Urteil des LSG Hessen vom 02.04.2017

LSG Hes: wahrscheinlichkeit, sowjetunion, udssr, alter, internierung, osteuropa, arbeitskraft, verschleppung, hinterbliebenenrente, zwangsarbeit

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 02.02.1972 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 1051/70
Auf die Berufung des Beklagten wird des Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. Oktober 1970 aufgehoben und
die Klage abgewiesen.
Die Beteiligtem haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin hat am 15. Mai 1924 die Ehe mit dem 1873 im Kreise S. (U.) geborenen F. W. geschlossen, der am 26.
November 1937 als Volksdeutscher von Staatsorganen der Sowjetunion verschleppt worden ist. Nach ihren Angaben
hat sie ihn, der den Beruf des Landwirts und Schreiners ausgeübt hatte, am 1. Dezember 1957 im
Untersuchungsgefängnis K. das letzte Mal gesehen. Seither ist er verschollen.
Am 17. Mai 1966 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt Darmstadt Hinterbliebenenversorgung mit der
Begründung, sie nehme an, ihr Ehemann sei trotz seines Alters bei Ausbruch der Kriegshandlungen zwischen
Deutschland und der UdSSR im Jahre 1941 noch am Leben gewesen. Seine Zivilinternierung sei mithin als
Kriegsgefangenschaft anzusehen.
Mit durch Widerspruchsbescheid vom 22. April 1969 bestätigtem Bescheid vom 6. November 1968 wurde ihr Antrag
mit der Begründung abgelehnt, eine Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG liege nicht vor. Die
entscheidende Frage, ob ihr Ehemann bei Ausbruch des Krieges noch gelebt habe, müsse verneint werden, weil die
besonderen Bedingungen in dem sowjetischen Zwangslagern unter Beachtung des hohen Alters ein Überleben
unwahrscheinlich machten.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt hat sich die Klägerin auf den Parallelfall der Witwe W. berufen,
deren Ehemann in derselben Nacht abtransportiert worden sei, die ebenfalls keinerlei Lebenszeichen mehr erhalten
habe, jedoch Hinterbliebenenrente erhalte. Ihr, der Klägerin, stehe jedenfalls Verschollenheitsrente zu. Ihr Ehemann
sei stets gesund und sehr stark gewesen. Ihres Erachtens sei das ungeachtet seines Alters auch der Grund der
Verschleppung zur Ausnutzung seiner Arbeitskraft gewesen.
Nachdem das Sozialgericht vom Versorgungsamt Verden die Versorgungsakten J. W. beigezogen hatte, hat der
Beklagte nach Einsichtnahme ausgeführt, der verschleppte Volksdeutsche D. W. habe dem Jahrgang 1896 angehört,
so daß mit Rücksicht auf sein günstiges Lebensalter vom jahrelangen Überstehen der Strapazen eines Arbeitslagers
habe ausgegangen werden können. Demgegenüber wäre der Ehemann der Klägerin bei Ausbruch des deutsch-
sowjetischen Krieges bereits 68 Jahre alt gewesen. Bei ihm sei deshalb unwahrscheinlich, daß er zu diesem
Zeitpunkt noch gelebt habe.
Mit Urteil vom 12. Oktober 1970 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides
verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren. In dem Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, ihr
Ehemann sei zwar im Alter von 64 Jahren verschleppt worden. Dennoch bestehe für ihn, der mit der Härte des Lebens
im Lande vertraut, im besten Gesundheitszustand gewesen sei und als Handwerker Möglichkeiten gehabt habe, durch
Nebenbeschäftigungen die schlechten Ernährungsverhältnisse zu verbessern, die Wahrscheinlichkeit, daß er den
Ausbruch des Krieges im Jahre 1941 noch erlebt habe.
Gegen dieses Urteil, das dem Beklagten am 23. Oktober 1970 zugestellt worden ist, richtet sich dessen am 19.
November 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung verweist er auf
einschlägige Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts über die Bedingungen von internierten in Zwangsarbeitslagern
der Sowjetunion. Nach den Gegebenheiten das Falles und diesen Dokumentationen könne nicht davon ausgegangen
werden, daß der Ehemann der Klägerin zu dem Kreise der in § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG genannten Personen gehöre.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. Oktober 1970 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung wiederholt sie ihr bisheriges Vorbringen und hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Witwenakten des Versorgungsamts Darmstadt mit der Grdl. Nr. XXX haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den
der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 des
Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist auch begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 6. November 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 1969
ist mit der Maßgabe rechtmäßig, daß Rechtsgrundlage nicht § 38 BVG ist – Anspruch auf Witwenrente –, sondern §
52 BVG. Denn der Ehemann der Klägerin ist bislang nicht für tot erklärt worden, die Klägerin nach dem Gesetz mithin
nicht als Witwe anzusprechen. Andererseits ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß er im Zeitpunkt
der Antragstellung nicht mehr am Leben war. Dieses gesetzliche Faktum hat das Sozialgericht richtig erkannt. Im
übrigen ist ihm indessen nicht zu folgen.
