Urteil des LSG Hessen vom 02.04.2017

LSG Hes: grundsatz der gleichbehandlung, berufsausbildung, besuch, entziehung, arbeitslosenversicherung, rückerstattung, sozialversicherung, hausfrau, rückforderung, entziehen

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 16.08.1960 (rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg
Hessisches Landessozialgericht L 3 Kg 22/60
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg/Lahn vom 25. November 1959 wird als
unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten der Berufungsinstanz zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger ist Vater von sieben Kindern. Die 1937 geborene Tochter S. besuchte vom 14. April 1955 bis zum 31.
März 1956 das K.-W.-Haus, eine Haushaltungsschule des evangelischen Diakonievereins in K. Schul- und
Pensionsgeld betrugen monatlich 140,– DM. Durch Mitteilung vom 2. September 1955 bestätigte die Beklagte dem
Kläger, dass Kindergeld für die Tochter S. gewährt werde, nachdem der Nachweis erbracht worden sei, dass sie sich
in der Ausbildung befinde. Am 13. März 1956 meldete der Kläger der Beklagten, dass seine Tochter S. zwar am 31.
März 1956 ihre einjährige Ausbildung in der Haushaltungsschule beende, dass sie aber nunmehr ab 1. April 1956 eine
dreijährige Lehrzeit als Fotoverkäuferin beginne. Daraufhin bestätigte die Beklagte mit Schreiben vom 5. April 1956,
dass für die Tochter S. weiterhin Kindergeld gewährt werde und lediglich für den Sohn K. ein weiterer Bezug von
Kindergeld wegen Beendigung der Berufsausbildung entfalle.
Im April 1958 forderte die Beklagte erstmals den Kläger zu einer kurzen Stellungnahme auf, aus welchen Gründen
seine Tochter S. in den Jahren 1955/56 die Haushaltungsschule besucht habe. Nachdem der Kläger die Antrage
beantwortet hatte, entzog die Beklagte mit Bescheid vom 19. Dezember 1958 gemäss § 28 des Kindergeldgesetzes
(KGG) dem Kläger das Kindergeld für seine Tochter S. für die Zeit vom 1. Oktober 1955 bis 31. März 1956. Zur
Begründung führte sie aus, dass der Besuch einer Haushaltungsschule nicht als Berufsausbildung angesehen werden
könne, zumal später eine andere Berufsausbildung begonnen worden sei. In diesem Falle habe der Besuch der Schule
lediglich der eigenen Vervollkommnung im Haushaltswesen gedient, sei aber nicht auf ein künftiges Berufsziel
ausgerichtet gewesen und könne deshalb nicht als Grundlage für eine spätere Berufsausbildung angesehen werden.
Demzufolge habe ein Anspruch auf Kindergeld während der Monate Oktober 1955 bis März 1956 für die Tochter S.
nicht bestanden. Das zuviel gezahlte Kindergeld werde deshalb für die angegebene Zeit entzogen. Die Beklagte werde
es gemäss § 35, Abs. 2 Ziff. 2 KGG gegen den künftigen Anspruch auf Kindergeld aufrechnen.
Hiergegen führte der Kläger Klage vor dem Sozialgericht in Marburg/Lahn. Dieses hob mit Urteil vom 25. November
1959 den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1958 auf und verurteilte sie, dem Kläger auch für die Zeit von
Oktober 1955 bis März 1956 Kindergeld zu gewähren. In den Entscheidungsgründen führte es aus, die Tätigkeit einer
Hausfrau müsse wie jede andere Erwerbstätigkeit als Beruf angesehen werden. Der Umstand, dass Hausfrauen nicht
gegen Entgelt arbeiteten, ändere hieran nichts. Davon abgesehen, stelle die neu geschaffene Zugewinngemeinschaft
des ehelichen Güterrechtes eine Beteiligung der verheirateten Hausfrau am Familieneinkommen dar. Auch der
Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter verbiete es, die Frau insoweit schlechter zu stellen als den Mann.
Gegen das am 4. Januar 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 30. Januar 1960 Berufung eingelegt mit dem
Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 19.12.1958 abzuweisen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie führt aus, dass die Tochter S. des Klägers ihre eigentliche Berufsausbildung als Fotoverkäuferin erst am 1. April
1956 begonnen habe. Der Besuch der Haushaltungsschule habe deshalb nicht der Ausbildung für einen künftigen
Lebensberuf gedient. Hierunter könne nur eine gegen Entgelt auszuübende spätere Tätigkeit verstanden werden. In
der Haushaltungsschule habe sich die Tochter S. lediglich gewisse Kenntnisse zur Führung eines eigenen Haushaltes
aneignen sollen.
