Urteil des LSG Hessen vom 02.04.2017

LSG Hes: eigenes verschulden, gesetzliche vermutung, klagefrist, vertreter, post, hilfsperson, fahrtkosten, zustellung, beweismittel, meinung

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 23.10.1974 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 4 V 177/72
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 364/74
Auf die Berufungen des Klägers werden die Urteile des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Februar 1974 aufgehoben.
Die Sachen werden zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand:
Der 1898 geborene Kläger erhielt als Teilnehmer des ersten Weltkrieges durch Bescheide vom 23. Juli 1951 und 29.
Januar 1964 Rente nach einem Grade der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. wegen
"1) schwere Deformierung der rechten Schulter mit größeren Narbenbildungen im Schulter- und Brustbereich und
praktische Versteifung des Schultergelenks.
Bewegungseinschränkung im Ellenbogenscharnier- und Drehgelenk rechts, Hochstand der rechten Schulter und
leichte Verbiegung der oberen Brust- wie unteren Halswirbelsäule nach rechts.
2) Insuffizienzerscheinungen der Schulter-Nackenmuskulatur” als Schädigungsfolgen nach dem BVG. Der Bescheid
vom 14. Juli 1970 erhöhte die MdE ab 1. Januar 1970 auf 100 v.H. und ergänzte die Bezeichnung der
Schädigungsfolgen in Ziff. 1) um "entzündliche Knochenprozesse in der rechten Schulter-Oberarmgegend”.
Am 23. August 1963 beantragte der Kläger bei dem Versorgungsamt D. Kleiderverschleißzulage, worauf der
ablehnende Bescheid vom 13. August 1965 erging. Diesem widersprach der Kläger ohne Erfolg. Auch der
Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 1972 verneinte die Entstehung außergewöhnlicher Kosten für Kleider und Wäsche
durch die anerkannten Schädigungsfolgen.
Mit Schreiben vom 21. Juni 1967 wiederholte der Kläger zuvor gestellte Anträge auf Anerkennung seines besonderen
beruflichen Betroffenseins und Gewährung von Berufsschadensausgleich, worauf das Versorgungsamt die Mitteilung
vom 15. November 1967 erließ. Sie enthält die Begründung, mit dem Antrag seien keine neuen Tatsachen oder
Beweismittel vorgebracht worden, welche Anlaß zum nochmaligen Eintritt in eine sachliche Prüfung geben würden.
Der den Widerspruch zurückweisende Bescheid vom 10. Juli 1972 verwies zusätzlich darauf, durch Bescheid vom 29.
Januar 1964 sei bereits über das Nichtvorliegen besonderen beruflichen Betroffenseins bindend entschieden worden.
Über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich sei noch ein Verfahren bei dem Hessischen Landessozialgericht
anhängig, dessen Ausgang abzuwarten sei.
Unter dem 29. und 30. Oktober ergingen Neufeststellungsbescheide unter Anrechnung des Renteneinkommens des
Klägers und unter Zahlung von Ausgleichsrente, Ehegatten- und Kinderzuschlag ab 1. Januar 1964 bis einschließlich
1968 sowie vorläufig ab 1. Januar 1969. Auch diesen widersprach der Kläger und beantragte einmal, seine
Invalidenrente von der Anrechnung frei zu lassen, zum anderen, höheren Ehegatten- und Kinderzuschlag zu
gewähren. Der Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 1972 half seinem Begehren nicht ab.
Den am 14. August 1968 gestellten Antrag des Klägers auf Pflegezulage beschied das Versorgungsamt am 7. August
1969 abschlägig. Bei der am 9. Mai 1969 durchgeführten versorgungsrechtlichen Untersuchung sei festgestellt
worden, daß er für die im täglichen Leben regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen nicht dauernd fremder Hilfe
bedürfe. Der Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 1972 beließ es bei diesem Ergebnis.
