Urteil des LSG Hessen vom 14.03.2017

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 14.10.1970 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 389/69
1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 20. Februar 1969 sowie die
Bescheide der Beklagten vom 26. April 1965 und 4. Februar 1966 aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger nach Zahlung der Abfindungssumme in Höhe von 8.286,08 DM ab 1. April
1965 die Unfallrente nach einer MdE um 40 % wieder zu gewähren.
3. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Verfahrenskosten zu erstatten.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger erhielt von der Beklagten seit dem Jahre 1947 eine Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) um 40 % wegen "Amputation des Linken Fusses oberhalb des Fußgelenkes und Senkfuß rechts”. Mit Bescheid
vom 15. September 1955 wurde ihm auf seinen Antrag eine Kapitalabfindung zum Kauf eines Grundstückes bzw. zur
Teilfinanzierung eines Bauvorhabens in Höhe der 12,10 fachen Jahresrente in Höhe von insgesamt 8.286,08 DM
gewährt.
Am 16. März 1965 beantragte der Kläger, ihm die Unfallrente gegen Rückzahlung des Abfindungskapitals wieder zu
gewähren, weil er das seinerzeit erworbene Haus wegen eines aus gesundheitlichen Gründen erforderlichen
Wohnungswechsels verkauft habe. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 26. April 1965 ab, weil sie
allenfalls die Wiederzahlung der Rente gegen Rückzahlung des jetzt zu errechnenden Kapitalbetrages vornehmen
könne, der Kläger aber nur die ihm gezahlte Abfindungssumme zurückzahlen wolle.
Nachdem seinem hiergegen eingelegten Widerspruch mit Bescheid vom 4. Februar 1966 nicht abgeholfen worden war,
erhob der Kläger am 25. Februar 1966 beim Sozialgericht Darmstadt Klage. Er trug u.a. vor, die Ablehnung seines
Antrages stellte für ihn eine unbillige Härte dar. Er leide an einer Angina pectoris, habe einen Herzinfarkt überstanden
und erhalte nur eine monatliche Sozialrente in Höhe von 382,– DM. Aus gesundheitlichen Gründen sei er gezwungen
gewesen, sein Haus in R. im Jahre 1965 zu verkaufen und in den Odenwald zu verziehen, wo er ein Hausgrundstück
erworben habe.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 20. Februar 1969 abgewiesen. Es entspreche den Grundsätzen der
Abfindung, daß der Versicherungsträger vom Abgefundenen ein Kapital zurückerhalte, das dem Wert der wieder
auflebenden Rente zur Zeit ihres Wiederbeginns entspreche. Der Beklagten stehe auch ohnedies angesichts des seit
der Auszahlung des Abfindungsbetrages eingetretenen Wertgefälles nach Treu und Glauben ein Ausgleichsanspruch
bei der Rückzahlung des Abfindungsbetrages und Wiedergewährung der Unfallrente zu. Allerdings stelle diese
Entscheidung eine Härte für den Kläger dar, weil er nach den im Jahre 1955 geltenden Vorschriften abgefunden
worden sei. Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.
Gegen das ihm am 5. März 1969 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. April 1969 (Dienstag nach Ostern) Berufung
eingelegt. Er trägt u.a. vor, das angefochtene Urteil habe zu Unrecht zugunsten der Beklagten den Begriff von Treu
und Glauben angewandt, obwohl die Anwendung dieses Begriffes gerade dazu gezwungen hätte, der Klage
stattzugeben. Die Verweigerung der Wiederzahlbarmachung der Unfallrente bedeute für ihn eine Härte, die weder mit
dem alten Recht, insbesondere der 2. Verordnung über die Abfindung von Unfallrenten vom 10. Februar 1928, noch
unter den Gesichtspunkten des jetzt geltenden Rechts nach Treu und Glauben aufrecht erhalten werden könne.
Soweit in dem angefochtenen Urteil auf den Schwund der Kaufkraft der Deutschen Mark abgestellt worden sei, habe
er es nicht zu vertreten, wenn es vom Gesetzgeber nach 1928 unterlassen worden sei, seine damaligen Vorstellungen
zu ändern. Zum Zeitpunkt der Abfindung habe die Rente 56,– DM im Monat betragen, während er inzwischen eine
solche von monatlich 230,– DM erhalten würde. Schon aus diesen Gründen verbiete es sich, unter Heranziehung des
Begriffes von Treu und Glauben die seit 1928 bestehende Rechtslage zugunsten der Beklagten auszulegen.
