Urteil des LSG Hessen vom 27.10.2005

LSG Hes: vorläufiger rechtsschutz, arzneimittel, daten, verfügung, sachleistung, verordnung, hauptsache, krankenversicherung, chemotherapie, form

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 27.10.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 4 KR 711/05 ER
Hessisches Landessozialgericht L 8 KR 190/05 ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. August
2005 aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Dauer von zwölf Monaten
das Arzneimittel "Herceptin" im Rahmen der ärztlichen Verordnung als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Im
Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Instanzen.
Gründe:
I.
Das Verfahren betrifft im einstweiligen Rechtsschutz die Frage der Verschaffung einer Sachleistung (Verordnung des
Arzneimittels "Herceptin" zum Zwecke der Nachfolgebehandlung eines operierten Mammakarzinoms).
Bei der Antragstellerin (geb. 1963), die bei der Antragsgegnerin krankenversichert ist, wurde am 7. März 2005 eine
modifizierte radikale Mastektomie rechts mit Axilladissektion vorgenommen. Sie unterzieht sich derzeit einer
Chemotherapie, bei der begleitend eine Behandlung mit "Herceptin" erfolgt. Das Arzneimittel "Herceptin" ist nach den
vorgelegten medizinischen Unterlagen zur Behandlung von Patienten vorgesehen, "die mindestens zwei
Chemotherapien gegen ihr metastasierendes Mammakarzinom erhalten haben und für die ein Anthrazyklin ungeeignet
ist". Für diese adjuvante Therapie besitzt "Herceptin" weder die deutsche noch eine europaweite Zulassung. Die
Therapie mit dem Wirkstoff "Trastuzumab" wurde bisher in zwei amerikanischen Studien sowie in einer weltweit
durchgeführten "HERA-Studie" untersucht. Unter Vorlage einer fachärztlichen Bescheinigung der F. Kliniken "M." vom
27. Juni 2005 sowie eines ärztlichen Attests der Gemeinschaftspraxis Dres. med. C., D., G. und K. vom 27. Juni
2005 beantragte die Antragstellerin die Bestätigung der Kostenübernahme der Herceptin-Behandlung. In den
Dokumenten ist ausgeführt, dass die Antragstellerin als Hochrisikopatientin gelte. Angesichts eines negativen
Hormonrezeptorstatus sei keine antihormonelle Therapie möglich. Die neuesten wissenschaftlichen Daten "zeigten
einen mindestens 30 % höheren Überlebensvorteil und eine 50%-ige Risikoreduktion im Hinblick auf ein Rezidiv der
behandelten Patientinnen (zwei große amerikanische und eine europäische Studie)". Die Antragstellerin machte
geltend, dass Therapiealternativen zu einer adjuvanten Behandlung mit Herceptin, die das Auftreten von Rezidiven in
gleichem Maße vermeiden und damit die Überlebenschance verbesserten, für sie nicht zur Verfügung stünden.
Mit Bescheid vom 13. Juli 2005 lehnte die Antragsgegnerin die beantragte Kostenübernahme ab. Eine
indikationsgerechte Verordnung des Präparates "Herceptin" sei wegen der fehlenden Zulassung in Deutschland
gesetzlich nicht zulässig. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden worden. Ohne
Erfolg blieb auch der am 19. August 2005 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main gestellte Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung (Beschluss vom 22. August 2005). Das Sozialgericht hat den Antrag ausschließlich mit der
Begründung abgelehnt, dass ein Anordnungsgrund nicht bejaht werden könne. Die Antragstellerin sei "bei ihren
finanziellen Verhältnissen ... in der Lage, die monatlichen Kosten für die begehrte Heilbehandlung i.H.v. ca. 2.600,00
Euro vorzuschießen".
Gegen diesen der Antragstellerin am 25. August 2005 zugestellten Beschluss richtet sich die am 26. September 2005
eingelegte Beschwerde. Die Antragstellerin beruft sich auch im Beschwerdeverfahren darauf, dass die von der
Antragsgegnerin unter Verweis auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK)
aufgezeigten weiteren Behandlungsmöglichkeiten keine gleichwertigen Alternativen zur Herceptintherapie darstellten.
Das empfohlene anthrazyklinhaltige Chemotherapieprotokoll habe sie bereits mit vier Zyklen EC abgeschlossen.