Im Zeitpunkt der Verschleppung des Ehemannes der Klägerin befand sich das ehemalige Deutsche Reich mit der
UdSSR nicht im Kriegszustand. Seine Inhaftierung und – höchstwahrscheinliche – Überführung in ein
Zwangsarbeitslager auf dem Gebiete seines Heimatstaates gehörte damals nicht zu Internierungen, die im
Zusammenhang mit Kriegsereignissen vorgenommen wurden. Hierzu können nach ständiger Rechtsprechung des
BSG (vgl. Urteile vom 4. Februar 1959 und 9. Juni 1959 in BVB. S. 92 und Rechtsprechung der KOV Nr. 1003),
welcher sich der Senat anschließt, nur Maßnahmen zählen, die infolge des Kriegsausbruches im Juni 1941 von der
Sowjetunion gegen ihre Bürger deutscher Volkszugehörigkeit ergriffen worden sind, d.h. Internierungen, für die das
Kriegsgeschehen alleinige oder zumindest überwiegende Ursache des zwangsweisen Verbringens und Festhaltens an
einem anderen als den bisherigen Wohnort gewesen ist.
Hiervon ausgehend ist schon zweifelhaft, ob der gesetzliche Tatbestand des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG überhaupt
erfüllt sein kann. Denn der Ehemann der Klägerin ist 1937 einer der politischen Säuberungsaktionen in der
Sowjetunion zum Opfer gefallen, die sich damals nach den inzwischen bekannten Motiven gegen "unzuverlässige
Personen” im Sinne des sowjetischen Regimes richteten, zu denen die Volksdeutschen u.a. in der U. und in der W.
(S.) zählten, die bis dahin zum Teil autonome Rechte besessen hatten. Okkupationsbefürchtungen in Bezug auf das
Deutsche Reich mit der Folge von angenommenen gegen die Regierung der UdSSR gerichteten Sabotageakten der
angestammten Einwohner waren 1936/37 nicht von wesentlicher Bedeutung. Es ging vielmehr vor allem darum, die
noch in relativem Wohlstand lebenden privilegierten deutschstämmigen Einwohner in Vollzug gerichtlicher
Pauschalurteile oder administrativer Anordnungen politisch gefügig und gleichzeitig ihre Arbeitskraft gezielt nutzbar zu
machen, was der Stalin-Ideologie jener Jahre entsprach. Ob sich hieran nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen
Krieges etwas geändert hat, ist sehr zweifelhaft. Denn die Verurteilungen zu Arbeitslager mit Zwangsarbeit der Jahre
1936/37 gingen bekanntermaßen von vornherein über Distanzen von mindestens 5 bis zu 25 Jahren und länger. In
Wertung dieser historischen Tatsachen kann nur unter großen Bedenken unterstellt werden, daß ab Ende Juni 1941
nun der Krieg die alleinige oder überwiegende Ursache für das weitere Festhalten bereits verurteilter deutscher
Volkszugehöriger in Zwangsarbeitslagern gewesen ist. Grundsätzlich wird der Tatbestand des § 1 Abs. 2 Buchst. c
BVG nur erfüllt sein, wenn die Internierung infolge des Krieges geschehen ist, nicht aber dann, wenn die Verbüßung
einer zuvor verhängten Strafe in Form von Zwangsarbeit zeitlich in die Kriegsjahre hineinreicht, es sei denn, daß die
Bedingungen einer Internierung im Sinne des Gesetzes durch das Kriegsgeschehen erst einsetzten. Daß es im Falle
der 1936/37 abtransportierten Volksdeutschen so gewesen ist, ist aber nicht ohne weiteres ersichtlich und zwingende
Annahme. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von solchen dem Senat aus eigener Rechtspraxis
bekannten, in denen Inhaftierungen und Verschleppungen sowjetischer Bürger deutscher Volkszugehörigkeit, welche
den Säuberungswellen entgangen waren, nach Ausbruch des Krieges gegen die Sowjetunion vorgenommen wurden (s.
hierzu auch Urteil des BSG vom 15. Dezember 1959, Az.: 11 RV 296/58).
