Urteil des LSG Hessen vom 14.03.2017

LSG Hes: arzneimittelkommission, verordnung, versorgung, behandlung, verfügung, erfüllung, industrie, rechtssicherheit, zukunft, wirtschaftlichkeit

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.12.1973 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt
Hessisches Landessozialgericht L 7 Ka 205/73
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 17. Januar 1973 wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger ist als Arzt für Allgemeinmedizin zur kassenärztlichen Versorgung Anspruchsberechtigter der RVO-Kassen
zugelassen. Er wendet sich gegen Arzneikosten-Regresse für die Jahre 1967 bis einschließlich 1969 von 312,96 DM,
252,59 DM und von 61,94 DM insoweit, als sie das Mittel "Hämolind” betreffen. Seinem Begehren liegen die
Bescheide des Prüfungsausschusses der Beklagten vom 10. November 1969, 29. Juni 1970 und 26. Juli 1971
zugrunde, die auf Erstattungsforderungen der Beigeladenen beruhen. In diesen Bescheiden ist ausgeführt, bei
Hämolind handele es sich um ein Mittel, das nach der Stellungnahme der Arzneimittelkommission der Deutschen
Ärzteschaft die in Ziff. 7 der Arzneimittelrichtlinien bezeichnete Voraussetzung nicht erfülle. Mit Beschlüssen vom 30.
September 1971 und 17. Juli 1972 bestätigte der Beschwerdeausschuss der Beklagten die Bescheide. Den
Kassenärzten sei durch Rundschreiben der Bezirksstellen rechtzeitig vorsorglich mitgeteilt worden, dass die
Krankenkassen die Verordnung von Hämolind unter Umständen beanstanden würden.
Die dagegen erhobenen Klagen hat das Sozialgericht Frankfurt/Main mit Beschluss vom 17. Januar 1973 zur
gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden, nachdem es den Landesverband der Ortskrankenkassen in
Hessen beigeladen hatte.
Der Kläger hat wie schon zur Begründung seiner Widersprüche vorgetragen, er habe Hämolind mit Erfolg zur
Behandlung eines 68-jährigen Patienten eingesetzt, der langwierige und im übrigen therapiefeindliche haemorrhoidale
Blutungen gehabt habe. Zuvor habe er sich vergewissert, dass dieses Mittel in der sogenannten Roten Liste
verzeichnet sei, die vom Bundesverband der pharmazeutischen Industrie herausgegeben werde. Es sei ihm nicht
zuzumuten, alle von den Krankenkassen beanstandeten Medikamente zu kennen. Durch die erfolgreiche Behandlung
seines Patienten sei bewiesen, dass die negative Beurteilung von Hämolind durch die Arzneimittelkommission im
Jahre 1961 unzutreffend sei. Tatsächlich sei die therapeutische Wirksamkeit gesichert. Die wissenschaftliche
Grundlage sei durch zwei ausländische Professoren erarbeitet worden. Insoweit verweise er auf Veröffentlichungen
der Frau Dr. med. HW. aus den Jahren 1960/61. Durch andere Behandlungsarten wären überdies zumindest ähnlich
hohe Kosten entstanden. Auch sei untragbar, dass die Regressanträge erst nach Jahren gestellt worden seien.
Deshalb habe er seine Behandlungsweise nicht rechtzeitig abstellen können.
Demgegenüber haben die Beklagte und der Beigeladene ausgeführt, den Kassenärzten werde eine grüne
Sammelmappe mit den Stellungnahmen der Arzneimittelkommission zur Verfügung gestellt. Außerdem würden sie in
Rundschreiben laufend auf die Medikamente hingewiesen, bei deren Verordnung sie mit Erstattungsanträgen der
Krankenkassen zu rechnen hätten. Hämolind falle seit Anbeginn unter diejenigen Präparate, welche entsprechend der
Stellungnahme der Kommission die in Ziff. 7 der Arzneimittelrichtlinien bezeichnete Voraussetzung nicht erfüllten. Der
Kläger irre, wenn er die Auffassung vertrete, durch die Behandlung eines Patienten sei die Wirksamkeit dieses Mittels
ausreichend gesichert. Die Prüfung der Rezepte erfolgt laufend. Anträge auf Feststellung eines Erstattungsbetrages
würden allerdings nur einmal rückwirkend für ein Jahr gestellt. Das sei keinesfalls zu spät.