Im Berufungsverfahren in der Streitsache L 5 V – 663/67 begehrte der Kläger am 21. Januar 1970 Neufeststellung und
Erteilung eines Zugunstenbescheides, da inzwischen im Bereich der anerkannten Schädigungsfolgen eine
Verschlimmerung eingetreten sei, welche gleichzeitig die Unrichtigkeit des Bescheides vom 29. Januar 1964 aufzeige.
Diese Anträge führten sowohl zu der durch Bescheid vom 14. Juli 1970 vorgenommenen Neufeststellung mit der
Folge einer Erhöhung der MdE ab 1. Januar 1970 auf 100 v.H. als auch zur Ablehnung eines Zugunstenbescheides
(Bescheid vom 27. Juli 1970). Die medizinische und versorgungsrechtliche Überprüfung habe ergeben, daß die
vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht als neue Tatsachen oder Beweismittel angesehen werden könnten. Eine
frühere Aktivität des osteomyelitischen Knochenprozesses im Oberarm-Schulterbereich lasse sich auch bei
rückblickender Würdigung der Verhältnisse nicht ausreichend begründen. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos
(Widerspruchsbescheide vom 13. und 14. Juli 1972). Ersterer verwies zur Begründung auf § 60 Abs. 1 des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wonach Beschädigtenversorgung erst ab Antragsmonat zustehe. Letzterer
bestätigte, daß der Bescheid vom 29. Januar 1964 nicht zweifelsfrei unrichtig sei.
Gegen den von Amts wegen erlassenen Bescheid vom 21. Dezember 1970, der die Leistungen ab 1. Januar 1971 neu
feststellte, erhob der Kläger gleichfalls Widerspruch. Er fühlte sich dadurch beschwert, daß dieser ihm erst am 8.
Februar 1971 zugestellt worden sei. Der Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1972 fand insoweit keinen Anlaß zu
Beanstandungen. Die Beträge seien auch richtig errechnet.
Am 26. Februar 1972 beantragte der Kläger die Erstattung von Fahrtkosten durch Gewährung eines Kilometergeldes
für seine Ehefrau, die ihn während seines Krankenhausaufenthaltes vom 27. Dezember 1971 bis 9. Februar 1972
täglich persönlich gepflegt habe. Der durch Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 1972 bestätigte ablehnende Bescheid
vom 16. März 1972 verwies auf die Bestimmungen des § 24 BVG. Die Erstattung Familienangehörigen zum Zwecke
des Besuchs von Beschädigten im Krankenhaus entstandener Fahrtkosten sei weder bei Benutzung des eigenen
Kraftfahrzeuges noch in Höhe von Kosten für öffentliche Verkehrsmittel möglich.
Gegen sämtliche 8 Widerspruchsbescheide, die laut Vermerken des Sachbearbeiters sämtlich am 19. Juli 1972
mittels eingeschriebenen Briefes an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers zur Post aufgegeben worden sind, hat
dieser Klagen erhoben, die am 12. Oktober 1972 bei dem Sozialgericht Darmstadt eingegangen sind. Er hat
behauptet, sein Prozeßbevollmächtigter habe keinen Widerspruchsbescheid erhalten. Aufgrund eines Telefonanrufes
sei diesem die Tatsache deren Erlasses zufällig bekannt geworden, worauf er im September 1972 die
Versorgungsakten eingesehen habe. Über eine Zustellung habe sich dabei nichts feststellen lassen. Die Klagefrist sei
daher als gewahrt anzusehen.
Vorsorglich hat der Kläger Widereinsetzung in den vorigen Stand begehrt. Ihn treffe für den unterstellten Fall, die
Widerspruchsbescheide seien in dem Büro seines Prozeßbevollmächtigten verlorengegangen, ebenso wie diesen kein
Verschulden. Dessen seit 1959 im Büro mitarbeitende überaus zuverlässige Ehefrau trage sämtliche Fristen ein, ohne
daß es je zu seiner Versäumnis gekommen sei. Das versichere sie eidesstattlich. Sein Prozeßbevollmächtigter
überwache selbst laufend die Fristenwahrung.