Selbst wenn diese grundsätzlichen Erwägungen jedoch außer Betracht gelassen werden, kann das angefochtene
Urteil dennoch nicht gehalten werden. Zutreffend hat der Beklagte im Zusammenhang mit dem von der Klägerin
zitierten Parallelfall W. und unter Berufung auf gutachterliche Ausführungen des Osteuropa-Institutes (Gutachten vom
17. August 1960 zur Frage der Behandlung der Rußlanddeutschen, die seit dem 22. Juni 1941 inhaftiert und seitdem
verschollen sind) ausgeführt, die erforderliche Wahrscheinlichkeit dafür bestehe nicht, daß der Ehemann der Klägerin
dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges noch erlebt hat.
Zwar war er im Lande geboren, seit der sozialistischen Revolution mit den politischen Gegebenheiten vertraut, erfreute
sich nach glaubhaften Angaben der Klägerin guter Gesundheit und gehörte einem Berufe an, der unter
volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten von der Sowjetmacht geschätzt wurde. Es ist jedoch nicht daran
vorbeizukommen, daß er im Alter von 64 Jahren aus seinem Heimatmilieu in der begünstigten U. gerissen sowohl
klimatisch als auch arbeitsmäßig Bedingungen unterworfen wurde, die insgesamt gesehen ungleich härter waren, als
das bisher Kennengelernte. Denn die Zwangsarbeitslager befanden sich fast ausnahmslos jenseits des Ural in
Gegenden, die nicht erschlossen waren. Der Einsatz der Verurteilten (oder ohne Urteil Internierten) fand für Arbeiten
statt, welche ohne ausreichende Erholungszeit und normalen sonstigen Arbeitsschutz unter unzureichender Ernährung
und Bekleidung zu leisten waren. Davon, daß der Ehemann der Klägerin gerade seine Schreinerkenntnisse günstig
verwerten gekonnt hätte, ist nicht mit Wahrscheinlichkeit auszugehen, da Arbeiten in Bergwerken und
Rüstungsprojekten im Vordergrund standen. Insofern ist das Sozialgericht von Vermutungen ausgegangen. Viel eher
ist nach den Berichten und Veröffentlichungen über die Arbeitslager der Jahre ab 1936 in der UdSSR davon
auszugehen, daß er berufsfremde Tätigkeiten ausüben mußte. Die weitere Annahme des Vordergerichts, für den
Ehemann der Klägerin hätten als Handwerker eher Möglichkeiten bestanden, die schlechten Ernährungsverhältnisse
durch Nebenbeschäftigungen zu verbessern, ist rein hypothetischer Natur in einem menschenarmen Gebiet ohne
normale Zivilisation, zumal sie ein relativ freies Leben innerhalb oder gar außerhalb des Lagers voraussetzt. Hierfür
sind keine Anhaltspunkte vorhanden, so daß das Urteil damit nicht getragen werden kann. Gerade die Tatsache, daß
der Ehemann der Klägerin, ebenso wie D. W., nie ein Lebenszeichen von sich gegeben hat, spricht für eine Haft unter
härtesten Bedingungen. Da auch von dritter Seite, sei es über Einwohner des Lagerdistrikts oder andere
Lagerkameraden keine Nachricht über ihm an die Klägerin, ihre Familie oder an sonstige Personen gelangt ist, wird
diese Auffassung des Senats zur hohen Wahrscheinlichkeit erhärtet.
Diese Fakten lassen auch den weiteren wahrscheinlichen Schluß zu, daß er bei Beginn des Rußlandkrieges nicht
mehr am Leben war. Er wäre im Juni 1941 fast 68 Jahre alt gewesen. Damit hätte er die statistisch errechnete
Lebenserwartung für Männer in den 30er und 40er Jahren überschritten gehabt, die von normalen Lebensbedingungen
ausgeht. Unter Zugrundelegung der Verhältnisse eines sowjetischen Zwangsarbeitslagers erscheint es
ausgeschlossen, daß er dieses Alter erreicht haben kann. Dagegen sprechen vorliegend – bedauerlicherweise –
sämtliche Umstände, welche in die Betrachtung einzubeziehen waren. Selbst wenn sie indessen außer Acht gelassen
würden, zeigte sich kein anderes Ergebnis. Denn nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast sind die
anspruchsbegründenden Tatsachen von demjenigen zu belegen, welcher sich darauf beruft. Sind sie nicht beweisbar,
muß das zu Lasten des Antragstellers, hier der Klägerin, gehen.
Hiernach war der Berufung des Beklagten mit der Kostenfolge des § 193 SGG stattzugeben.