Urteil des LSG Hessen vom 02.04.2017

LSG Hes: meisterprüfung, landwirtschaft, berufsausbildung, heimkehr, qualifikation, viehzucht, berufserfahrung, buchführung, minderung, besitz

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 17.02.1972 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 110/71
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 7. Januar 1971 wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der 1907 geborene Kläger erhält wegen
"1) Verlust des rechten Oberschenkels,
2) Schußbruch des 3. Mittelhandknochens mit Verkürzung des re. Mittelfingers und Teilversteifung der übrigen langen
Finger der re. Hand,
3) Narben an der re. Hüfte und über dem Kreuzbein.
4) Statische Belastungsbeschwerden am li. Fuß bei angeborener anlagebedingter Hohlfußbildung und
Hammerzehnbildung”
als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach einem Grade der Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. (Bescheid v. 5.10.54), der nach Anerkennung besonderer Betroffenheit im Beruf
als selbständiger Landwirt durch Zugunstenbescheid vom 1. April 1955 auf 90 v.H. erhöht worden ist.
Im September 1964 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt Frankfurt/Main Berufsschadensausgleich. Zu seinem
beruflichen Werdegang gab er an, nach Besuch der Volksschule bis 1935 in der elterlichen Landwirtschaft
mitgearbeitet zu haben und anschließend in seinem Beruf selbständig gewesen zu sein, bis er den Besitz 1963 wegen
der Schädigungsfolgen an seinen Sohn habe verpachten müssen. Neben seiner Tätigkeit als Landwirt sei er nach
zweijähriger Ausbildungszeit von 1926 bis 1939 noch selbständiger Obstbaumwart in seinem Heimatdorf gewesen.
Nach Durchführung von Ermittlungen über Größe, Eigentumsverhältnisse und Erträgnisse des landwirtschaftlichen
Besitzes erließ das Versorgungsamt den Bescheid vom 25. Januar 1966, mit den es ab 1. Januar 1964
Berufsschadensausgleich in gesetzlicher Höhe unter Eingruppierung in die Besoldungsgruppe A 7 des
Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) – selbständig Tätiger mit abgeschlossener Berufsausbildung – gewährte. Dieser
Bescheid ist in der Fassung des Zugunstenbescheides vom 28. September 1966 bindend geworden, ebenso wie die
folgenden Neufeststellungsbescheide, die wegen der Anrechnung von Einkommen in wechselnder Höhe erforderlich
wurden.
Ab 7. November 1969 stellte der Kläger Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides mit der Begründung, er hätte
bei gesunder Heimkehr die Prüfung als landwirtschaftlicher Meister abgelegt, die ab 1950 eingeführt sei. Damals sei er
43 Jahre alt gewesen und hätte die erforderliche geistige und körperliche Rüstigkeit besessen. Nach der einschlägigen
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und in Anwendung des Rundschreibens des Bundesministers für Arbeit
und Sozialordnung vom 30. September 1968 müsse er deshalb in die Besoldungsgruppe A 9 BBesG eingestuft
werden.
Dieses Begehren lehnte das Versorgungsamt mit durch Widerspruchsbescheid vom 5. März 1970 bestätigten
Bescheid vom 22. Januar 1970 ab. In dem bindend gewordenen Erstbescheid sei bereits eine abgeschlossene
Berufsausbildung unterstellt worden. Daß der Kläger schon vor der Schädigung eine besondere berufliche Qualifikation
besessen gehabt habe, die ihn über den Leistungsstand der Mehrzahl seiner Berufskollegen hinausgehoben habe, sei
nicht dargetan und bei der Größe und Art der Landwirtschaft auch nicht anzunehmen. Im übrigen hatten ihm die
Schädigungsfolgen nicht gehindert, die theoretischen Kenntnisse für eine Meisterprüfung zu erwerben und
nachzuweisen. Die praktischen Voraussetzungen hätten schon vor der Schädigung vorgelegen.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt/Main hat der Kläger auf seinen Vorsitz der Jungbauernschaft in der
Zeit vom 1926 bis 1933, die Teilnahme an Lehrgängen für Obstbau, Buchführung, Viehzucht und Feldbestellung
während dieser Jahre sowie darauf verwiesen, daß er von 1934 bis 1938 Ortsbauernführer gewesen sei. Sein Ziel sei
gewesen, den Betrieb mit Hilfe von Lehrlingen aufzustocken. Die Schädigungsfolgen hätten ihn aber zu sehr
behindert, die geistigen und körperlichen Anforderungen einer Meisterprüfung zu bewältigen.