Er beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 20. Februar 1969 sowie die Bescheide der Beklagten vom
26. April 1965 und 4. Februar 1966 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm nach Zahlung der Abfindungssumme in
Höhe von 8.286,08 DM die Unfallrente ab 1. April 1965 nach einer MdE um 40 % wieder zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt u.a. vor, es sei ein Grundsatz der Abfindung, daß der Versicherungsträger bei einer Rückzahlung der
Abfindungssumme und einem Wiederaufleben der Rente vom Abgefundenen ein Kapital zurückerhalte, das dem Wert
der wieder auflebenden Rente zur Zeit ihres Wiederbeginns entspreche. Der Kläger könne nicht verlangen, bei der
Gewährung von Leistungen – insbesondere des Abfindungskapitals – die Anpassung zu berücksichtigen, sie aber
unberücksichtigt zu lassen, wenn er das Kapital zurückzahlen wolle, um die angepaßte Rente wieder zu erhalten. Es
sei nicht berechtigt, von angeblichen Einsparungen der Beklagten auszugehen. Ein Verstoß gegen Treu- und Glauben
sei in ihrem Verhalten nicht zu erblicken. Vielmehr habe der Kläger das Abfindungskapital eigenwirtschaftlich nutzen
können und er müsse nunmehr von den öffentlich–rechtlichen Leistungsbasen ausgehen, wenn er eine
dementsprechende Leistung für die Zukunft wieder erhalten wolle. In der mündlichen Verhandlung am 14. Oktober
1970 hat die Beklagte auf Befragen erklärt, die Wiederbewilligung der durch Abfindung erloschenen Rente sei nur
deshalb abgelehnt worden, weil der Kläger lediglich die ihm seinerzeit gezahlte Abfindungssumme von DM 8.286,08
und nicht die von ihr für den Zeitpunkt der Rückzahlung mit rund 27.000,– DM errechnete Abfindung zahlen wolle.
Die Beklagte hat dem Kläger mit Schreiben vom 25. Juni 1969 mitgeteilt, in der Zeit vom 1. November 1955 bis 31.
Juli 1969 hätte sie an ihn ohne die Abfindung Rentenbezüge in Höhe von 27.234,50 DM zahlen müssen, so daß die
Differenz gegenüber der 8.286,08 DM betragenden Abfindungssumme 18.948,42 DM betrage.
Im übrigen wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten (2 Bände) sowie der Gerichtsakte Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.
Sie ist auch begründet. Die Beklagte hat die Wiedergewährung der Unfallrente gegen Rückzahlung der
Abfindungssumme zu Unrecht abgelehnt.
Das Sozialgericht ist zutreffend – allerdings ohne Begründung – von der in § 10 der Zweiten Verordnung betr. die
Abfindungen von Unfallrenten vom 10. Februar 1928 (RGBl. I S. 22) enthaltenen Bestimmung ausgegangen, und nicht
von § 611 RVO in der Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG). Letztere Bestimmung gilt
zwar auch für Arbeitsunfälle, die sich vor dem 1. Juli 1963 ereignet haben, ist aber nur anzuwenden, wenn die
Abfindung nach dem 30. Juni 1963 erfolgt ist. Wenn ein nach der Verordnung vom 10. Februar 1928 abgefundener
Verletzter die Rente wieder beziehen will, sind somit weiterhin die darin enthaltenen Bestimmungen maßgebend (vgl.
die Bundestagsdrucksache IV/120 zu §§ 604 bis 610, Abs. 4; Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 15 zu § 607
RVO). Nach § 10 Abs. 1 a.a.O. kann dem Abgefundenen auf Antrag die durch die Abfindung erloschene Rente gegen
Rückzahlung der Abfindungssumme wieder bewilligt werden, wenn er zur Erlangung einer anderen Erwerbsmöglichkeit
das Grundstück weiterveräußert oder wenn andere wichtige Gründe vorliegen. Da die Beklagte berechtigt ist, nach
ihrem Ermessen zu handeln, ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses
Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden
Weise Gebrauch gemacht ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Beklagte lehnt die Wiederbewilligung der durch die
Abfindung erloschenen Rente nur deshalb ab, weil der Kläger die von ihr für den Zeitpunkt der Rückzahlung mit rund
27.000,– DM berechnete Abfindungssumme nicht zu zahlen bereit ist. Er will nur den im September 1955 erhaltenen
Abfindungsbetrag in Höhe von 8.286,08 DM zurückzuzahlen.
