Urteil des LSG Hessen vom 02.04.2017

LSG Hes: militärische grundausbildung, tod, kov, selbstmord, soldat, beweismittel, zustand, belastung, unrichtigkeit, rechtsgrundlage

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 12.01.1972 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 973/70
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Oktober 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin ist die Witwe des 1908 geborenen und 1942 als Soldat durch Freitod verstorbenen P. E ...
Im Juni 1947 hatte sie Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente nach dem Körperbeschädigtenleistungsgesetz
(KBLG) gestellt und darauf hingewiesen gehabt, ihr sei bis März 1945 nach versorgungsrechtlichen Bestimmungen
eine Beihilfe gezahlt worden. Der Tod ihres Ehemannes sei seinerzeit nicht als Wehrdienstbeschädigung anerkannt
gewesen. Hierauf gestützt war am 22. November 1947 ein abschlägiger Bescheid ergangen. Dagegen hatte sie
Berufung eingelegt und vor dem Oberversicherungsamt Darmstadt vorgetragen, ihr Ehemann sei am 4. Februar 1942
zum Landes-Schützen-Ersatz-Bataillon Nr. 9 in M. einberufen worden. Weil er den bei der Wehrmacht gebräuchlichen
harten Ton nicht gewohnt gewesen sei und sich den Anforderungen des Dienstes nicht gewachsen gefühlt habe, habe
er infolge eines plötzlichen Zusammenbruchs den Freitod gewählt. Vor der Einberufung sei er gesund gewesen. Durch
Urteil vom 25. April 1949 hatte das Oberversicherungsamt die Berufung abgewiesen. Ihr weiteres an das Hessische
Landessozialgericht gerichtetes Rechtsmittel hatte die Klägerin im Jahre 1955 zurückgenommen.
Im Oktober 1964 stellte sie beim Versorgungsamt Darmstadt erneut Antrag auf Hinterbliebenenversorgung und berief
sich auf die inzwischen geänderten gesetzlichen Bestimmungen. Durch bindend gewordenen Bescheid vom 12.
November 1964 wurde dieser unter Hinweis auf § 85 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und auf die
Bindungswirkung des Bescheides vom 22. November 1947 abgelehnt.
Am 28. Juli 1967 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Zugunstenbescheides. Zur Begründung nahm sie auf das
Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juli 1959 Bezug, das im Hinblick auf Freitodfälle nicht mehr auf die
objektive Belastung, sondern auf die subjektive Belastbarkeit des Betreffenden abstelle. Mit Bescheid vom 5.
Dezember 1967 wurde sie wiederum abschlägig beschieden, da keine neuen Tatsachen und Beweismittel erbracht
worden seien, welche die Unrichtigkeit der bindenden Entscheidung belegten.
Im Widerspruchsverfahren stellte das Versorgungsamt Ermittlungen über einen Zivilunfall des Ehemannes der
Klägerin mit Schädelbruch aus dem Jahre 1936 an und befragte den ehemaligen Kameraden K. F. über dessen
Verhalten bei der Wehrmacht sowie sein Verhältnis zu Vorgesetzten. Als dann hörte der Facharzt für Neurologie und
Psychiatrie Dr. H. die Klägerin zur Vorgeschichte und gab am 3. Februar 1969 ein aktenmäßiges nervenfachärztliches
Gutachten dahin ab, daß die Gründe für den Selbstmord im Wege des Beibringens von Stichen in den Hals aus
psychischer Sicht weiterhin völlig ungeklärt seien. Folgen des Unfalles von 1956 seien wahrscheinlich nicht Anlaß
oder Mitursache für den Freitod gewesen. Es könne aber auch nicht als wahrscheinlich gelten, daß der Tod mit
Einflüssen des Wehrdienstes in Zusammenhang stehe, obwohl andererseits nicht behauptet werden könne, daß ein
derartiger Zusammenhang auszuschließen sei. Hierzu nahm Reg. Med. Direktor Dr. v. K. zustimmend Stellung.
Nachdem sich der Hessische Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen in seinem Erlaß vom 25.
April 1969 dieser Auffassung ebenfalls angeschlossen hatte, erging der den angefochtenen Bescheid vom 5.
Dezember 1967 bestätigende Widerspruchsbescheid vom 9. Mai 1969.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt hat die Klägerin Bescheide des Wehrmachtfürsorge- und
Versorgungsamtes Frankfurt/M., des Wehrkreiskommandos IX Kassel sowie des Landrats des Kreises E., aus dem
Jahre 1943 eingereicht und sich darauf berufen, daß darin von einer gedrückten Stimmung ihres Ehemannes wegen
seiner bekannten unnatürlichen Abneigung allem Militärischen gegenüber die Rede sei. Hiernach sei ihr Anspruch auf
Hinterbliebenenversorgung in Anwendung der neuen BSG-Rechtsprechung zu Selbstmordfällen nach § 40 Abs. 2 des
Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VfG –KOV–) begründet. Die von ihr
beigebrachten neuen Beweismittel reichten aber auch im Hinblick auf § 40 Abs. 1 dieses Gesetzes aus.