Mit Urteil vom 17. Januar 1973 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es sich
der Auffassung der Beklagten und des Beigeladenen angeschlossen.
Gegen dieses Urteil, das an den Kläger mittels eingeschriebenen Briefes am 30. Januar 1973 abgesandt worden ist,
richtet sich seine am 20. Februar 1973 eingelegte Berufung. Zur Begründung wiederholt er sein bisheriges Vorbringen
unter besonderer Hervorhebung der Tatsache, dass Hämolind jahrelang in der Roten Liste verzeichnet gewesen sei,
wohingegen die Arzneimittelkommission nur einmal 1961 Stellung genommen habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 17. Januar 1973 und die
Bescheide der Beklagten vom 10. November 1969, 29. Juni 1970 und vom 26. Juli 1971 in der Gestalt ihrer
Widerspruchsbescheide vom 30. September 1971 und 17. Juli 1972 aufzuheben.
Die Beklagte und der Beigeladene beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Zur mündlichen Verhandlung am 5. Dezember 1973 war der Kläger weder erschienen noch vertreten.
Die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen
wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach § 151 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) frist- und formgerecht eingelegte Berufung, über die der
Senat auf Antrag der Beklagten und des Beigeladenen gemäß §§ 110, 126 SGG nach Lage der Akten entscheiden
konnte, ist auch im übrigen gemäß § 143 SGG uneingeschränkt zulässig. Die Bestimmung des § 144 SGG findet
schon deshalb keine Anwendung, weil Regressforderungen als Schadensersatzverpflichtungen eines Arztes nicht
dem Begriff "Leistungen” unterfallen, wie er dort verstanden werden will.
In der Sache hatte die Berufung keinen Erfolg. Die Bescheide der Beklagten vom 10. November 1969, 29. Juni 1970
und 26. Juli 1971 in der Gestalt ihrer Beschwerdeentscheidungen sind nicht rechtswidrig. Denn der Kläger hat als
Kassenarzt unwirtschaftlich gehandelt. Mit dieser Auffassung folgt der Senat dem Vordergericht uneingeschränkt.
Gemäß § 368 n Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) haben die Kassenärztlichen Vereinigungen und die
Kassenärztlichen Bundesvereinigungen die nach § 182 RVO den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung
sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die
kassenärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Sie haben die Erfüllung der
den Kassenärzten obliegenden Pflichten zu überwachen und diese nötigenfalls unter Anwendung gesetzlich
vorgesehener Maßnahmen zu ihrer Erfüllung anzuhalten. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der
Bundesverband der Krankenkassen bilden einen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (§ 368 o Abs. 1
Satz 2 RVO). Nach § 368 p Abs. 1 RVO beschließt der Bundesausschuss die zur Sicherung der kassenärztlichen
Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche
Versorgung der Kranken, insbesondere über die Einführung neuer Untersuchungs- und Heilmethoden. Die
Kassenärztlichen Vereinigungen und die Verbände der Krankenkassen haben nach § 368 p Abs. 3 RVO in ihre
Satzungen Bestimmungen aufzunehmen, nach denen die in Abs. 1 dieser Vorschrift genannten Richtlinien von ihren
Mitgliedern beachtet werden sollen. Der Kassenarzt ist auch nach § 17 des Bundesmantelvertrages für Ärzte
verpflichtet, diese Richtlinien zu beachten.
Vorliegend geht es um die Beachtung der vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen am 12. Dezember
1960 beschlossen Arzneimittelrichtlinien. Sie sind vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im
Bundesanzeiger Nr. 251 vom 29. Dezember 1960 bekanntgegeben worden. Ihre Neufassung datiert vom Dezember
1971 und gilt ab 1. Januar 1972 (Bundesanzeiger 1971 Nr. 238).