Mit Urteil vom 7. Januar 1971 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es
ausgeführt, es seien keine Umstände vorgetragen oder ersichtlich, die den Schluß auf eine ermessensfehlerhafte
Entscheidung des Beklagten zuließen. Bei der Größe des landwirtschaftlichen Besitzes könne trotz jahrelanger
selbständiger Berufserfahrung nicht von besonderen beruflichen Qualifikationen oder Erfolgen durch außergewöhnliche
Leistungen gesprochen werden.
Gegen dieses Urteil, das dem Kläger am 14. Januar 1971 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 2. Februar 1971
beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung wiederholt er sein Vorbringen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 7. Januar 1971 und den Bescheid des
Beklagten vom 22. Januar 1970 in der Gestalt das Widerspruchsbescheides vom 5. März 1970 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Akten des Versorgungsamtes Frankfurt/Main mit der Grdl. Nr. XXXX haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den
der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1. des
Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist jedoch nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 22. Januar 1970 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 1970 ist
nicht rechtswidrig.
Rechtsgrundlage ist § 40 Abs. 1 VfG (KOV), wonach zu Gunsten des Berechtigten jederzeit ein neuer Bescheid erteilt
werden kann. Ein solcher setzt jedoch voraus, daß die frühere Entscheidung aus rechtlichen oder sachlichen Gründen
unrichtig ist. Bestehen lediglich Zweifel an deren Richtigkeit, so darf ein neuer Bescheid nicht ergehen.
Von diesen Vorschriften ausgehend ist der Senat der Auffassung, daß die Voraussetzungen für die Erteilung eines
Zugunstenbescheides in dem vom Kläger gewünschten Sinne nicht vorliegen. Denn es ist keinesfalls zweifelsfrei, daß
der bindend gewordene Erstbescheid vom 25. Januar 1966 in der Fassung des Zugunstenbescheides vom 28.
September 1966 unrichtig ist. Wenn der Beklagte sich nach Prüfung der vom Kläger vorgetragenen Gründe und des
Inhalts der Versorgungsakten hiervon sich nicht zu überzeugen vermochte, so ist das nicht zu beanstanden.
Auch der Senat ist der Meinung, daß der Kläger trotz seiner Schädigungsfolgen in der Lage gewesen wäre, die ab
1950 eingeführte Meisterprüfung in der Landwirtschaft abzulegen. Denn er besaß bereits vor seiner Schädigung eine
jahrelange praktische Berufserfahrung, die er nach seiner Darstellung durch Lehrgänge u.a. über Viehzucht,
Feldbestellung und Buchführung theoretisch abgerundet hatte. Hierauf hätte er, wenn er gewollt hätte, aufbauen und
zumindest den zumutbaren Versuch unternehmen können, die Meisterqualifikation zu erlangen. Ein solcher ist nach
ständiger Rechtsprechung des Senats sogar grundsätzlich erforderlich, um den Leistungs- und Ausbildungswillen im
Sinne des § 30 Abs. 4 BVG sowie des § 2 der dazu ergangenen Durchführungsverordnungen zu dokumentieren. Er
wäre hier umso notwendiger gewesen, als bei dem Kläger ein günstiges Lebensalter vorgelegen hätte und keine
Schädigungsfolge gegeben ist, die sich auf eine Minderung des geistigen Konzentrationsvermögens auswirken
konnte. Wird ein Wille zur beruflichen Weiterbildung indessen – wie vorliegend – nicht deutlich, dann können auch die
in dem vom Kläger zitierten BSG-Urteile vom 23. November 1962 (8 RV 409/66) niedergelegten Gedankengänge keine
Anwendung finden, weil der Ausgangspunkt verschieden ist. Für eine Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG war kein
Raum. Das umsoweniger, als der Beklagte den Kläger ohnehin einem Landwirt mit abgeschlossener Berufsausbildung
gleichgestellt hat, obwohl er keine landwirtschaftliche Schule durchlaufen und keinen entsprechenden Abschluß
vorzuweisen hat.