Demgegenüber hat der Beklagte vorgetragen, nach der eigenen Schilderung der Vorgeschichte durch die Klägerin
gegenüber Dr. H. sei ihr Ehemann nach Erhalt des Einberufungsbefehls weder besonders traurig noch mißmutig
gewesen. Es sei auch nicht vorstellbar, daß eine Wehrdienstzeit von nur zwei Tagen, an denen mit Sicherheit noch
kein regulärer Dienst gemacht worden sei, diesen zum Selbstmord getrieben habe. Die Rechtsprechung des BSG
decke den vorliegenden Fall nicht, weil es an einer ausreichenden tatsächlichen Beurteilungsgrundlage mangele.
Mit Urteil vom 15. Oktober 1970 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es
ausgeführt, die Klägerin habe keine Tatsachen vorgetragen, aus welchen sich die Unrichtigkeit des bindenden
Bescheides vom 22. November 1947 ergebe. Ein Ermessensfehler des Beklagten in Bezug auf den in Streit
stehenden negativen Zugunstenbescheid liege nicht vor.
Gegen dieses Urteil, das der Klägerin am 26. Oktober 1970 zugestellt worden ist, richtet sich ihre am 30. Oktober
1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung wiederholt sie ihr bisheriges
Vorbringen unter besonderem Hinweis auf die höchstrichterlich entschiedenen Freitodfälle von Soldaten.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Oktober 1970 sowie den Bescheid des
Beklagten vom 5. Dezember 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1969 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Witwenakten des Versorgungsamtes Darmstadt mit der Archiv-Nr. XX sowie die Akten des
Oberversicherungsamts Darmstadt (XYXYXY) haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider
Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 des
Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist jedoch nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1969 ist
nicht rechtswidrig.
Rechtsgrundlage ist § 40 Abs. 1 VfG (KOV), wonach die Verwaltungsbehörde zu Gunsten des Berechtigten jederzeit
einen neuen Bescheid erteilen kann. Nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 2 zu dieser Bestimmung, die der Senat als
mit der geltenden Rechtsordnung in Einklang stehend betrachtet, setzt ein solcher Bescheid voraus, daß die frühere
Entscheidung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unrichtig ist. Bestehen lediglich Zweifel an der Richtigkeit
der früheren Entscheidung, so darf ein neuer Bescheid nicht ergehen.
Die letzteren Voraussetzungen liegen hier vor. Denn es ist nicht wahrscheinlich im Sinne der im Versorgungsrecht
geltenden Kausaltheorie, daß der Freitod des Ehemannes der Klägerin, der eine absichtlich herbeigeführte Schädigung
im Sinne des § 1 Abs. 4 BVG darstellt, wegen einer Beeinträchtigung seiner freien Willensbestimmung durch
Tatbestände des § 1 BVG erfolgt ist (VV Nr. 11 zu § 1 BVG). Angesichts der bekannt gewordenen Umstände des
Selbstmordes mußte sich der Beklagte nach Abschluß der von ihm durchgeführten eingehenden Ermittlungen nicht
davon überzeugen, daß der bindend gewordene Erstbescheid vom 22. November 1947 unrichtig ist. Hierbei verweist
der Senat zusätzlich, noch auf § 85 BVG, der die Rechtsverbindlichkeit nach früheren versorgungsrechtlichen
Vorschriften ergangener Entscheidungen in Bezug auf die Frage der Kausalität von Gesundheitsstörung und
Schädigung gemäß § 1 BVG festlegt.
Ein Schädigungstatbestand im Sinne der letzteren Vorschrift liegt nur vor, wenn die Selbsttötung in einem Zustand
des Ausschlusses der freien Willensbestimmung erfolgt, der durch wehrdiensteigentümliche Umstände oder
kriegsbedingte Einflüsse verursacht war (s. Urteile des erkennenden Senats vom 20.1. und 25.2.71 Az.: L 5/V-213/69
und 750/70). Für solche, die das schädigende Ereignis darstellen, ergeben sich jedoch keine konkreten
Anhaltspunkte, die in jedem Einzelfalle zu fordern sind, auch und gerade unter Berücksichtigung der Rechtsprechung
des BSG in Selbstmordfällen, wie sie in den Entscheidungen vom 28. Juli 1959 (Az.: 11/8 RV 425/57) und vom 11.
