine gesundheitlich und sozial zumutbaren
Alternativbeschäfti-gungen aufzeigen ließen. Gemäß § 99 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB VI) sei
somit Rentenbeginn der 1. Februar 1997.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg hat der Kläger vorgetragen, er sei bereits seit
Antragstellung im September 1995 im bisherigen Beruf des Betriebsleiters zu 100 % erwerbsgemindert gewesen. Er
habe sich auf Grund seiner Ge-sundheitsstörungen im Laufe der Zeit immer mehr von seinem Geschäft
zurückgezogen und sei faktisch nicht mehr als Geschäftsführer tätig gewesen. Dass die notarielle Ver-handlung über
sein tatsächlich schon viel früheres Ausscheiden aus der Firma erst am 23. Januar 1997 stattgefunden habe, habe
zum einen an seinem schlechten Gesund-heitszustand gelegen, der eine frühere Übertragung der Anteile verhindert
habe, zum anderen daran, dass erst habe überlegt werden müssen, wie die Firma in Zukunft weitergeführt werden
solle. Aus den vorliegenden Bilanzen ergebe sich , dass die Firma erhebliche wirtschaftliche Einbußen erlitten habe,
was eindeutig auch an seiner Unfähig-keit gelegen habe, das Geschäft angemessen zu führen.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 25. Februar 1999 die Klage abgewiesen und zur Be-gründung ausgeführt: Der
Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in der streitigen Zeit stehe nach der gesetzlichen Vorschrift des §
44 SGB VI schon entgegen, dass der Kläger als geschäftsführender Mehrheitsgesellschafter selbständig tätig gewe-
sen sei. Im Übrigen müsse er sich im Rahmen dieser Vorschrift auf Tätigkeiten des allge-meinen Arbeitsmarktes
verweisen lassen, die er nach den Feststellungen des Gutachters Dr. Q. noch vollschichtig habe ausüben können.
Der Kläger sei in der streitigen Zeit aber auch noch nicht berufsunfähig gewesen. Ausgehend von der letzten
versicherungspflich-tigen Tätigkeit des Betriebsleiters sei der Kläger im Rahmen des § 43 SGB VI medizinisch und
sozial zumutbar auch auf seine letzte Tätigkeit als geschäftsführender Mehrheitsge-sellschafter der GmbH zu
verweisen, eine Tätigkeit, die er, wenn auch eingeschränkt, bis zu seinem Ausscheiden ausgeübt habe. Der Umstand,
dass ein Versicherter die Leistungs- und Lohnhälfte des § 43 Abs. 2 SGB VI tatsächlich noch erbringe, komme bei
der Beweiswürdigung in der Regel ein grösserer Beweiswert zu als einem medizinischen Gutachten.
Gegen dieses ihm am 22. März 1999 zugestellte Urteil richtet sich die am 19. April 1999 eingelegte Berufung des
Klägers, mit der sein Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 25. Februar 1999 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 16.
April 1996 in der Gestalt des Be-scheides vom 7. Juli 1997 und des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1998 zu
ändern,
2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger bereits ab 1. Oktober 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise
wegen Berufsunfähigkeit, zu gewäh-ren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten und die Rentenakten der
Beklagten (2 Bände), die dem Senat vorgelegen haben, Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der mündlichen
Verhandlung und der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß den §§ 143 f Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden
und damit zulässig. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Das angefochtene Urteil des SG Lüneburg erweist sich nicht als rechtswidrig. Der Be-scheid der Beklagten vom 16.
April 1996 in der Gestalt desjenigen vom 7. Juli 1997 sowie des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1998 ist nicht
zu beanstanden. Der Kläger hat vor dem 1. Februar 1997 keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Er-
werbs-bzw. Berufsunfähigkeit.
Der Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in der streitigen Zeit steht schon allein der Umstand entgegen,
dass der Kläger bis einschließlich Januar 1997 selbständig tätig war. Zufolge des Gesellschaftsvertrages vom 14.
Dezember 1989 war der Kläger bis Januar 1997 geschäftsführender Gesellschafter der Firma R. in S ... Gemäß § 44
Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB VI ist jedoch nicht erwerbsunfähig, wer eine selbständige Tätigkeit ausübt. Dabei schließt
eine selbständige Er-werbstätigkeit Erwerbsunfähigkeit immer aus, auch wenn sie auf Kosten der Ge-sundheit
ausgeübt wird (BSG vom 18. August 1983, SozR 5850, § 2 Nr. 11). Auch die Höhe des Einkommens und der Umfang
der Tätigkeit sind unbeachtlich (BSG vom 30. April 1981, SozR 2200, § 1247 Nr. 34). Erwerbsunfähigkeit tritt immer
erst nach Beendigung der selbständigen Tätigkeit ein. Im Übrigen ist der im Rahmen der Erwerbsunfähigkeit auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Kläger mit dem bei ihm ärztlicherseits festgestellten Leistungsvermögen für
vollschichtig leichte Arbeiten auch aus medizinischer Sicht nicht erwerbsunfähig. Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB VI
ist nicht erwerbsunfähig, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann.
