Urteil des LSG Hessen vom 02.04.2017

LSG Hes: mangel des verfahrens, stationäre behandlung, unfallfolgen, unterricht, rechtsmittelbelehrung, schule, vollrente, minderung, ermessen, versicherungsträger

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 11.02.1976 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 557/75
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Februar 1975 bezüglich der
Rentengewährung für die Zeit ab 27. März 1972 abgeändert und die Klage insoweit abgewiesen.
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Nach der Unfallanzeige des Gymnasiums in W. erlitt der 1956 geborene Kläger am 22. Januar 1972 in der Sportstunde
beim Sprung über das Pferd eine Fraktur des rechten Ellenbogengelenks. Zur operativen Versorgung befand er sich
bis zum 8. Februar 1972 in der Universitätsklinik in H. Am 23. Februar 1972 besuchte er wieder die Schule und am 26.
März 1973 wurde der Gipsverband abgenommen. Der Kläger stand auch in der Folgezeit bis zum 11. April 1972 in
ambulanter Behandlung und wurde vom 6. bis 22. Dezember 1972 erneut stationär nur intensiven
krankengymnastischen Übungsbehandlung aufgenommen. Nach dem Gutachten von Priv. Dozent Dr. med. R. und Dr.
med. T. (Orthopädische Universitätsklinik in H.) wurde der rechte Arm – der Kläger ist Rechtshänder – in einer
leichten Adduktionshaltung im Schultergelenk sowie in einer Beugehaltung von 160 Grad im Ellenbogengelenk
gehalten. Hinsichtlich der Schulter- und Oberarmmuskulatur bestanden keine Seitendifferenzen; die Hauttemperatur
war im Bereich der oberen Extremitäten seitengleich. An der Außenseite des rechten Ellenbogengelenkes fand sich
eine längs verlaufende, etwa 15 cm lange Narbe, die im mittleren Bereich deutlich verbreitert und mit Keloid versehen
war. Die Ellenbogengelenkskonturen waren etwas verplumpt und über dem Epicondyluß ulnaris bestand eine leichte
Druckempfindlichkeit. Bei Bewegung im rechten Schultergelenk war ein deutliches Knorpelreiben wahrnehmbar, wie
auch die Unterarmmuskulatur rechts gegenüber links geringgradig vermindert war. Die Hohlhandbeschwielung war
rechts etwas vermindert, wie auch die grobe Kraft der gleichen Hand. Dagegen bestand freie
Handgelenksbeweglichkeit, Finger- und Daumenspreizung waren aktiv wie passiv möglich, Fingerspitzgriff und
Faustschluß beiderseits durchführbar. Im gesamten Ellenbogenbereich bestand nach der Röntgenaufnahme eine
Minderung des Kalksalzgehaltes. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzten die untersuchenden Ärzte mit
100 v.H. für die Zeit vom 22. Januar 1972 bis 26. März 1973 (soll wohl heißen: 1972) und für die Zeit danach mit 20
v.H. ein. In dem zweiten Rentengutachten vom 11. Januar 1974 hielten Prof. Dr. med. R. und Dr. med. G., H., für das
rechte Ellenbogengelenk eine Streckung/Beugung von 140/70 und für das linke eine solche von 180/35 fest.
Gegenüber dem letzten maßgeblichen Gutachten sei es zu keiner wesentlichen Besserung gekommen.
Durch Bescheid vom 22. Februar 1974 erkannte die Beklagte als Unfallfolgen an: "Zustand nach Bruch des rechten
Oberarmes im Bereich des Ellenbogengelenkes, der unter Verplumpung des körperfernen Endes des Oberarmes fest
durchbaut ist. Bewegungseinschränkung des rechten Ellenbogengelenkes, X-Stellung der Bruchstücke im
Bruchbereich, Verschmälerung des rechten Ellenbogengelenkspaltes. Muskelminderung des rechten Ober- und
Unterarmes,” und gewährte für die Zeit vom 23. Januar bis 22. Februar 1972 eine Unfallrente nach einer MdE um 100
v.H. Dabei ging sie davon aus, daß der Kläger wegen der Unfallfolgen die Schule nicht bis zum 22. Februar 1972 habe
besuchen können. Ab 23. Februar 1972 gewährte sie laufend eine Rente nach einer MdE um 20 v.H.
Gegen den am 22. Februar 1974 zur Post aufgelieferten Bescheid hat der Kläger am 20. März 1974 bei der Beklagten
Klage erhoben, die diese an das Sozialgericht Darmstadt (SG) abgegeben hat. Zur Begründung berief er sich
ergänzend auf ein Schreiben des ärztlichen Direktors der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in L. Dr. med. A.
vom 12. Juli 1974, der aufgrund klinischer und röntgenologischer Untersuchung ausführte, er würde die MdE
wahrscheinlich mit 25–30 v.H. eingeschätzt haben.
