Urteil des LSG Hessen vom 09.12.1997

LSG Hes: treu und glauben, verwirkung, rkg, abkommen, rehabilitation, versicherungsträger, sozialleistung, sozialversicherung, entstehung, verjährung

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 09.12.1997 (rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 6 Kn 1109/94
Hessisches Landessozialgericht L 8 Kn 254/96
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. Januar 1996 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig der Anspruch der Klägerin auf Erstattung der Kosten, die sie im Rahmen einer
Maßnahme der medizinischen Rehabilitation für den Beigeladenen aufgewendet hat.
Der Beigeladene ist sogenannter Wanderversicherter. Er hat von 1955 bis 1967 Beiträge zur knappschaftlichen
Rentenversicherung entrichtet und danach zur Arbeiterrentenversicherung. Auf seinen Antrag vom 30. März 1989
bewilligte ihm die Klägerin mit Bescheid vom 26. Oktober 1989 medizinische Rehabilitationsmaßnahmen, die vom 23.
November 1989 bis 21. Dezember 1989 in der E.-Klinik L.-W. durchgeführt wurden. Dabei entstanden Kosten von
insgesamt 7.078,43 DM. Diese verlangt die Klägerin unter Hinweis auf § 105 Abs. 1 des 10. Buches des
Sozialgesetzbuches (SGB 10) von der Beklagten. Im Rahmen der Bescheiderteilung hat die Klägerin eine Durchschrift
an die Beklagte versandt und darauf hingewiesen, daß das Rena-Abkommen in seiner Fassung vom 4. Mai 1988 nach
wie vor Gültigkeit habe und für alle Rentenversicherungsträger verbindlich sei, so daß im vorliegenden Fall die
Zuständigkeit der Beklagten gegeben sei. Gleichwohl werde sie aufgrund des Schreibens der Beklagten vom 22.
Dezember 1988 in Vorleistung treten. Abschließend heißt es wörtlich: "Wir behalten uns vor, zu gegebener Zeit einen
Erstattungsanspruch geltend zu machen”.
Mit der am 15. Juli 1994 bei dem Sozialgericht Gießen erhobenen Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten
Erstattung der entstandenen Kosten.
Mit Urteil vom 23. Januar 1996 hat das Sozialgericht Gießen der Klage stattgegeben und die Beklagte entsprechend
verurteilt. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Nach § 105 Abs. 1 SGB 10 sei der zuständige oder
zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen
erbracht habe, soweit er nicht bereits selbst geleistet habe. Zuständiger Leistungsträger für den Beigeladenen sei die
Beklagte. Deren Zuständigkeit ergebe sich aus § 102 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG), der hier nach § 300
Abs. 2 des 6. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 6) noch anzuwenden sei. Die Vorschrift des § 102 RKG gelte
auch für Rehabilitationsleistungen. Die Frage, ob das Reha-Abkommen vom 1. August 1975 überhaupt und wenn ja in
seiner Fassung vom 1. August 1975 oder vom 4. Mai 1988 wirksam sei, sei entscheidungsunerheblich, weil eine
gesetzlich normierte Zuständigkeit nicht durch Vereinbarung einzelner Versicherungsträger untereinander geändert
werden könne. Der Erstattungsanspruch sei auch weder verjährt noch verwirkt, die gesetzliche Ausschlußfrist des §
111 SGB 10 sei gewahrt.
Gegen dieses der Beklagten am 13. Februar 1996 zugestellte Urteil hat sie am 29. Februar 1996 bei dem Hessischen
Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Sie ist der Auffassung, daß § 102 Abs. 2 RKG keine gesetzliche Zuständigkeitsregelung darstelle und daher das
Rena-Abkommen von 1975 nach wie vor Gültigkeit habe. Im übrigen habe die Klägerin die gesetzliche Ausschlußfrist
des § 111 SGB 10 nicht gewahrt. Die Mitteilung auf der Durchschrift des Bewilligungsbescheides stelle keine
Geltendmachung des Erstattungsbetrages dar. Im übrigen sei der Anspruch der Klägerin auch verwirkt.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. Januar 1996 aufzuheben und die Klage
abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene hat sich zum Verfahren nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der
Akten der Klägerin, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143,
151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Sie ist jedoch sachlich unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. Januar 1996 ist nicht zu
beanstanden. Die Beklagte ist zur Erstattung der geltend gemachten Kosten verpflichtet. Dies hat das angefochtene
Urteil des Sozialgerichts Gießen in zutreffender Weise dargelegt. Der Senat sieht insoweit von einer weiteren
Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist daher nach eigener Überprüfung und Meinungsbildung die Berufung
als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ergänzend ist auf folgendes hinzuweisen: In der den Beteiligten bekannten Entscheidung des Bundessozialgerichts
vom 20. November 1959 (1 RA 74/58 in E 11, 69) hat dieses ausgeführt, daß die Vorschriften der Wanderversicherung