Nach Nr. 7 dieser Arzneimittelrichtlinien soll die Verordnung einer Arznei durch den Kassenarzt nur erfolgen, wenn
deren Wirksamkeit ausreichend gesichert ist. Der Nachweis therapeutischer Wirksamkeit durch objektivierte
Ergebnisse ist, soweit er möglich ist, Sache des Herstellers. Erprobungen von Arzneimitteln auf Kosten des
Versicherungsträgers sind unzulässig. Unter Nr. 8 enthalten die Arzneimittelrichtlinien die Bestimmung, dass die
Kassenärztlichen Vereinigungen die Ärzte über die Arzneimittelverordnung beraten und sie durch Einholung und
Bekanntgabe gutachtlicher Stellungnahmen, insbesondere der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft,
unterstützen. In Anwendung der Ziff. 9 dieser Richtlinien hat die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft
nun am 14. September 1961 zur Frage der Verordnung des Präparates Hämolind Stellung genommen und die
Voraussetzungen nach Ziff. 7 verneint. Deshalb darf das Mittel im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung nicht
verwendet werden.
Hieran ist der Kläger gebunden. Er kann weder damit gehört werden, es sei ihm nicht zuzumuten, alle von den
Krankenkassen bereits vor Jahren in einmaliger Form beanstandeten Mittel zu kennen noch damit, er habe sich vor
Verordnung von Hämolind vergewissert, dass dieses Mittel in der vom Bundesverband der pharmazeutischen
Industrie herausgegebenen Roten Liste enthalten sei. Diese Liste ersetzt oder ergänzt die Arzneimittelrichtlinien nicht.
Sie ist nichts weiter als eine Aufstellung sämtlicher gehandelter Arzneimittel, ohne dass sie verbindliche oder
expulsierende Hinweise gibt, ob die Voraussetzungen für das einzelne Mittel von der Arzneimittelkommission gemäß
Ziff. 7 der Richtlinien für gegeben angesehen worden sind oder nicht. Sich über derartige Feststellungen zu
unterrichten, war und ist der Kläger wie jeder andere Kassenarzt von sich aus verpflichtet, wenn er sich nicht dem
Vorwurf der unwirtschaftlichen Behandlungsweise und der Gefahr der Geltendmachung eines Regresses aussetzen
will. Hierüber ist er zweifellos vor seiner Kassenzulassung im Rahmen des obligatorischen Kassenarztkurses nach §
17 der Zulassungsordnung für Ärzte unterrichtet worden. In einem üblichen Einführungsreferat werden alle
Zulassungsaspiranten insbesondere auf die Einhaltung der Arzneimittelrichtlinien nach § 368 p RVO hingewiesen. Um
die Kassenärzte laufend zu informieren, hat die Beklagte ferner eine Sammelmappe mit den Stellungnahmen der
Arzneimittelkommission zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus werden die Kassenärzte laufend durch Rundschreiben
auf Mittel hingewiesen, bei deren Verordnung sie mit Erstattungsanträgen zu rechnen haben. Informationsquellen
standen dem Kläger hiernach ausreichend zur Verfügung. Sicher ist nicht zu erwarten gewesen, dass er alle in ihrer
Wirksamkeit unsicheren Arzneimittel und somit auch Hämolind im Gedächtnis hatte, bevor er es zum ersten Mal
verordnete. Das hieße die Anforderungen überspannen. Andererseits muss ihm jedoch zugemutet werden, sich im
Falle der Änderung einer Medikation für einen bestimmten Patienten, um den es sich nach seiner Einlassung
handelte, bezüglich der Zulässigkeit des in Aussicht genommenen neuen Mittels eben durch Einsichtnahme in die
Unterlagen zu vergewissern. Das geht nach Auffassung des Senats sogar während des Praxisbetriebes, wenn – was
vorausgesetzt wird – die gesammelten Unterlagen übersichtlich geordnet und griffbereit sind.
Entgegen der Auffassung des Klägers war Hämolind seit 1960/61 bis zum streitigen Zeitraum und während desselben
in seiner Wirksamkeit wissenschaftlich nicht ausreichend nachgewiesen. Denn die für das erstinstanzliche Verfahren
eingereichten Veröffentlichungen stammen beide von ein und derselben Verfasserin und haben den gleichen Inhalt.