Mit Urteilen von 6. Februar 1974 hat das Sozialgericht die Klagen als unzulässig verworfen. Es hat die Frist für
versäumt gehalten, nachdem Nachforschungen des Beklagten bei der Postanstalt 108 in F. ergeben hatten, daß die
Einschreibesendung am 21. Juli 1972 einem Bevollmächtigten des Rechtsanwalts H. postordnungsgemäß ausgeliefert
worden sei. Wiedereinsetzung komme nicht in Betracht. Den Prozeßbevollmächtigten treffe zwar kein eigenes
Verschulden. Er müsse sich jedoch ein Verschulden seines gesetzlichen oder auch gewillkürten Vertreters wie sein
eigenes anrechnen lassen, was unmittelbar aus § 67 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) folge. Wenn die
Ehefrau des Prozeßbevollmächtigten eingeräumt habe, sie habe die Notierung der Klagefrist vergessen, so liege in
jedem Falle ein solches Verschulden vor.
Gegen diese sämtlich am 11. April 1974 zugestellten Urteile richten sich die am 29. April 1974 beim Hessischen
Landessozialgericht eingegangenen Berufungen. Durch Beschluss vom 23. Oktober 1974 hat der Senat sie gemäß §
113 Abs. 1 SGG zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Zur Begründung trägt der Kläger vor, auch wenn der Einschreibebrief seinem Prozeßbevollmächtigten am 21. Juli
1972 zugestellt worden sei, so sei damit nicht gesagt, daß er sämtliche 8 angefochtenen Widerspruchsbescheide
enthalten habe. Das habe der Beklagte zu beweisen. Zutreffend habe das Sozialgericht im übrigen ausgeführt, daß
weder ihn, den Kläger, noch seinen Prozeßbevollmächtigten ein Verschulden an der Fristversäumnis treffe. Indessen
müssen sie sich ein Verschulden der Ehefrau als Hilfsperson nicht zurechnen lassen, da sie geschult, erfahren und
überwacht sei.
Der Kläger beantragt, die Urteile des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Februar 1974 aufzuheben und die Streitsachen
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Berufungen zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.
In der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 1974 hat der Senat den Prozeßbevollmächtigten des Klägers zur
Sache gehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Frau A. H. als Zeugin. Wegen der Einzelheiten der Angaben
und Bekundungen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Die Akten des Versorgungsamtes D. mit der Grundlistennr. haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der
Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufungen, welche der Senat gemäß § 113 Abs. 1 SGG durch Beschluss vom 23. Oktober 1974 zur
gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat, sind zulässig, sie sind insbesondere frist- und
formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 SGG). In der Sache hatten sie mit der aus dem Tenor zu
entnehmenden Maßgabe Erfolg. Entgegen der vordergerichtlichen Auffassung war davon auszugehen, daß den Kläger
kein – abgeleitetes – Verschulden an der Versäumung der Klagefrist gegen die acht Widerspruchsbescheide vom 10.
Juli 1972 trifft. Ihm war daher Wiedereinsetzung zu gewähren.
Zuvor war davon auszugehen, daß die Bekanntgabe der Widerspruchsbescheide nach §§ 27, 28 Abs. 2 des
Verfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (VfG – KOV –) ordnungsgemäß, d.h. durch eingeschriebenen Brief an
den Prozeßbevollmächtigten, erfolgt ist. Dabei wurde die Form des § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG)
gewählt. Die Grundsätze über eine Ersatzzustellung im Sinne der §§ 180 bis 186 und 195 der Zivilprozeßordnung
(ZPO) gelten im Rahmen dieser Vorschrift nicht (BSG in SozEntsch. BSG I/4 § 63 Nr. 2; Sgb 1966 S. 412). Die
Ehefrau des Prozeßbevollmächtigten durfte nach § 4 Abs. 1 VwZG schon wegen ihres familiären Status die Sendung
befugt entgegennehmen. Abgesehen davon ist laut Nachforschungsmitteilung der Bundespost vom 25. Januar 1973
die Übergabe an eine Person mit Postvollmacht erfolgt. Ob es sich dabei um die Zeugin H. oder eine Büroangestellte
handelte, konnte in Ansehung der einschlägigen Bestimmungen offenbleiben.
