Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.04.2005

LSG Nsb: stationäre behandlung, niedersachsen, krankenversicherung, erwerbsfähigkeit, gefahr, gesundheit, versicherungspflicht, rechtsschutzgarantie, hauptsache, sozialhilfe

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 19.04.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 6 KR 86/05 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 4 KR 42/05 ER
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Das Verfahren betrifft die Kompetenz der Bundesagentur für Arbeit zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit nach § 44a
Zweites Sozialgesetzbuch (SGB II) iVm § 5 Abs. 1 Nr. 2a Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V).
Der Antragsteller erlitt am 27. Dezember 2004 einen embolischen Medialteilinfarkt links mit globaler Aphasie und
Hemiparese rechts bei Verschluss der Aorta carotis interna links. Der Antragsteller wurde stationär in der
Neurologischen Klinik des Klinikums Hannover, Nordstadt, behandelt. Seit dem 16. Februar 2005 befindet er sich in
dem Reha-Zentrum Hagenhof, Langenhagen (vgl. Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
Niedersachsen, Dr. C., vom 18. Februar 2005).
Der Antragsteller bezieht seit dem 13. Januar 2005 Arbeitslosengeld II (Bescheide der ARGE "JobCenter in der
Region Hannover" vom 18. und 20. Januar 2005). Mit Schreiben vom 2. Februar 2005 übersandte ihm die
Antragsgegnerin die Krankenversichertenkarte. Mit Fax vom 4. Februar 2005 verweigerte die Antragsgegnerin
gegenüber dem Klinikum Hannover, Nordstadt, die Kostenübernahme. Auch den Kostenübernahmeantrag vom 7.
Januar 2005 für die Anschlussheilbehandlung lehnte die Antragsgegnerin ab.
Im Februar 2005 hat die Betreuerin des Antragstellers beim Sozialgericht (SG) Hannover beantragt, die
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Krankenhauskosten zu übernehmen und
eine sofortige Kostenzusage für eine An-schlussheilbehandlung zu erteilen. Das SG hat dem Antrag mit Beschluss
vom 14. Feb-ruar 2005 stattgegeben. Es hat die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anord-nung verpflichtet,
die Kosten für den derzeitigen Aufenthalt des Antragstellers im Kran-kenhaus zu übernehmen sowie eine sofortige
Kostenzusage für eine Anschlussheilbe-handlung in Langenhagen oder in Coppenbrügge zu geben. Zur Begründung
hat das SG ausgeführt, der Anordnungsgrund liege in der Eilbedürftigkeit der Krankenhausbehand-lung und der
Durchführung der Anschlussheilbehandlung. Ein Anordnungsanspruch sei ebenfalls gegeben. Der Antragsteller sei als
Bezieher von Arbeitslosengeld II nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V kraft Gesetz versicherungspflichtiges Mitglied der
Antragsgegnerin. Diese habe keine Befugnis, diesen Versicherungsstatus zu "stornieren". Sofern sie mei-ne, der
Antragsteller beziehe wegen seines Gesundheitszustandes zu Unrecht Arbeitslo-sengeld II, so ändere das nichts an
ihrer Leistungsverpflichtung, wie § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V belege.
Gegen den Beschluss des SG hat die Antragsgegnerin am 22. Februar 2005 Beschwer-de eingelegt. Sie meint, es
fehle bereits an einem Anordnungsanspruch. Denn bei dem Antragsteller habe im Zeitpunkt der Bewilligung von
Arbeitslosengeld II eindeutig keine (Rest)Erwerbsfähigkeit mehr vorgelegen. Trotzdem habe die ARGE "JobCenter in
der Region Hannover" dem Antragsteller Leistungen bewilligt und damit seine Versiche-rungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung begründet. Es könne jedoch nicht angehen, dass sich die ARGE "JobCenter in der Region
Hannover" keinerlei Kenntnisse über das Fehlen der Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers verschaffe und grob
fahrlässig eine Leistungsbewilligung vornehme, an die sie – die Antragsgegnerin – gebunden sei. In Fällen, in denen
sich sogar einem medizinischen Laien aufdränge, dass keine Erwerbs-fähigkeit eines Antragstellers mehr vorliege, sei
der ARGE "JobCenter in der Region Hannover" rechtswidriges Handeln vorzuwerfen. Dann aber müsse trotz der
Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V eine Leistungspflicht der Krankenkassen entfallen. Im Übrigen fehle es auch an
einem Anordnungsgrund. Irreparable Rechtsnachteile habe der An-tragsteller nicht zu befürchten, weil für ihn
jedenfalls der bisher zuständige Leistungsträ-ger, das Sozialamt der Stadt Hannover, als Kostenträger einzutreten
habe.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen
vorgelegt.