Deshalb sei unverständlich, weshalb der MDK diesen Umstand verkenne. Das daneben als Behandlungsalternative
vorgeschlagene "CMF-Protokoll" sei seit mehreren Jahren nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen
Erkenntnisse in der adjuvanten Therapie des Brustkrebses zuzurechnen. Es sei ihr entgegen der Auffassung des
Sozialgerichts nicht zumutbar, die Kosten für die benötigte Therapie vorzufinanzieren. Sie sei durch ihre
Krebserkrankung sowohl körperlich als auch psychisch bereits stark beeinträchtigt und habe neben ihrer beruflichen
Tätigkeit noch ihre beiden Kinder im Alter von vier und acht Jahren zu versorgen. Eine weitere Belastung in Form
einer Umstellung ihrer Lebensverhältnisse sei ihr in ihrer derzeitigen Krankheitssituation nicht mehr zumutbar.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22.
August 2005 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr das
Arzneimittel Herceptin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als Sachleistung zur Verfügung zu
stellen, soweit ihr dieses vertragsärztlich verordnet wird.
Die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie trägt vor, dass wissenschaftlich nachprüfbare Daten über die Wirksamkeit und den Nutzen der Therapie anhand
von Phase III-Studien nach Aussage des MDK bisher nicht veröffentlicht seien. Die Herstellerfirma Roche habe
bestätigt, dass die HERA-Studie noch laufe. Bei den bisher vorgelegten Daten handele es sich um
Zwischenergebnisse. Abhängig von den Ergebnissen der Studie solle später erst entschieden werden, ob die
Zulassung von Herceptin für die adjuvante Behandlung des Mammakarzinoms beantragt werde.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der in Kopie
vorliegenden Verwaltungsverfahrensakte der Antrags- und Beschwerdegegnerin Bezug genommen.
II.
Die gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. August 2005 eingelegte Beschwerde, der
das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Entscheidung vom 5. Oktober 2005), ist zulässig, denn sie ist form- und
fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Beschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts konnte nicht bestätigt werden.
Die Antragsgegnerin war zu verpflichten, der Antragstellerin die begehrte Therapie für einen Behandlungszyklus von
zunächst zwölf Monaten zu bewilligen (Kostenübernahme).
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung eines Rechts (Anordnungsanspruch) des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden
könnte (Anordnungsgrund; Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint (Satz 2). Die hier in Betracht kommende Regelungsanordnung (Satz 2) war im Beschwerdeverfahren
zu bejahen, weil sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden sind (§
920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts bejaht der Senat einen Anordnungsgrund für eine vorläufige Regelung.
Die Leistungsträger im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung haben den Versicherten zu gewährleisten, dass
die normierten Sach- und Dienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V -) zur
Verfügung gestellt werden. Die Grundentscheidung, jedem Versicherten die zur Erhaltung, Wiederherstellung oder
Besserung des Gesundheitszustandes erforderlichen Dienste oder Heil- und Hilfsmittel zu verschaffen, dient dem
Schutz der Mehrheit der Kassenmitglieder. Deren verfügbares, für die Lebensführung verwendbares (Erwerbs-
)Einkommen reicht in der Regel nicht aus, Arzneien, Heil- oder Hilfsmittel zusätzlich zum Beitrag in mehr als
geringem Umfang vorzufinanzieren (BSGE 73, 271, 275). Das gesetzliche Naturalleistungsgebot schließt
dementsprechend grundsätzlich auch die Selbstbeschaffung von Diensten oder Sachen aus. Gerade bei
schwerwiegenden Erkrankungen, wie hier, kann die Leistungserbringung im Rahmen der Sachleistung dann nicht in
Frage gestellt werden, wenn Heilung oder Besserung der Krankheit nicht von vorneherein gänzlich auszuschließen
sind. Jede Krebserkrankung ist lebensbedrohlich und beeinträchtigt die Betroffenen nachhaltig und erheblich in der
Lebensqualität. In dieser Situation ist es der Antragstellerin, die zudem zwei minderjährige Kinder zu versorgen hat,
nicht zuzumuten, einen Großteil des monatlichen Einkommens für die Beschaffung des hier streitigen Präparats
aufzuwenden.