Der Kläger war in der streitigen Zeit auch nicht berufsunfähig. Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI sind berufsunfähig
Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von
körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und
Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen
ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der
Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer
bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit
vollschichtig aus-üben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung, ob
diese gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, ist in der Regel vom "bisherigen Beruf" des Versicherten, d.h. von
seiner letzten versiche-rungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit auszugehen (BSGE Bd. 55 S. 45, 47 m.w.N.;
BSG Urteil v. 14. September 1995, Az.: 5 RJ 50/94 in NZS 1996, S. 228).
Im Sinne dieser Rechtsprechung ist bisheriger Beruf des Klägers derjenige des kaufmän-nischen Angestellten und
Vertriebsleiters, wie er ihn zuletzt versicherungspflichtig bis 1967 ausgeübt hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob der
Kläger noch in abhängiger Stellung als Vertriebsleiter tätig sein konnte. Zufolge des Gutachters Dr. Q. sind dem
Kläger bei im Vordergrund stehender allgemeiner Erschöpfung zwar Tätigkeiten als Ver-triebsleiter nicht mehr
zumutbar gewesen, konnte der Kläger aber noch leichte Arbeiten, nicht im Akkord und in Wechselschicht, ohne große
Anforderungen an die gedankliche Ein- und Umstellfähigkeit vollschichtig verrichten. Damit war der Kläger aber noch
nicht berufsunfähig, denn er konnte noch medizinisch und sozial zumutbar auf die Tätigkeiten eines Geschäftsführers
in seinem eigenen Betrieb verwiesen werden, wie er sie auch tat-sächlich, wenn auch mit gewissen Einschränkungen,
bis zum Januar 1997 in alleiniger Verantwortung ausgeübt hat. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des
sozialgerichtli-chen Urteils wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen.
Der Kläger hat anläßlich der Untersuchung bei Dr. Q. am 22. Juli 1996 be-richtet, dass er sich weiterhin um das
Geschäft kümmere und wöchentlich einmal von seinem Wohnsitz T. nach S. in die Firma fahre; ansonsten lasse er
sich berichten. Aus alledem ergibt sich, dass der Kläger seine Aufgaben als Geschäftsführer tatsächlich
wahrgenommen hat. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bietet die tatsächliche Ar-beitsleistung trotz Vorliegens
von Krankheiten das wertvollste Mittel für die Prüfung, ob wegen der Gesundheitsstörungen Berufsunfähigkeit vorliegt.
Das BSG hat folgende Be-weisregeln aufgestellt: Aus dem Umstand, dass ein Versicherter durch Ausübung aller
zumutbaren Tätigkeiten tatsächlich Lohn erziele, sei in der Regel zu schließen, dass seine Erwerbsfähigkeit trotz
Vorliegens einer Krankheit nicht in rentenberechtigendem Grade herabgesunken sei. Dies gelte selbst dann, wenn die
erhobenen medizinischen Befunde für sich allein betrachtet ein anderes Ergebnis nahelegten. Denn die Tatsache der
Aus-übung einer zumutbaren Tätigkeit habe in der Regel einen stärkeren Beweiswert als die scheinbar dies
ausschließenden medizinischen Befunde. Diesen Befunden komme übli-cherweise kein so starker Beweiswert zu wie
der Umstand, dass der Versicherte eine Er-werbstätigkeit tatsächlich noch ausübt (BSG SozR § 1246 RVO Nr. 24,
BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 12). Der Senat folgt dieser Rechtsprechung des BSG, die seiner Meinung nach hier um
so mehr gelten muss, als das Leistungsvermögen des Klägers nicht aufgehoben, sondern nur in qualitativer Hinsicht
eingeschränkt ist. Die gehörten Sachverständigen be-scheinigen dem Kläger grundsätzlich für die streitige Zeit ein
vollschichtiges Leistungs-vermögen. Der Senat folgt den Gutachtern Dr. O. und Dr. Q. in ihrer Beurteilung des
Leistungsvermögens.
Die Berufung konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Es hat kein gesetzlicher Grund vorgelegen, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).