Nach Auffassung des erkennenden Senats verstößt die Auslegung des Begriffs "Abfindungssumme” durch die
Beklagte eindeutig gegen die Bestimmung des § 10 a.a.O. Begrifflich ist darunter nur der Geldbetrag zu verstehen,
der dem Versicherten tatsächlich ausgezahlt worden ist, was sich aus der gleichlautenden Verwendung dieses
Ausdrucks u.a. auch in den §§ 6 und 7 a.a.O. ergibt, die sich auf die Rückforderung der Abfindungssumme beziehen.
Nach § 7 Abs. 1 a.a.O. "kann – wenn der Zweck der Abfindung verteilt wird – die Abfindungssumme” zurückgefordert
und nach § 7 Abs. 2 a.a.O. zur Sicherung der Rückzahlung "der Abfindungssumme” die Eintragung einer
Sicherungshypothek verlangt werden. Es kann sich auch hier nur um den Betrag handeln, der dem Versicherten im
Zeitpunkt der Auszahlung der Abfindungssumme tatsächlich zugeflossen ist.
Auch aus § 7 Abs. 3 a.a.O., der in § 10 a.a.O. für entsprechend anwendbar erklärt ist, folgt, daß die Auffassung der
Beklagten unrichtig ist. Danach kann die Verpflichtung zur Rückzahlung sich sogar auf einen niedrigen Betrag als die
Abfindungssumme beschränken, sofern der Betrag, auf den die Abfindungssumme festzusetzen wäre, wenn der
Abgefundene im Zeitpunkt der Rückzahlung abgefunden würde, niedriger als die Abfindungssumme ist. Dagegen ist
eine Erhöhung der Rückzahlung nicht bestimmt worden.
Die Richtigkeit der hier vertretenen Auffassung ergibt sich auch aus der amtlichen Begründung zu der Verordnung
vom 10. Februar 1928. Dort heißt es nämlich:
"Wird die Abfindungssumme zurückgefordert und lebt damit die Rente wieder auf, so entspricht es den Grundsätzen
der Abfindung, daß der Versicherungsträger vom Abgefundenen ein Kapital zurückerhält, das dem Werte der wieder
auflebenden Rente zur Zeit ihres Wiederbeginns entspricht. Auch dieser Wert muß nach der Abfindungstabelle unter §
1 I der Verordnung über die Abfindungen für Unfallrenten vom 14. Juni 1926 (RGBl. I S. 269) – die gemäß § 4 des
Entwurfs zur Anwendung kommt – berechnet werden. Er kann höher oder niedriger sein als der Kapitalwert der Rente
zur Zeit der Abfindung. Nach § 7 Abs. 3 des Entwurfs soll jedoch der im Zeitpunkt der Rückzahlung maßgebende
Kapitalwert nur gefordert werden dürfen, wenn er niedriger ist als die empfangene Abfindungssumme. In den anderen
Fällen ist ein Betrag in Höhe des empfangenen Abfindungskapitals zurückzuzahlen”.
Es ist auch begrifflich nicht möglich, die "Rückzahlung” einer Geldsumme zu verlangen, die überhaupt nicht gezahlt
worden ist. Wenn der Gesetzgeber bei der Schaffung der Verordnung vom 10. Februar 1928 beabsichtigte, den bei der
Wiedergewährung der Rente vom Versicherten zu zahlenden Geldbetrag in jedem Fall entsprechend der Höhe der bis
dahin ohne die Abfindung zu zahlenden Rentenbeträge variabel zu gestalten, hätte er dies zum Ausdruck bringen
müssen und nicht von der "Rückzahlung der Abfindungssumme” sprechen dürfen. Zumindest hätte es in der Zeit bis
zum 1. Juli 1963 im Hinblick auf die wiederholte Erhöhung der Unfallrenten einer entsprechenden Abänderung des §
10 a.a.O. bedurft. Auch daraus, daß dies nicht geschehen ist, muß gefolgert werden, daß der Versicherte, dem die
Rente wieder gewährt werden soll, lediglich die ihm ausgezahlte Abfindungssumme zurückzuzahlen hat und nicht
verpflichtet ist, einen Geldbetrag zu leisten, für dessen Errechnung es keine gesetzliche Grundlage gibt.
