Urteil des LSG Hessen vom 09.03.1994

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 09.03.1994 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 6 Kn 850/92 U
Hessisches Landessozialgericht L 8 Kn 92/93 U
Bundessozialgericht B 8 RknU 1/94
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 8. Dezember 1992 und der Bescheid
der Beklagten vom 18. Dezember 1991 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des
Arbeitsunfalles vom 28.10.1991 Verletztenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Verkehrsunfalles als Wegeunfall.
Der 1970 geborene Kläger war als Kraftfahrzeugschlosser unter Tage in der der beschäftigt. Am 28. Oktober 1991
nach Ende seiner Mittagsschicht verunglückte der Kläger um 22.30 Uhr auf dem Weg zur Nachttankstelle mit seinem
Personenkraftwagen und zog sich eine Querschnittlähmung zu. Aufgrund der Unfallanzeige vom 11. November 1991
befragte die Beklagte den Sicherheitsingenieur, ein Betriebsratsmitglied und den Obersteiger (Vater des Klägers) zu
dem Unfallereignis. Danach ergab sich, daß dem Kläger während seiner Mittagsschicht am 28. Oktober 1991
mitgeteilt worden war, daß er am nächsten Tag um 6.00 Uhr morgens Frühschicht fahren müsse. Der Kläger habe
deshalb nicht mehr, wie von ihm vorgesehen, am Morgen des 29. Oktobers in seinem Heimatort tanken können. Da
sein Tankanzeiger aber schon seit längerer Zeit auf rot gestanden habe, habe er versucht, noch am gleichen Abend
an der Automatentankstelle in , ca. 2 Km von der Arbeitsstelle entfernt, in Gegenrichtung zu seinem Heimatort, zu
tanken. Da diese nicht funktioniert habe, habe er zur Nachttankstelle nach fahren wollen. Auf dem Wege dorthin habe
er bei auf der Kreisstraße 17 wegen eines Wildtieres bremsen müssen und sei dadurch ins Schleudern geraten.
Mit Bescheid vom 18. Dezember 1991 lehnte es die Beklagte ab, den Unfall als Arbeitsunfall im Sinne des § 550
Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen. Das Betanken des privaten Kraftfahrzeuges sei grundsätzlich als
eigenwirtschaftliches Handeln zu werten. Nur wenn unerwartet bei Antritt oder während der Fahrt von oder zum
Arbeitsplatz sich die Notwendigkeit zum Tanken ergebe, könne für einen Umweg zur Tankstelle Versicherungsschutz
anerkannt werden. Diese Voraussetzung läge nicht vor, weil der Kläger schon längere Zeit im roten Bereich der
Tankanzeige gefahren sei. Im übrigen sei auch der Weg zur Nachttankstelle in um ein vielfaches weiter gewesen, als
der Heimweg und der Anweg am nächsten Morgen.
Den Widerspruch vom 9. Januar 1992 legte die Beklagte am 10. August 1992 dem Sozialgericht Gießen als Klage
vor. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 8. Dezember 1992 die Klage mit der gleichen Begründung wie im Bescheid
zurückgewiesen.
Gegen das ihm am 4. Januar 1993 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. Februar 1993 Berufung beim Hessischen
Landessozialgericht eingelegt. Der Senat hat den Kläger persönlich und den Vater des Klägers, als Zeuge angehört.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 9. März 1994 verwiesen.
Der Kläger trägt zusätzlich zum bisherigen Vorbringen noch vor, daß er als Führerscheinneuling nicht habe
einschätzen können, wie lange er mit dem erst drei Monate alten Pkw noch habe fahren können. Subjektiv sei er der
Ansicht gewesen, das abendliche Tanken sei notwendig gewesen, um am nächsten Tag seine Arbeitsstelle zu
erreichen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 8. Dezember 1992 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 18. Dezember 1991 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalles vom 28. Oktober
1991 Verletztenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte, die das erstinstanzliche Urteil für zutreffend hält, beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere
den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung (§§ 143, 145, 151 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG– i.V.m. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Gesetz zur
Entlastung der Rechtspflege vom 19. Januar 1993, BGBl. I 1993, S. 50, 56) ist sachlich begründet. Der angefochtene
Bescheid vom 18. Dezember 1991 und das Urteil des Sozialgerichts sind aufzuheben. Der Unfall, den der Kläger am