Nach § 4 Abs. 2 VwZG i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 19. Mai 1972 (in Kraft seit 26. Mai 1972) ist der Tag der
Aufgabe einer Sendung zur Post in den Akten zu vermerken. Das ist vorliegend bei allen acht
Widerspruchsbescheiden geschehen. Das Verfahrensgesetz der Kriegsopferversorgung schreibt entgegen dem
klägerischen Berufungsvorbringen nun aber nicht vor, daß eine Sammelsendung, wie hier von acht Verwaltungsakten,
nicht erfolgen darf. Das wäre schon aus praktischen und verwaltungstechnischen Gründen nicht einzusehen. Die von
dem Prozeßbevollmächtigten in den Absätzen 1 und 2 seiner Berufungsbegründung geäußerte gegenteilige Meinung
ist rechtlich nicht haltbar. Selbst wenn mehrere Bescheide in einem gemeinsamen Umschlag nach § 4 Abs. 1 VwZG
zugestellt werden, muß die gesetzliche Vermutung dieser Vorschrift gelten (s. hierzu auch Peters-Sautter-Wolff Anm.
zu § 4 Abs. 1 VwZG innerhalb des § 63 SGG, S. 186/61 ff.). Sie bezieht sich dann eben auf alle in dem Umschlag
befindlichen Schriftstücke, wenn deren Aufgabe zur Post, wie hier, formell richtig in den Akten vermerkt worden ist.
Da sowohl die Behauptung des Prozeßbevollmächtigten im Verlaufe der ersten Instanz, ihm seien gar keine
Widerspruchsbescheide zugegangen, als auch die der zweiten Instanz, er habe allenfalls einen erhalten, wobei nicht
festzustellen sei, um welchen der streitigen acht es sich gehandelt habe, durch diese ordnungsgemäßen Vermerke in
den Versorgungsakten, überdies insbesondere aber noch durch das Ergebnis des Nachforschungsauftrags widerlegt
ist (er hat die Auslieferung der Einschreibesendung am 21. Juli 1972 ergeben), kehrt sich die Beweislast um. Das
bedeutet, daß der Kläger das Nachforschungsergebnis seinerseits beweiskräftig widerlegen müßte. Das hat er
indessen nicht getan, so daß alle acht streitigen Widerspruchsbescheide als am 22. Juli 1972 zugestellt gelten. Die
Klagefrist war deshalb am 12. Oktober 1972 eindeutig versäumt.
Bezüglich der beantragten Widereinsetzung in den vorigen Stand hat das Vordergericht unterlassen, zunächst gemäß
§ 67 Abs. 2 Satz 1 SGG zu prüfen, ob der entsprechende Antrag überhaupt binnen eines Monats nach Wegfall des
Hindernisses gestellt worden ist. Erwägungen hierüber hätten sich jedoch auch aus seiner Sicht aufgedrängt. Denn die
Entscheidung über ein Verschulden nach § 67 Abs. 1 SGG findet erst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 67
Abs. 2 Satz 1 oder nach Widereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf diese Vorschrift statt.
Beim Nachholen der erforderlichen Überprüfung hatte der Senat den Inhalt des in den Streitakten L 5/V-138/72
befindlichen Schriftsatzes vom 4. September 1972 zu würdigen, in dem der amtlich bestellte Vertreter des
Rechtsanwalts H. angibt, er habe durch das Landesversorgungsamt vom Erlaß und der Übersendung der acht
Widerspruchsbescheide erfahren. Wäre damit der Wegfall des Hindernisses kundgetan, dann wäre die Frist bis zum
Eingang des Antrages bei Gericht am 12. Oktober 1972 verstrichen gewesen. Trotz einiger Bedenken, die sich
insbesondere auf die Führung des vorgelegten Fristenkalenders gründen, ist der Senat aber letztlich doch zu der
Überzeugung gelangt, daß Rechtsanwalt H. am 4. September 1972 noch nicht erkannt hatte oder hätte erkennen
müssen (vgl. hierzu BGH in NJW 1956, S. 1879), daß die Auskunft des Landesversorgungsamtes zutreffend war.