Der Kläger hat beantragt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.
Hinsichtlich der Statthaftigkeit des Rechtsmittels steht er auf dem Standpunkt, dass die Ausschlussgründe des § 28,
Abs. 2 Ziff. 2 KGG und des § 149 SGG eingreifen. In sachlicher Hinsicht hält er das angefochtene Urteil für
zutreffend.
Auf die Schriftsätze der Beteiligten, das angefochtene Urteil und den Akteninhalt im übrigen wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die fristgerecht eingelegte Berufung ist unstatthaft und war deshalb gemäss § 158 Abs. 1 SGG als unzulässig zu
verwerfen.
Gemäss § 26 KGG kann das Kindergeld durch Bescheid entzogen werden. Eine Entziehung ist jedoch
ausschliesslich nur mit Wirkung für die Zukunft, niemals mit Wirkung für die Vergangenheit möglich. Das folgt aus §
29 KGG wonach die für die Berufsgenossenschaft geltenden Vorschriften des Ersten, Dritten und Sechsten Buches
der Reichsversicherungsordnung (RVO), soweit das KGG nichts anderes vorschreibt, sinngemäss Anwendung finden.
Ebenso wie im Falle der §§ 608 ff RVO die Entziehung einer bereits gewährten Rente mit Wirkung für die
Vergangenheit nicht möglich ist, kann ein bereits gewährtes Kindergeld wegen einer Änderung der Verhältnisse, bzw.
wegen des Wegfalles der gesetzlichen Voraussetzungen, mit Wirkung für die Vergangenheit nicht entzogen werden.
Die gleichen Grundsätze gelten im übrigen auch für die Kriegsopferversorgung (KOV), wie § 62 BVG beweist. Im
Hinblick hierauf kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber im Bereich des KGG den Begriff "entziehen”
anders verstanden haben wollte als im Bereich der RVO. Das bedeutet jedoch nicht, dass zu Unrecht gezahltes
Kindergeld nicht zurückverlangt werden könnte. Wird ein solcher Anspruch gegen den Empfänger der Leistung geltend
gemacht, so handelt es sich jedoch nicht um eine Entziehung des Kindergeldes, sondern um die Rückforderung einer
zu Unrecht bewilligten Leistung. Dass die Beklagte mit ihrem Bescheid vom 19. Dezember 1958 in Wirklichkeit kein
anderes Ziel verfolgt hat, ergibt sich aus dem wörtlichen Zitat des § 35 Abs. 2 Nr. 2 KGG in der Begründung des
Bescheides. Dort wird ausgeführt, dass das zu Unrecht gewährte Kindergeld gegen den künftigen Anspruch auf
Kindergeld aufgerechnet werde. Wenn die Beklagte aufgrund der angeführten Bestimmung aufrechnen wollte, kann es
sich deshalb in Wirklichkeit nur um einen Anspruch auf Rückerstattung einer Leistung gehandelt haben. Im übrigen ist
bei Bescheiden eines Versicherungsträgers der getroffene Verfügungssatz so auszulegen, wie er im Hinblick auf die
in den Gründen angestellten Erwägungen verstanden werden muss. Diese lassen hier nur eine Auslegung in dem
Sinne zu, dass ein Rückerstattungsanspruch geltend gemacht und im Wege der Aufrechnung gemäss § 35 Abs. 2,
Nr. 2 KGG realisiert werden sollte. Ist der Bescheid der Beklagten aber so zu verstehen, so wäre die Berufung im
Hinblick auf den Ausschlussgrund des § 149 KGG nur zulässig, wenn der Beschwerdewert 500,– DM übersteigt
würde.
Insoweit kann allerdings zweifelhaft sein, ob die Bestimmung des § 28 Abs. 2, Ziff. 2 KGG so zu verstehen ist, dass
die Berufung nur dann ausgeschlossen sein soll, wenn sie den Beginn oder das Ende des Anspruches auf Kindergeld
betrifft, während sie in allen übrigen Fällen statthaft wäre. Eine derartige Auslegung der Vorschrift ist weder nach dem
Wortlaut des Gesetzes geboten noch entspricht sie dem Zweck der Berufungsausschlussgründe der §§ 144 ff SGG
(vgl. Lauterbach-Wickenhagen, § 28 KGG, Anm. 7, Schieckel, § 28 KGG, Anm. 6, Sixtus-Haep, § 28 KGG, Anm. 9,
Peters-Sautter-Wolff, § 51 Anm. 11 b am Ende). Übereinstimmend sind sämtliche Kommentatoren der Ansicht, dass
neben der Vorschrift des § 28, Abs. 2 Ziff. 2 KGG auch der allgemeine Ausschlussgrund des § 144 SGG gilt. Eine
andere Auffassung würde auch der inneren Berechtigung entbehren, weil selbstverständlich die Berufungsinstanz
auch bei Streitigkeiten aus dem KGG vor Bagatellfällen bewahrt werden muss. Mit der Frage, ob ausser dem
allgemeinen Ausschlussgrund des § 144 SGG neben § 28, Abs. 2, Ziff. 2 KGG auch der weitere allgemeine
Ausschlussgrund des § 149 SGG gilt, ist aus dem einschlägigen Schrifttum nichts zu entnehmen. Der Senat ist der
Auffassung, dass auch die Bestimmung des § 149 SGG neben § 28, Abs. 2, Ziff. 2 KGG Anwendung findet.