November 1959 (Az.: 11/9 RV 290/57) Ausdruck findet. Zwar kommt es danach nicht mehr allein auf die objektive
Belastung eines Soldaten, sondern auch auf seine subjektive Belastbarkeit an, um zu einem rechtlich umfassenden
Ergebnis zu gelangen. Die Anwendung dieser Gedankengänge führt aber zu keinem anderen Ergebnis. Denn es ist
nach wie vor zunächst zu fragen, ob der am Anfang der Kausalkette stehende Freitod mit wehrdiensteigentümlichen
Verhältnissen gerne allgemein – nicht nur mit Tatbeständen des § 1 Abs. 2 BVG, wie das Sozialgericht irrtümlich
angenommen hat – in Zusammenhang gebracht werden kann. Gerade das schädigende Ereignis ist aber nicht
dargetan. Aus diesem Grunde stellte sich für den Senat ebenso wie für das Vordergericht und vor diesem für den
Beklagte die Frage nicht, ob § 40 Abs. 2 VfG (KOV) als Rechtsgrundlage in Betracht zu kommen hat.
Wichtigster Ausgangspunkt für die Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts i.S. des § 40 Abs. 1 ist der
Bescheid des Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsamts Frankfurt/M. vom 28. Januar 1943. Dort ist nach
Vernehmungen und Durchführung anderer Ermittlungen ausgeführt worden, daß wehrdienstliche Einflüsse bei dem
Selbstmord des Ehemannes der Klägerin keine Bedeutung gehabt hätten. Eine falsche Behandlung durch Vorgesetzte
oder Kameraden sei ebenfalls nicht festzustellen gewesen, weshalb der Tod nicht Folge einer
Wehrdienstbeschädigung sei. Dieser Bescheid ist vom Wehrkreiskommando IX am 10. Mai 1943 bestätigt worden, so
daß die Klägerin keine Hinterbliebenenrente, sondern nur eine nach damaligen Bestimmungen zulässige
Härteausgleichszahlung für sich und ihre Kinder erhalten hat. Die zusätzlichen Erwägungen, die in dieser
Beschwerdeentscheidung in Bezug auf die Selbstmordmotive angestellt worden sind, sind hypothetischer Natur. Sie
belegen keine wehrdienstbedingten Umstände, sondern zeigen allenfalls Möglichkeiten auf, nachdem zuvor
wesentliche Einflüsse von Folgen des 1936 erlittenen Zivilunfalles verneint worden waren. Ein Beweis dafür, daß der
Ehemann der Klägerin wegen seiner Einberufung mit Aussicht auf Ableistung eines längeren Kriegsdienstes
gedrückter Stimmung gewesen und letzten Endes in einen Zustand geraten ist, der die freie Willensbestimmung
ausschloß und zu der geschehenden Kurzschlußhandlung führte, läßt sich aus dem Bescheid vom 10. Mai 1943
keinesfalls herleiten. Dagegen stehen ferner auch die Angaben, welche die Klägerin am 3. Februar 1969 gegenüber Dr.
H. gemacht hat und die sie mit Aussicht auf Erfolg nicht bestreiten kann, zumal sie von dem ehemaligen Kameraden
Fuchs bestätigt worden sind. Danach ist von Aufregung, Depression oder anderen psychischen Auffälligkeiten wie
Protestreaktionen bei Erhalt des Einberufungsbefehls und bis zur Abreise in die Garnison nicht die Rede gewesen. In
der Kaserne war der Ehemann der Klägerin ausgeglichen. Das Verhältnis seiner Kameraden an ihm wie umgekehrt
war normal. Über dienstliche Schikanen Vorgesetzter ist nichts bekannt, was um so glaubhafter und überzeugender
ist, als die militärische Grundausbildung innerhalb der zwei Tage, an welchen er Soldat gewesen ist, sicher noch nicht
begonnen hatte. Hiervon geht zutreffend auch der Beschwerdebescheid vom 10. Mai 1943 aus. Da der Ehemann der
Klägerin sich in einem bei seiner Hinterlassenschaft gefundenen Brief kurz vor seinem Freitode ebenfalls nicht negativ
oder in anderer Weise auffällig über sein Dasein als Soldat geäußert hatte, was die Klägerin selbst geschildert hat,
kann alles in allem ihrer subjektiven Meinung, der harte Kasernenton und das Gefühl, den Anforderungen das
Dienstes nicht gewachsen zu sein, hatten ihn infolge eines plötzlichen Zusammenbruchs in den Tod getrieben, nicht
gefolgt werden. Für einen Kausalzusammenhang mit Einflüssen i.S. des § 1 Abs. 1 BVG spricht zu wenig, als daß ihr
Berufungsbegehren Erfolg haben könnte. Der angefochtene Bescheid ist mangels des Tatbestandsmerkmals
"unrichtig” im Sinne des § 40 Abs. 1 VfG (KOV) in Bezug auf die Sachentscheidung vom 22. November 1947
rechtens.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.