zwar hauptsächlich für die Feststellung von Renten gelten. Dies schließe jedoch nicht aus, daß die Anwendung auch
bei Anträgen auf Beitragserstattung möglich ist. Die Vorschrift über die Zuständigkeit für die Feststellung und Zahlung
von Leistungen sei allgemein gehalten und ihrem Wortlaut nach auf alle Leistungen an Wanderversicherte
gleichermaßen anwendbar. Das BSG führt weiter aus, daß die Vorschriften über die Wanderversicherung also neben
den Vorschriften für die Leistungen insgesamt gesetzt sind und sich nach dieser Systematik auf alle Leistungen und
nicht nur auf eine bestimmte Leistungsgruppe wie etwa auf Renten beziehen. Dieser Auffassung haben sich neben
den von der Beklagten genannten Kommentatoren weitere Stimmen in der Literatur angeschlossen (vgl. etwa
Schimansky u.a., Knappschaftsversicherung, Kommentar, 1992, § 102 Anm. 1; Verband Deutscher
Rentenversicherungsträger Bd. III, § 1311 Rz. 3; Koch-Hartmann, AVG, Kommentar, § 90 Anm. II). Auch der Senat
ist der Auffassung, daß sich aus der genannten Vorschrift des § 102 Abs. 2 RKG keine Beschränkung auf bestimmte
Leistungen ableiten läßt sondern im konkreten Falle auch für Leistungen der Rehabilitation gilt. Infolge dessen kommt
es auf die Frage der Anwendbarkeit des Reha-Abkommens RV, unabhängig von der Fassung, nicht an. Zutreffend hat
auch hier bereits das Sozialgericht auf die Entscheidung des BSG vom 10. Dezember 1970 (5/12 RJ 36/67 in
Breithaupt 1971, S. 524 ff.) hingewiesen, wonach eine gesetzlich festgelegte Zuständigkeit nicht durch
Verwaltungshandeln oder eine Vereinbarung der Versicherungsträger untereinander geändert werden kann.
Ebensowenig liegen die Voraussetzungen von § 111 SGB 10 vor. Die Klägerin hat den Erstattungsanspruch innerhalb
der dort genannten 12-monatigen Ausschlußfrist geltend gemacht. Nach der Rechtsprechung des BSG ist es
ausreichend, wenn mit dem Geltendmachen des Erstattungsanspruchs hinreichend deutlich ist, welche Leistungen zu
erstatten sind. Nach den aufgestellten Mindestanforderungen müssen zumindest die Umstände, die im Einzelfall für
die Entstehung des Erstattungsanspruchs maßgeblich sind, und der Zeitraum, für den die Sozialleistung erbracht
wurde, hinreichend konkret mitgeteilt werden. Dies gilt auch, wenn der Erstattungsanspruch für eine künftige Leistung
geltend gemacht wird. Dem Erstattungsverpflichteten muß auch bei vorheriger Anmeldung des Anspruchs die
voraussichtliche Dauer der Leistung angegeben werden, damit er die zu erwartenden Belastungen abschätzen kann
(BSG vom 28. November 1990 – 5 RJ 50/89; Kasseler Kommentar zur Sozialversicherung § 111 SGB 10, Rz. 20).
Diesen Anforderungen hat die Klägerin Genüge getan. Aus dem Bescheid vom 26. Oktober 1989, der in Durchschrift
der Beklagten zuging, wird deutlich, daß es sich um die Gewährung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen für die
Dauer von zunächst 4 Wochen handelt. Zutreffend weist die Klägerin in diesem Zusammenhang darauf hin, daß es
der Beklagten aus ihrer eigenen Verwaltungspraxis bekannt sein dürfte, welche Kostenbelastung daraus entsteht.
Durch den Zusatz: "Wir behalten uns vor, zu gegebener Zeit einen Erstattungsanspruch geltend zu machen”, hat die
Klägerin auch deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß sie der Beklagten gegenüber die Erstattung der Kosten
geltend machen wird. Dies vor allem vor dem Hintergrund, daß sich die Beteiligten darüber einig waren und sind, die
hier umstrittene Rechtsfrage einer grundsätzlichen Klärung zuzuführen. Dies ergibt sich aus dem umfangreichen
Schriftwechsel zwischen den Beteiligten, aus dem unter anderem auch deutlich wird, daß die Beklagte auf die Einrede
der Verjährung verzichtet hat. Aus diesem Grunde kommt auch eine Verwirkung nicht in Betracht. Eine Verwirkung
liegt nur vor, wenn ein Anspruch längere Zeit nicht geltend gemacht wird und besondere Umstände hinzutreten,
aufgrund derer die verspätete Geltendmachung als unzulässige, unzumutbare Rechtsausübung und damit als Verstoß
gegen Treu und Glauben anzusehen ist. Der Anspruchsgegner muß aus dem Verhalten des anderen schließen dürfen,
daß dieser seinen Anspruch oder sein Recht nicht mehr geltend machen wird. An die Voraussetzungen der
Verwirkung sind strenge Anforderungen zu stellen. Die längere Nichtausübung des Rechts für sich allein begründet
keinesfalls eine Verwirkung. Es müssen vielmehr besondere Umstände, die die späte Geltendmachung als
unerträglich erscheinen lassen, hinzukommen. Gerade vor dem Hintergrund des bereits genannten Schriftwechsels
zwischen den Beteiligten scheidet eine Verwirkung des Anspruchs durch verspätete Geltendmachung aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.