II.
Die gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist unbe-gründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung eines Rechts des An-tragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der
Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.
Die Gewährung einstweiligen Rechtsschut-zes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsgrund und einen
Anordnungsan-spruch voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rdnr. 27 und 29). Der materielle
Anspruch ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Prüfung zu unterziehen (vgl. Meyer-
Ladewig, aaO, Rdnr. 36).
Der Senat lässt offen, ob ein Anordnungsanspruch besteht und trifft insoweit eine Fol-genabwägungsentscheidung
Kann über das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nur nach zeitaufwändiger Prüfung der Sach- und Rechtslage
entschieden werden, so ist nach gefestigter Rechtsprechung des erkennenden Senats in Ansehung der
Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von einer Prüfung der Erfolgsaussicht eines
Hauptsacheverfahrens abzusehen und die Entscheidung auf eine Folgenabwägung zu stützen. Voraussetzung ist,
dass andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile ent-stünden, zu deren nachträglicher
Beseitigung die Entscheidung der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. u.a. LSG Niedersachsen-Bremen,
Beschluss vom 12. De-zember 2003 – L 4 KR 253/03 ER – unter Bezug auf Bundesverfassungsgericht (BVerfG),
Beschluss vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – in NZS 2003, 253 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19.
März 2004 – 1 BvR 131/04 – in GesR 2004, 246 f.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Der Senat stimmt der Antragsgegnerin zwar in ihrer Kritik an der Bewilligung von Ar-beitslosengeld II durch die ARGE
"JobCenter in der Region Hannover" zu. Zu Recht weist die Antragsgegnerin ferner darauf hin, dass das Gesetz keine
Möglichkeit einer Korrektur von Fehlentscheidungen bei der Bewilligung von Arbeitslosengeld II und damit bei der
Begründung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V
vorsieht. Insbesondere bietet die Regelung in § 44a Satz 2 SGB II hier keine Hilfe. Ob und in welcher Weise
bestehende Lücken durch richterliche Rechts-fortbildung zu schließen sind, bedarf einer intensiven Prüfung der Sach-
und Rechtslage und kann aufgrund der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summari-schen Prüfung
nicht entschieden werden.
Andererseits jedoch ist der Antragsteller dringend auf stationäre Behandlung angewie-sen. Seine Behandlung kann
ohne erhebliche Nachteile für seine Gesundheit nicht auf-geschoben oder abgebrochen werden. Gegenüber der Gefahr
für Gesundheit und Leben des Antragstellers bei Abbruch der Behandlung müssen die finanziellen Belastungen der
Antragsgegnerin zurücktreten.
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Die Be-handlung des Antragstellers
erlaubt weder Aufschub noch Unterbrechung. Soweit die Antragsgegnerin den Antragsteller auf die Sozialhilfe
verweist, kann ihr nicht gefolgt wer-den. Es ist dem Antragsteller angesichts der Eilbedürftigkeit seiner Behandlung
nicht zu-zumuten, mit dem Sozialhilfeträger zu klären, ob dieser trotz der Versicherungspflicht des Antragstellers
nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V für die Kosten der Krankenbehandlung zu-ständig ist. Der Streit zwischen den
verschiedenen Leistungsträgern über ihre Zuständig-keiten darf in Ansehung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu
Lasten eines dringend be-handlungsbedürftigen Patienten gehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.
Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Schimmelpfeng-Schütte Schreck Poppinga