Schließlich ergibt sich auch aus der durch das UVNG erfolgten Neuregelung der Abfindungsrückzahlung die
Unrichtigkeit der Ansicht der Beklagten. Nach § 612 RVO richtet sich die zurückzuzahlende Abfindungssumme nur
nach der seit der Abfindung verflossenen Zeit, nicht jedoch (auch) nach den der Abfindung folgenden
Rentenerhöhungen. Auch der Gesetzgeber des UVNG hat also in Kenntnis der steigenden Unfallversicherungs-
Altrenten nicht bestimmt, daß sich die zurückzuzahlende Abfindungssumme entsprechend den Rentensteigerungen
erhöht. Er spricht in § 611 Abs. 2 RVO ebenfalls nur von der "Rückzahlung der Abfindungssumme”.
Die Beklagte weist zwar zu Recht daraufhin, daß der Kläger die im Jahre 1955 erhaltene Abfindungssumme in
Grundbesitz anlegte, der in der Zwischenzeit eine Wertsteigerung erfahren hat. Anderseits hat sie keine Rente gezahlt
und damit einschließlich der seither eingetretenen Rentenerhöhungen 18.948,42 DM eingespart. Entscheidend ist, daß
es für die Forderung der Beklagten an einer Anspruchsgrundlage fehlt und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht
berechtigt sind, insoweit neues Recht zu setzen und damit Rechtspolitik zu betreiben, die im Widerspruch zu dem
erklärten Willen des Gesetzgebers stehen würde.
Die Ansicht der Beklagten ist auch – soweit ersichtlich – weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum vertreten
worden. Bei Lauterbach (Unfallversicherung, Anm. 6 zu § 618 a RVO) heißt es, wenn eine erloschene Rente auf
Antrag wieder gewährt werde, sei die Abfindungssumme in Höhe des seinerzeit erhaltenen Nennbetrages
zurückzuzahlen.
Nach alledem ist der Kläger gemäß § 10 a.a.O. nur verpflichtet, die ihm gewährte Abfindung in Höhe von 8.286,08 DM
an die Beklagte zurückzuzahlen.
Die Wiedergewährung der Rente nach dieser Bestimmung stellt zwar nur eine in das pflichtgemäße Ermessen der
Beklagten gestellte sogenannte Kannleistung dar. Da aber die Beklagte die Wiedergewährung der Rente nur deshalb
abgelehnt hat, weil der Kläger nicht bereit ist, mehr als die erhaltene Abfindungssumme zurückzuzahlen, diese
Auffassung aber unzutreffend ist, bleibt für sie nur eine ermessensfreie Entscheidung, so daß der Senat nach
Aufhebung der den Kläger belastenden Verwaltungsakte die Beklagte zur Bewilligung der Ermessensleistung
verurteilen durfte (BSG 2, 148; 7, 49; 9, 239), und zwar zur Wiedergewährung der Rente – nach Zahlung der
erhaltenen Abfindungssumme – ab 1. April 1965. Nach § 22 a.a.O. lebt die durch Abfindung erloschene Rente zwar
mit Wirkung vom Anfang des Monats wieder auf, in dem die Abfindungssumme zurückgezahlt ist. Der Kläger hat
jedoch der Beklagten gegenüber bereits am 9. April 1965 schriftlich erklärt, das Abfindungskapital stehe ihr jederzeit
zur Verfügung. Daß es nicht bereits damals zur Rückzahlung der Abfindungssumme und Wiedergewährung der Rente
kam, ist nur auf das Verhalten der Beklagten zurückzuführen, die eine unrichtige Rechtsauffassung vertritt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.