Weitere Arbeiten über Hämolind sind von deutschen Ärzten offenbar nicht angefertigt worden, bevor und seitdem die
Richtlinien sich negativ mit diesem Präparat befasst haben. Positive Begutachtungen ausländischer Ärzte könnten an
sich von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft wohl auch berücksichtigt werden. Sie sind es im
vorliegenden Fall aber nun einmal nicht. Der Kläger selbst hätte durchaus Gelegenheit gehabt und hat sie noch, seine
Erfolge mit Hämolind an seinem 68 jährigen Patienten zu veröffentlichen und insoweit über die Beklagte oder
unmittelbar zu versuchen, eine Überprüfung und gegebenenfalls Änderung für die Zukunft herbeizuführen. Für sein
Berufungsbegehren wäre ein unterstellter späterer Erfolg in seinem Sinne rechtlich allerdings nicht bedeutsam. Denn
derzeitig besteht die Stellungnahme über Hämolind nach Ziff. 7 der Arzneimittelrichtlinien noch mit bindender Wirkung
für und gegen ihn. Hierauf kommt es allein an.
Die – erfolgreiche – Behandlung eines Patienten mit einem unter diese Ziffer fallenden Präparat macht dessen
Wirksamkeit in der Praxis noch nicht ausreichend sicher und vermag die Stellungnahme gleichfalls nicht zunichte zu
machen. Diese Wirksamkeit muss vielmehr zwingend durch die Kommission festgestellt werden, wobei Momente des
Handelspreises eines Mittels nicht ausschlaggebend sind. Das weitere Argument des Klägers, durch andere
Behandlungsarten wären zumindest ähnlich hohe Kosten entstanden, kann deshalb nicht bedeutsam sein.
Schließlich konnte er in Ansehung der Vereinbarung zur Überprüfung der kassenärztlichen Verordnungsweise gemäß
§ 22 Abs. 7 Bundesmantelvertrag vom 7. August 1963 nicht durchdringen, wenn er ein zu spätes Geltendmachen des
Regresses rügt. In seinem Fall wurde der Betrag von 312,96 DM für das Jahr 1967 am 18. Dezember 1968 moniert,
der Betrag von 252,59 DM für das Jahr 1968 am 14. April 1970 und der Betrag von 61,94 DM für das Jahr 1969 am
14. Dezember 1970. Das ist nach § 4 Ziffer 2 in Verbindung mit Ziffer 4 und § 1 der einschlägigen Vereinbarung noch
nicht zu spät, wenn dem Kläger auch zuzugestehen ist, dass es im Interesse der Rechtssicherheit im allgemeinen
und im Interesse der Orientierung eines Kassenarztes über die Wirtschaftlichkeit seiner Verordnungsweise im
besonderen bedeutend besser wäre, der Beigeladene nützte die Antragsfrist gemäß § 4 der Vereinbarung nicht bis an
die Grenze des äußerst Möglichen aus. Wenn das Rechtsinstitut der Verwirkung oder der Grundsatz der Bindung im
Sinne des § 77 SGG hier auch noch nicht angesprochen ist, so dürfte es darüber hinaus auch den Pflichten der
Prüfeinrichtungen der Beklagten entsprechen (vgl. § 5 Ziffer 1 der Vereinbarung die Anträge des Beigeladenen
tatsächlich alsbald zu bearbeiten und dabei Einwendungen eines Kassenarztes bezüglich langer Säumnis anhand der
von dem Beigeladenen eingereichten Verordnungsblätter nachzugehen. Weder der Prüfungsausschuss noch der
Beschwerdeausschuss haben sich in den Begründungen der hier streitigen Bescheide jedoch mit dem Argument des
Klägers befasst, es gehe nicht an, dass man ein Rezept erst nach Jahren nachprüfe und damit das rechtzeitige
Abstellen einer Verordnung verhindere. Erst im Klageverfahren hat alles der Beigeladene hierzu Ausführungen
gemacht. Das hält der Senat für mangelhaft, wenn es der Berufung auch nicht zum Erfolg verhelfen konnte.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.