Durch Urteil vom 26. Februar 1975 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides vom
22. Februar 1974 verurteilt, die Verletztenrente des Klägers bis zum 26. März 1972 nach einer MdE um 100 v.H. zu
bemessen, ab 27. März bis 23. Dezember 1972 nach einer MdE um 40 v.H. und ab 24. Dezember 1972 nach einer
MdE um 30 v.H. Da der Kläger den rechten Arm im Gipsverband bzw. in einer Oberarmschiene bis zum 26. März
1972 habe tragen müssen, könne die Erwerbsminderung nicht unter 100 v.H. eingeschätzt werden, da dem Kläger für
diesen Zeitraum von 2 Monaten eine Erwerbstätigkeit von wirtschaftlichem Wert nicht zugemutet werden könne. Für
den Zeitraum vom 27. März bis 23. Dezember des gleichen Jahres sei zu berücksichtigen, daß sich vom 8. bis 22.
Dezember eine stationäre Behandlung mit intensiver Krankengymnastik als erforderlich erwiesen habe; im
Zusammenwirken mit der nur allmählich zurückgegangenen Narbenempfindlichkeit sei deshalb eine MdE um 40 v.H.
bis zum 23. Dezember 1972 für notwendig zu erachten. Das SG erteilte die Rechtsmittelbelehrung, daß gegen dieses
Urteil Berufung nur statthaft sei, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt werde und dieser auch
tatsächlich vorliege.
Gegen das ihm am 22. Mai 1975 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 19. Juni 1975 Berufung eingelegt. Das
erstinstanzliche Gericht habe mindestens drei wesentliche Verfahrensfehler begangen. Im Hinblick auf die Anwendung
des § 581 Abs. 1 und Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) auf den Kreis der nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 b RVO
Versicherten hätte das SG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit die Berufung gemäß § 150 Nr. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulassen müssen. Ein weiterer Mangel des Verfahrens bestehe in der unzureichenden
Sachaufklärung (§ 103 SGG). Das SG habe sich über die Einschätzung der MdE in den Gutachten des Prof. Dr. med.
R. vom 28. März 1973 und 11. Januar 1974 (mit 20 v.H.) hinweggesetzt, in dem es die MdE mit 30 v.H. bewertet
habe, und zwar ohne ausreichende Begründung und ohne selbst die erforderliche Sachkunde zu besitzen oder in den
Entscheidungsgründen darzulegen, worauf die eigene Fachkunde beruhe. In dem Verhalten des Gerichtes sei aber
auch ein Überschreiten der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung zu sehen. Weiter liege ein Verstoß gegen
die Erfahrungssätze des täglichen Lebens bzw. gegen Denkgesetze vor. Dieser bestehe darin, daß das SG die
Fortdauer der Erwerbsunfähigkeit bei dem Kläger trotz des Schulbesuches für gegeben erachtet habe. Schließlich sei
der Rechtsstreit nicht durch den gesetzlichen Richter entschieden. Die Sache sei zunächst bei der 4. und dann
plötzlich bei der 5. Kammer bearbeitet worden, ohne daß die Beteiligten hierauf in irgendeiner Weise hingewiesen
worden seien.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichtes Darmstadt vom 26. Februar 1975 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Unfall- und Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist – entgegen der Rechtsmittelbelehrung – statthaft. Sie betrifft zwar
lediglich den Grad der MdE, jedoch hängt die Schwerbeschädigteneigenschaft davon ab, so daß der
Ausschließungsgrund des § 145 Nr. 4 SGG nicht vorliegt. Das SG hat den Beklagten nämlich zur Gewährung von
Verletztenrente nach einer MdE um 100 % bis zum 26. März 1972 verurteilt. Da er sich gegen das Urteil des SG auch
insoweit wendet und dem Kläger nicht entsprechend seinem Schriftsatz vom 2. Oktober 1974 nachträglich für diesen
Zeitraum Rente nach einer MdE um 50 % gewährt hat, ergreift die bezüglich dieses Teilanspruchs statthafte Berufung
einheitlich die gesamte Verurteilung zur Rentengewährung. Die Berufung ist daher insgesamt statthaft.
Sie ist jedoch nur zum Teil begründet, und zwar soweit das SG den Beklagten verurteilt hat, dem Kläger ab 27. März
1972 Rente nach einer höheren MdE als 20 % zu gewähren.
Das SG hat zwar zutreffend die Auffassung vertreten, daß bei Schülerunfällen (§ 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchstabe b
RVO) in Bezug auf die MdE-Festsetzung keine von den allgemeinen Regeln abweichenden Grundsätze gelten. Auch
hier gilt, wie bei allen Versicherten, der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung, wobei die MdE wie bei
Erwachsenen mit gleichen Unfallfolgen zu bewerten ist.
Insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Indem das SG die unfallbedingte MdE ab 27. März 1972
mit 40 % bzw. 30 % festsetzte, hat es sich jedoch ohne hinreichende Begründung über die Bewertung des Prof. Dr.
R. in dessen Gutachten vom 11. Januar 1974 hinweggesetzt. Ärztliche Schätzungen des MdE-Grades sind zwar
weder für die Versicherungsträger noch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bindend, wohl aber bedeutsame
Anhaltspunkte, von denen abzuweichen nur gerechtfertigt ist, wenn dies unter Berücksichtigung aller Einzelumstände
nach der Lebenserfahrung geboten ist (vgl. u.a. BSG 4, 147). Die gleichmäßige Behandlung aller Unfallverletzten
erfordert es dabei auch, daß Bewertungsmaßstäbe herangezogen werden, denen im Schrifttum und Rechtsprechung
allgemeine Bedeutung beigemessen wird. Das SG hat demgegenüber den MdE-Grad losgelöst hiervon nach eigenem
Ermessen bewertet.
Für den Dauerzustand am rechten Arm des Klägers hat Prof. R. in seinem Gutachten vom 11. Januar 1974 zutreffend
einen MdE-Grad von 20 % geschätzt. Der Oberarmbruch ist nämlich fest ausgeheilt, allerdings unter Verplumpung
des körperfernen Oberarmendes mit einer leichten X-Fehlstellung im Bruchbereich. Wesentlich für die MdE-Bildung ist
aber die Funktionsbeeinträchtigung des rechten Armes, die im wesentlichen durch eine Bewegungseinschränkung im
rechten Ellenbogengelenk verursacht wird, während die Beweglichkeit in den Hand- und Fingergelenken sowie die
Armbeweglichkeit gegenüber links nicht abweicht. Das Ellenbogengelenk konnte rechts bis 140° (links 180°)
gestreckt und bis 70° (links 55°) gebeugt werden. Die Restbeweglichkeit dieses Gelenkes beträgt daher mehr als 45–
90°, wofür bei Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, 5. Auflage, S. 66, ein MdE-Grad von 20 % angenommen wird.
Der Kläger kann seinen rechten Arm noch wesentlich benutzen, so daß ein MdE-Grad von 30 % nicht zu rechtfertigen
ist. Das gilt umsomehr für die vom SG ausgesprochene Verurteilung des Beklagten zur Rentenzahlung nach einer
MdE um 40 % für die Zeit vom 27. März bis 23. Dezember 1972. Das SG hat diese Bewertung damit begründet, der
Kläger sei vom 8. bis 22. Dezember 1972 stationär krankengymnastisch behandelt worden. Eine vermehrte
Funktionsbeeinträchtigung hat es jedoch nicht festgestellt. Auch die als weiterer Grund angeführte "allmählich
zurückgehende Narbenempfindlichkeit” war unter diesem ausschlaggebenden Gesichtspunkt nicht geeignet, den MdE-
Grad zu erhöhen.
Im übrigen, d.h. in Bezug auf die Verurteilung zur Gewährung der Vollrente bis zum 26. März 1972, dem Zeitpunkt der
Abnahme des Gipsverbandes, ist die Berufung dagegen unbegründet. Der Kläger konnte in diesem Zeitraum zwar am
Unterricht teilnehmen, jedoch keine schriftlichen Arbeiten verrichten. Die Ansicht des Beklagten, in diesem Falle dürfe
nicht wie beim krankheitsbedingten Fernbleiben vom Unterricht die Vollrente gewährt werden, geht fehl. Wie bereits
oben ausgeführt wurde, gelten hinsichtlich der MdE-Festsetzung bei Schülern die gleichen Grundsätze wie bei
Erwachsenen, d.h. die MdE bemißt sich abstrakt nach der Arbeitsmöglichkeit, die nach dem Unfall verbleiben würde,
wenn sie dem Arbeitsmarkt bereits zur Verfügung stünden; Auswirkungen des Unfalls auf die besondere erzieherische
und schulische Situation bleiben dabei unberücksichtigt (so auch Rundschreiben Nr. 78/74 der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand e.V.). Da ein Versicherter mit einem
Oberarmgips aber keine Arbeiten von nutzbringendem Wert verrichten kann, ist die unfallbedingte MdE entsprechend
dem Gutachten des Prof. Dr. R. vom 28. März 1975 für den genannten Zeitraum mit 100 % zu bewerten. Die
Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, die über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2
SGG.