Rechtssystematisch ist nämlich die Bestimmung des § 149 SGG ebenfalls ein allgemeiner Ausschlussgrund, der für
alle Arten der von den Sozialgerichten zu entscheidenden öffentlichen Streitigkeiten einheitlich gilt. In den
Vorschriften der §§ 145–148 SGG sind dagegen die besonderen, nur für einzelne Zweige der Sozialversicherung, der
Kriegsopferversorgung und der Arbeitslosenversicherung geltenden Ausschlussgründe enthalten. Von den dort
geregelten Fällen musste der besondere Ausschlussgrund für Beginn- und Endestreitigkeiten wegen seiner
Wesensgleichheit für ähnliche Streitigkeiten aus dem KGG übernommen werden, während sämtliche anderen
besonderen Ausschlussgründe schon ihrer Natur nach im Bereich des KGG keine Anwendung finden können. Nur
hieraus erklärt sich die für Beginn- und Endestreitigkeiten getroffene Sonderregelung des § 28 Abs. 2, Ziff. 2 KGG.
Wenn ein weiterer Ausschlussgrund für Streitigkeiten über nur Kindergeld für bereits vergangene Zeiträume nicht
geschaffen wurde, so hat dies offenbar seinen Grund darin, dass derartige Streitigkeiten in der Regel mit Beginn und
Endestreitigkeiten identisch sind. Ein solcher Fall liegt im übrigen hier nicht vor, weil dann wie bei Rentenstreitigkeiten
der Anspruch auf Kindergeld an sich unstreitig sein müsste. Anders ist es dagegen bei dem
Berufungsausschlussgrund des § 149 SGG, zweite Alternative, der sich auf die Rückerstattung von Leistungen
bezieht. Hier ist gleichgültig, ob über die Anspruchsgrundlage Streit besteht oder nicht, weil es die durch das 2.
Änderungsgesetz neu in das Sozialgerichtsgesetz aufgenommenen Bestimmungen allein auf die geldliche Beschwer
abstellt.
Aus all dem folgt, dass die Bestimmung des § 28, Abs. 2, Ziff. 2 KGG nur die besonderen Ausschlussgründe der §§
145–148 SGG ersetzt. Deshalb liegt kein Anhalt dafür vor, dass der Ausschlussgrund des § 149 SGG im Bereich des
KGG keine Anwendung findet. Im Gegenteil erfordern Sinn und Zweck der Bestimmung, die für alle
Rückforderungsstreitigkeiten in allen Zweigen der Sozialversicherung, der Kriegsopferversorgung, der
Arbeitslosenversicherung usw. gleichmässig gilt, ihre Anwendung auch für Rückerstattungsansprüche aus dem
Bereich des KGG. Da der Beschwerwert hier nur 150,– DM erreicht, greift mithin der Ausschlussgrund des § 149 SGG
ein und die Berufung war gemäss § 158 Abs. 1 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Da das Rechtsmittel der Beklagten unstatthaft ist, konnte eine sachliche Entscheidung über die Frage, ob ein
Kindergeld überhaupt zu Unrecht gewährt worden ist, wenn die Mitteilung über seine Gewährung wie hier für die
Beteiligten bindend geworden ist, dahingestellt bleiben. (vgl. insoweit die Entscheidung des erkennenden Senates in
der Landwirtschaftlichen Alterhilfesache L-3/AH – 12/60 vom 17. Mai 1960). Des weiteren hatte der Senat auch nicht
die Frage zu entscheiden, ob der Besuch einer Haushaltungsschule eine Berufsausbildung im Sinne des § 2 Abs. 1
KGG darstellt.
Ein Anlass die Revision zuzulassen lag nicht vor, da der Senat weder von einer höchstrichterlichen Entscheidung
abgewichen ist noch die Frage der Zulässigkeit der Berufung von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.