28. Oktober 1991 erlitten hat, ist ein Arbeitsunfall, für den die Beklagte Versicherungsleistungen zu gewähren hat.
Nach § 550 RVO i.V.m. § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch der Unfall auf dem Weg nach und von dem
Ort einer Tätigkeit, die auf einem Arbeitsverhältnis beruht. Findet der Unfall anläßlich einer bestimmten Tätigkeit auf
dem Arbeitswege statt, so ist für den Versicherungsschutz entscheidend, ob diese Tätigkeit dem Unternehmen
dienlich ist. Dabei kommt es nicht auf objektive Gesichtspunkte an, sondern es ist ausreichend, daß ein Versicherter
von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein kann, im Interesse des Unternehmens zu handeln. Dies gilt auch für
die Beurteilung der Frage, ob das Auftanken eines Kraftfahrzeuges während des Weges von oder zum Arbeitsort zum
unversicherten persönlichen Lebensbereich gehört oder den Schutz des § 550 RVO genießt. Einen brauchbaren
Anhaltspunkt für die Betriebsbezogenheit sieht die Rechtsprechung in der unvorhergesehenen Notwendigkeit bei
Antritt oder während der Fahrt zum Arbeitsort zu Tanken. Ein Versicherter kann von dieser Notwendigkeit dann
ausgehen, wenn während oder bei Antritt der Fahrt der Zeiger der Benzinuhr im roten Bereich steht (ständige
Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteil vom 24. Mai 1984 – 2 RU 3/83 und Urteil vom 14. Dezember 1978 in SozR 2200
§ 550 RVO Nr. 39 m.w.N.).
Diese von der Rechtsprechung erarbeiteten Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle gegeben. Als der Kläger am
Abend des 28. Oktober 1991 die Anweisung bekam, am nächsten Morgen um 6.00 Uhr zur Frühschicht zu kommen,
befand sich nach seinen glaubhaften und von der Beklagten nicht bestrittenen Angaben die Tankanzeige im roten
Bereich. Seit wann dies der Fall war, weiß der Kläger nicht mehr. Darauf kommt es hier jedoch auch nicht an, denn
die unvorhersehbare Notwendigkeit zu Tanken ergab sich für den Kläger nicht unmittelbar daraus, daß er mit der
Tankreserve fuhr. Er war davon ausgegangen, daß der Tankinhalt jedenfalls noch für die Rückfahrt ausreichen würde,
neu Auftanken wollte er am nächsten Morgen. Dieses Vorhaben war jedoch wegen des geänderten Arbeitsbeginnes
am nächsten Tag nicht mehr durchzuführen. Das noch vorhandene Benzin im Reservetank mußte deshalb nicht nur
für die Heimfahrt am Abend des 28. Oktobers 1991, sondern auch für den Weg zu und von der Arbeitsstelle am
nächsten Tag reichen. Da die Verlegung der Schicht für den Kläger unerwartet kam und er nun befürchten mußte, für
den nächsten Tag nicht mehr genügend Benzin zu haben, konnte er davon ausgehen, daß das Nachtanken am
gleichen Abend unternehmensdienlich war. Der Weg zur nächsten Tankstelle nach war somit versichert.
Nachdem die dortige Automatentankstelle nach dem glaubhaften und von der Beklagten nicht widersprochenen
Vorbringen des Klägers versagte, entschloß er sich, zur dann nächsten Nachttankstelle an der Autobahnausfahrt in zu
fahren. Er wählte dazu die Kreisstraße 17, auf der es mit 20 Km genauso weit ist, wie auf der Bundesstraße 62.