Hinzu kommt ferner, daß der Kläger keine Qualifikation dargelegt hat, die ihn über die Mehrzahl seiner vergleichbaren
Berufskollegen hinausgehoben hatte und hinaushebt. Es ist weder außergewöhnlich, daß er die von ihm angegebenen
Lehrgänge besucht noch daß er Obstbaumwart, Vorsitzender der Jungbauernschaft und Ortsbauernführer gewesen ist.
Die letztere Funktion ist von vornherein auszuscheiden, weil sie offenbar politisch bestimmt gewesen ist. Denn der
Kläger war, wie aus den Versorgungsakten hervorgeht, nach dem Zusammenbruch des sogenannten Dritten Reiches
als politisch Belasteter eingestuft und mit Arbeitslager bestraft worden. Aus der Tätigkeit als Ortsbauernführer auf
besondere berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten schließen zu können, ist schon deshalb nicht möglich.
Auch war der elterliche Besitz, den er nach früheren Angaben ab 1935, nach späteren, im Schriftsatz von 12. Januar
1970 gemachten ab 1930 geführt und 1952 übernommen haben will, in Größe und Lage kein solcher, der die
Erreichung der Meisterqualifikation als Landwirt notwendig gemacht hätte. Denn nach der als Bl. 99 ff. VA
eingehefteten Beurteilung der Wirtschaftsberatungsstelle H. vom 25. März 1957 hatte der Hof damals lediglich 4 ha
Eigenland und 2.95 ha Pachtland. Vorher und nachher ist er nur unwesentlich aufgestockt gewesen und vergrößert
worden. Darüber hinaus liegen die Flurstücke dezentral und sind auch später nicht genügend arrondiert worden. Der
Viehbestand entsprach zwar der Grundstücksgröße. Daß besondere Anstrengungen gemacht worden sind, am
insoweit zu einer über dem Durchschnitt liegenden Ausnutzungs- und Einkommensquote zu gelangen, ist indessen
wiederum nicht vorgetragen oder ersichtlich. Inwieweit sich die Erwerbschancen des Klägers bei unterstellter gesunder
Heimkehr in Ansehung seines landwirtschaftlichen Besitzes durch die Ablegung der Meisterprüfung erheblich
günstiger gestaltet hätten, ist unter diesen Gesichtspunkten ebenfalls nicht erkennbar. Auch so betrachtet hatte der
Senat keinen Anlaß, von seiner Rechtsprechung abzugehen, die er in seinem Urteil vom 3. April 1968 (Breith. 1968,
S. 1936) zum Ausdruck gebracht hat. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Kläger die Prüfung als
Landwirtschaftsmeister abgelegt hatte, wenn er ungeschädigt geblieben wäre, besteht hiernach selbst dann nicht,
wenn zu seinen Gunsten unterstellt werden würde, er sei durch die Schädigungsfolgen tatsächlich daran gehindert
worden. Denn einmal war der Betrieb für die Ausbildung landwirtschaftlicher Lehrlinge wegen seiner Lage und seines
Umfangs nicht geeignet. Zum anderen wäre der Kläger auch mit Lehrlingen objektiv nicht in der Lage gewesen, die
Erträgnisse wesentlich zu steigern und seine Gewinnchancen entscheidend zu erhöhen, selbst wenn er das gewollt
hätte. Die Ausbildung gestattet nämlich unter Beachtung des Jugendarbeitsschutzgesetzes nicht den vollen Einsatz
von Lehrlingen bei der Arbeit gegen billiges Entgelt, sondern entzieht im Gegenteil den verantwortungsbewußten
Lehrherrn durch Anleitung und Überwachung einem Teil eigener gewinnbringender Tätigkeiten.
Hiernach war der angefochtene Bescheid unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu beanstanden, so daß der
Berufung der Erfolg mit der aus § 193 SGG entnommenen Kostenfolge zu versagen war.