Diese Kenntnis durfte sein amtlich bestellter Vertreter sich nach Lage des Falles durch Akteneinsicht verschaffen, die
in der Geschäftsstelle des erkennenden Senats am 12. September 1972 erfolgt ist. So betrachtet ist die Antragsfrist
des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG gerade noch gewahrt.
Zur Verschuldensfrage i.S. des Abs. 1 dieser Vorschrift ist vorab davon auszugehen, daß der Kläger Verschulden
seines Vertreters wie eigenes zu vertreten hat (siehe hierzu BSGE 11, 160 und NJW 1957, S. 1496). Ein
Prozeßbevollmächtigter ist ein solcher – gewillkürter – Vertreter, wobei dieser seine entsprechende Stellung erst mit
Annahme des Auftrages erhält (s. Peters-Sautter-Wolff Anm. 7 zu § 67 S. 215). Daß diese Voraussetzung erfüllt ist,
hält der Senat in Wertung des Inhalts der Versorgungsakten für zweifelsfrei. Die Frage ist alsdann in allen acht
verbundenen Streitsachen gleichermaßen, ob Rechtsanwalt H. ein den Kläger treffendes Verschulden an der
Versäumung der Klagefrist trifft. Um das zu bejahen, hat das Sozialgericht zwar einerseits gesagt, den
Prozeßbevollmächtigten treffe kein eigenes Verschulden. Andererseits hat es aber sofort angefügt, daß dieser sich
das Verschulden seines gewillkürten Vertreters – hier meint es die Zeugin Haßloch – wie ein eigenes Verschulden
anrechnen lassen müsse. Diese Auffassung geht am Kern des Problems vorbei. Denn ein Prozeßbevollmächtigter
darf sich für Verschulden seiner Hilfsperson – eine solche ist die Zeugin vorliegend nach rechtlich einwandfreier
Ansicht – exkulpieren, welche Möglichkeit der Prozeßbeteiligte in bezug auf seinen von ihm ausgesuchten Vertreter
nicht hat.
Die richtige Fragestellung im Rahmen des § 67 Abs. 1 SGG wäre hiernach für den Vorderrichter gewesen, ob
Rechtsanwalt H. zu vertreten habe, daß seine Ehefrau als seine Hilfsperson weder den Tag der Zustellung der acht
Widerspruchsbescheide noch den Beginn und das Ende der Klagefrist notiert hat. Nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme hat der Senat als zweite Tatsacheninstanz diese Frage verneint. Denn es ist nicht zu widerlegen,
daß die Zeugin seit 1959 eingehende Anwaltspost öffnet und Fristen notiert, ohne daß es bisher je zu einer
Versäumnis gekommen ist. Ist das glaubhaft, so kommt weiter hinzu, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers
sein Büropersonal einschließlich seiner mithelfenden Ehefrau überwacht und in genügend kurzen Abständen
Belehrungen über die Einhaltung von Fristen und die technische Durchführung erteilt. Damit hat er die zu erwartende
Sorgfaltspflicht erfüllt (vgl. BVerwG in NJW 1970 S. 108; BSGE 6 S. 3; BSG in MDR 1965 S. 167).
Ein Fehlverhalten der Zeugin in bezug auf die am 21. Juli 1972 zugestellten acht Widerspruchsbescheide kann ihm
deshalb nicht zugerechnet werden. Damit entfällt jegliches prozessuales Verschulden des Klägers.
Wer hiernach im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts Darmstadt Wiedereinsetzung zu gewähren, so war
ferner i.S. der Vorschrift des § 159 Abs. 1 Ziffer 1 SGG zu verfahren. Insbesondere aus Gründen des anderenfalls
nicht vermeidbaren Verlustes einer Tatsacheninstanz erschien es geboten, die Fülle des materiell-rechtlichen
Streitstoffes zunächst erstinstanzlich überprüfen und möglicherweise erforderlich werdende Ermittlungen dort
durchführen zu lassen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.