Urteil des LSG Hessen vom 04.08.1994

LSG Hes: vernehmung von zeugen, rechtshilfeersuchen, rechtshilfegesuch, gerichtsverfassungsgesetz, auflage, bindungswirkung, anhörung

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 04.08.1994 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt
Hessisches Landessozialgericht L 2 B 43/94
Der Beschluss der 16. Kammer des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 30. März 1994 wird aufgehoben. Es wird
festgestellt, daß der ersuchte Richter verpflichtet ist, dem Rechtshilfegesuch des Landessozialgerichts Nordrhein-
Westfalen vom 21. Februar 1994 zu entsprechen.
Gründe:
In dem Rechtsstreit M. J. A. gegen Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz (Az.: ) ersuchte das
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen durch Beweisbeschluß vom 21. Februar 1994 das Sozialgericht Frankfurt am
Main um die Vernehmung von Zeugen im Wege der Rechtshilfe ohne Aktenübersendung. Mit Beschluss vom 30.
März 1994 lehnte die 16. Kammer des Sozialgerichts Frankfurt am Main das Rechtshilfegesuch ab. Zur Begründung
seiner Entscheidung führte es im wesentlichen aus, das Rechtshilfeersuchen sei rechtswidrig. Es verstoße gegen §
375 Abs. 1 und Abs. 1 a Zivilprozeßordnung (ZPO). Das Rechtshilfeersuchen verstoße auch gegen Artikel 101 Abs. 1
Satz 1 Grundgesetz (GG), da das Landessozialgericht die eigentliche Arbeitsleistung des Berufungsverfahrens,
nämlich die Beweisaufnahme als Kernstück der wahrheitsfindenden Bemühungen des Gerichts, einem Untergericht
übertrage, wobei es damit auch seine Geringschätzung der klägerischen Rechtsverfolgung zum Ausdruck bringe. Das
Rechtshilfeersuchen erweise sich auch insoweit als rechtswidrig, als dem ersuchten Gericht eine Vernehmung ohne
jede Aktenübersendung zugemutet werde. Ein bloßes Aufschreiben der Erzählungen der Zeugen verstoße gegen den
Sinngehalt der §§ 378, 396, 397 und 400 ZPO. Da das Ersuchen rechtswidrig sei, sei es abzulehnen. Dem stehe §
158 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) nicht entgegen, da seine tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen entfallen
seien. Es gehe nicht an, daß der Gesetzgeber § 375 ZPO immer mehr verschärfe und konkretisiere, auf dem Umweg
der Anwendung des § 158 GVG diese gesetzlichen Regelungen dann aber wieder außer Kraft gesetzt würden.
Der gegen den Beschluss am 2. Mai 1994 vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegten Beschwerde, der
nunmehr die Akten des Rechtsstreits M. J. A. gegen die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz beigefügt waren,
hat das Sozialgericht nicht abgeholfen.
Wegen der Einzelheiten im übrigen wird auf die Beschwerde- und Rechtshilfeakte sowie auf die Gerichtsakten M. J.
A. gegen die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz, welche vorgelegen haben, Bezug genommen.
Die Beschwerde ist zulässig und auch sachlich begründet.
Das Sozialgericht ist verpflichtet, dem Rechtshilfegesuch des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zu
entsprechen.
Nach § 158 Abs. 1 GVG, der nach § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für die Sozialgerichtsbarkeit entsprechend gilt,
darf ein Rechtshilfeersuchen nicht abgelehnt werden. Dabei gilt das Verbot, ein Rechtshilfeersuchen abzulehnen,
uneingeschränkt und absolut für Ersuchen eines im Rechtszug vorgesetzten Gerichts. Da das Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen jedoch nicht das vorgesetzte Gericht des Sozialgerichts Frankfurt am Main ist, kann das
Ersuchen unter den Voraussetzungen des § 158 Abs. 2 GVG abgelehnt werden. Danach ist das Ersuchen eines nicht
im Rechtszuge vorgesetzten Gerichts abzulehnen, wenn die vorzunehmende Handlung nach dem Recht des
ersuchten Gerichts verboten ist. Verboten ist ein Rechtshilfeersuchen, wenn die vorzunehmende Handlung
schlechthin unzulässig ist (vgl. Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, Kommentar, 2. Auflage, § 158 Rdnr. 10 m.w.H.).
Als rechtlich unzulässig und damit als verboten wird eine Handlung angesehen, wenn sie mit zwingenden
rechtsstaatlichen Grundsätzen im Widerspruch stehen würde oder gegen Verfassungsgrundsätze verstieße, wenn die
Handlung in Verfahrensvorschriften nicht vorgesehen ist, wenn die Anhörung und Vernehmung von Personen nach
dem Gesetz der entscheidende Richter persönlich vorzunehmen hat oder wenn das Rechtshilfeersuchen
rechtsmißbräuchlich ist. Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen ist das Rechtshilfegesuch des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen nicht verboten; insbesondere liegt kein Verstoß gegen
Verfahrensvorschriften oder gesetzliche Bestimmungen vor, die das Gesuch schlechthin unzulässig machen. Nicht
von Bedeutung für das ersuchte Sozialgericht ist vorliegend, ob das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
möglicherweise gegen die Vorschrift des § 375 ZPO verstoßen hat. Von dem ersuchten Gericht kann nur die
Zulässigkeit der vorzunehmenden Handlung überprüft werden, nicht aber die Einhaltung von Prozeßvorschriften durch
das ersuchende Gericht (Baumbach/Lauterbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 52. Auflage, § 158 mit
Gerichtsverfassungsgesetz – GVG – Rdnr. 3). Demzufolge können die vom Sozialgericht vorgetragenen Zweifel an
der rechtlichen Zulässigkeit des Rechtshilfegesuchs nicht dazu führen, die Bindungswirkung des § 158 Abs. 1 GVG
aufzuheben.
Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).