Dieser Weg war objektiv nicht notwendig, er war jedoch nach Auffassung des Senats ebenfalls versichert. Der Kläger
hätte am gleichen Abend noch 7 Km bis zu seinem Heimatort zurücklegen müssen. Am nächsten Tag hätte er für den
Hin- und Rückweg zur Schachtanlage nochmals 10 Km benötigt, insgesamt also 17 Km. Wenn er auf dem Rückweg
die Möglichkeit gehabt hätte, dann in tanken, wäre von 14 noch zurückzulegenden Km auszugehen. Der Weg zur
Tankstelle in war also länger als der, den er am nächsten Tag bis zur Tankmöglichkeit nach Arbeitsende
zurückzulegen hatte. Diese mit Hilfe einer Straßenkarte angestellten Überlegungen mußten sich jedoch in der
konkreten Situation am Abend des 28. Oktober 1991 dem Kläger nicht aufdrängen. Die unerwartete und plötzliche
Verlegung der Schicht, die ihm gerade acht Stunden Ruhezeit gewährte, und die Befürchtung, am nächsten Tag liegen
zu bleiben, lassen seinen Entschluß, die Tankstelle in aufzusuchen, nachvollziehbar erscheinen, auch wenn dies
objektiv nicht notwendig war. Die Entfernungsunterschiede weichen nicht so gravierend voneinander ab, als daß das
Verhalten des Klägers als schlechterdings unverständlich zu beurteilen wäre. Eine weitgehende Anknüpfung an die
nur subjektiv empfundene Betriebsbezogenheit dient, wie das Bundessozialgericht im Urteil vom 14. Dezember 1978
(a.a.O.) entschieden hat, der Rechtssicherheit, weil es die Unübersichtlichkeit einer Vielzahl von
Einzelfallentscheidungen verhindert. In dem dort entschiedenen Fall glaubte ein Versicherter, nur wenige Kilometer
nicht mehr zurücklegen zu können, obwohl objektiv der Tankinhalt noch für eine Strecke von 70 Km ausreichte. In
diesem wie im hier entschiedenen Fall ging der Versicherte entgegen den objektiven Tatsachen von einer
betriebsdienlichen Notwendigkeit des Nachtankens aus. In beiden Fällen war der Irrtum nicht unvermeidlich. Der
Senat hält deshalb eine gleiche rechtliche Bewertung für angezeigt.
Der Umweg, den der Kläger zum Tanken in Kauf nahm, war auch nicht unverhältnismäßig weit. Auch wenn es sich
um eine beträchtliche Strecke handelte, entsprach sie doch in der Vorstellung des Klägers mindestens der
Entfernung, die auch bis zur nächsten Tankmöglichkeit am folgenden Tag zurückzulegen gewesen wäre. Bei der
Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist zudem die Gesamtsituation zu würdigen. Dabei ist vor allem zu
berücksichtigen, daß der Arbeitgeber durch den unvorhergesehenen Wechsel der Schicht den Anlaß zum Nachtanken
gegeben hatte.
Unerheblich ist, ob der Kläger sich bei Kollegen oder Verwandten hätte Benzin zum Nachfüllen des Tankes besorgen
können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hängt die Bejahung der Notwendigkeit, ein Kraftfahrzeug
an einer Tankstelle aufzutanken nicht von dem Nachweis ab, ob sich der Versicherte den Kraftstoff zumutbar an
anderer Stelle hätte besorgen können (vgl. BSG, Urteil vom 24. Mai 1984 – a.a.O.).
Schließlich bestand für den Kläger auch keine zumutbare Möglichkeit, auf andere Weise als mit seinem eigenen
Kraftfahrzeug zur Arbeit zu kommen. Er konnte nach seiner glaubhaften, von dem Zeugen bestätigten Darstellung
weder damit rechnen, daß sein Vater zur gleichen Zeit mit der Arbeit beginnen würde, noch, daß ihm von der Familie
ein anderes Fahrzeug zur Verfügung gestellt werden würde. Ein Fahrrad besaß er nicht. Allein schon wegen der knapp
bemessenen Ruhezeit zwischen den beiden Schichten konnte von ihm auch nicht verlangt werden, einen langen
Fußweg zur Arbeitsstelle in Kauf zu nehmen, zumal Ende Oktober jederzeit mit schlechtem Wetter gerechnet werden
muß.
Bei der Schwere der Verletzung des Klägers sind Mindestleistungen zu erwarten, so daß der Senat ein Grundurteil (§
130 SGG) erlassen konnte.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.
Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.