Auch ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht worden. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1
Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) ist eine Krankenkasse zur Versorgung
des bei ihr versicherten Mitglieds mit den für eine Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Der
Anspruch eines versicherten Mitglieds unterliegt jedoch den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden
Einschränkungen. Er umfasst hiernach nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren
Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Der
Gesichtspunkt der Gewährleistung optimaler Arzneimittelsicherheit gebietet es aber, dass Qualität, Wirksamkeit und
Unbedenklichkeit, also die Einhaltung der Mindestsicherheits- und Qualitätsstandards in einem dafür vorgesehenen
Verfahren nachgewiesen worden sind (vgl. dazu bereits die Entscheidung des Senats im Urteil vom 28. Februar 2002 -
L 14 KR 455/00 -; BSG, Urteil vom 18. Mai 2004 - B 1 KR 21/02 R ; SGb 2004, S. 415; ZfS 2004, S. 209; KrV 2004,
S. 189). Eine solche abschließende Studie fehlt für die vorliegend umstrittene adjuvante Therapie noch, worauf die
Antragsgegnerin zu Recht hinweist. Gleichwohl schließt dies nicht generell eine vorläufige Regelung zur Frage der
Leistungserbringung aus. Der erkennende Senat stellt hierzu auf eine Folgenabwägung ab. Diese fällt zu Gunsten der
Antragstellerin aus. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der (vorläufigen) Versagung
vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder
Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Auch bei Verpflichtungs- beziehungsweise
Vornahmesachen ist jedenfalls dann vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und
unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung
in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69; 94, 166; zuletzt Beschluss vom 19. März 2004 -
1 BvR 131/04 -). Solche anders nicht abwendbare Nachteile können bei dem bestehenden Krankheitsbild einer
Krebserkrankung der Antragstellerin ersichtlich nicht hinweggedacht werden. Für die vorliegende Entscheidung ist zu
berücksichtigen, dass in der medizinischen Diskussion zu diesem Krankheitsbild weitgehend Einigkeit darüber
bestehen dürfte, dass in bestimmten Versorgungs- und Therapiebereichen auf einen die Zulassungsgrenzen
überschreitenden Einsatz von Medikamenten nicht völlig verzichtet werden kann, wenn dem Patienten eine dem
Stand neuester medizinischer Erkenntnisse entsprechende Behandlung nicht vorenthalten werden soll (vgl. dazu die
Nachweise in BSG, Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R -; SozR 3-2500, § 31 Nr. 8; BSGE 89, 184; NZS 2002,
S. 646; NJW 2003, S. 460; SGb 2003, S. 102; zuletzt Beschluss (mit Leitsatz) des Senats vom 13. April 2005 - L 8
KR 38/05 ER -). Mit Blick hierauf war im Rahmen der Folgenabwägung bei der angestrebten Behandlung der
Antragstellerin darauf abzustellen, dass die Antragstellerin unwidersprochen vorgetragen hat, eine als
Behandlungsalternative vorgeschlagene Nachfolgebehandlung ("CMF-Protokoll") sei seit mehreren Jahren nicht mehr
dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in der adjuvanten Therapie des Brustkrebses zuzurechnen.
Zwar sind abschließende wissenschaftliche Daten über die Wirksamkeit und den Nutzen der Therapie bisher noch
nicht veröffentlicht. Im Beschwerdeverfahren verweist die Antragsgegnerin auf eine Bestätigung der Herstellerfirma
Roche, wonach die HERA-Studie noch laufe. Jedoch deuten die bisher vorliegenden Zwischenergebnisse darauf hin,
dass bei einer Kombination von Chemotherapie und Herceptin sowohl die Rezidivrate als auch das Mortalitätsrisiko
deutlich geringer ist als bei der alleinigen Chemotherapie. Die Antragstellerin kann sich außerdem auf positive
Bewertungen der Fachgesellschaften, u.a. der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onthologie, berufen. Mit
Blick hierauf sprechen gewichtige Gründe dafür, dass auch im Hauptsacheverfahren die Voraussetzungen für einen
zulassungsübergreifenden Einsatz von Herceptin bejaht werden könnte. Vor diesem Hintergrund war deshalb für den
Senat im Rahmen der Folgenabwägung zunächst ein Behandlungszyklus von zwölf Monaten zuzusprechen, der ggf.
verlängert werden kann.
Dieser von dem Senat bejahte Anordnungsanspruch verstößt nicht gegen Vorschriften des Arzneimittelgesetzes
(AMG). Die für Deutschland fehlende Verkehrsfähigkeit des Präparats Herceptin schließt die Behandlung nicht aus,
weil die unmittelbare Anwendung am Patienten keine Abgabe (eines Heilmittels) im Sinne des AMG darstellt. Der
einzelne Arzt ist weder arzneimittelrechtlich noch berufsrechtlich gehindert, bei seinen Patienten auf eigene
Verantwortung ein auf dem Markt verfügbares Arzneimittel für eine Therapie einzusetzen (BSG, Urteil vom 19. März
2002 - B 1 KR 37/00 R -, a.a.O.). Wegen eines zeitlich begrenzten Therapieversuchs besteht nicht die Gefahr, dass
die hier ausgesprochene Verpflichtung faktisch eine Markteinführung bewirkt und so die Vorschriften des AMG
unterläuft (vgl. dazu Beschluss des Senats vom 13. April 2005, a.a.O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).