Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.08.1974 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel
Hessisches Landessozialgericht L 8 Kr 269/73
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Januar 1973 abgeändert und die
Klage im vollem Umfange abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger Anspruch auf Krankenpflege für seine Nierenerkrankung, insbesondere
durch Übernahme der notwendigen Kosten für die Behandlung mit einem Heimdialysegerät im Rahmen des § 213
Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.
Der im Jahre 1915 geborene Kläger bezieht von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) seit dem 1. Juli
1968 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Auf seinen Antrag wurde er mit Wirkung vom 24. Juni 1968 von
der Rentenerkranktenversicherungspflicht befreit.
Vom 15. März bis 7. Mai 1971 war der Kläger als Expedient in einer beratenden Tätigkeit bei der Firma H. B. in K.
beschäftigt. Er wurde als Pflichtmitglied bei der Beklagten angemeldet. Diese Anmeldung enthielt den Zusatz, daß der
Kläger auf eigenes Risiko arbeite. Nach Beendigung dieser Beschäftigung meldete sich der Kläger unter dem 25. Mai
1971 zur freiwilligen Weiterversicherung bei der Beklagten an. Die Beklagte hat diese Anmeldung angenommen.
Am 19. April 1971 ging bei der BfA ein Schreiben des Klägers vom 16. April 1971 ein, in dem dieser erklärte, die
Dialysestation des Stadtkrankenhauses K. habe ihm eröffnet, daß er in Kürze mit der Anwendung der "künstlichen
Niere” rechnen müsse, und zwar zwei- bis dreimal in der Woche.
Durch Bescheid vom 25. Juli 1972 stornierte die Beklagte die von der Firma B. getätigte An- und Abmeldung sowie
die freiwillige Weiterversicherung mit der Begründung, es habe ein mißglückter Arbeitsversuch vorgelegen, der weder
eine Versicherungspflicht noch das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung begründet habe; eine Leistungspflicht der
Beklagten sei nicht gegeben.
Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 1972 als unbegründet
zurückgewiesen. Auf die Begründung des Widerspruchsbescheides wird Bezug genommen.
Mit seiner Klage vom 31. Oktober 1972 wandte sich der Kläger gegen diese Bescheide und begehrte darüberhinaus
die Feststellung, daß er mit Wirkung ab 15. März 1971 Mitglied der Beklagten und als solches leistungsberechtigt sei.
Das SG Kassel hat durch Urteil vom 29. Januar 1973 der Klage auf Gewährung von Kassenleistungen stattgegeben,
die Klage auf Feststellung der Mitgliedschaft jedoch abgewiesen. Zur Begründung führte es aus, die Beschäftigung
des Klägers bei der Firma B. sei zwar kein mißglückter Arbeitsversuch gewesen, es habe sich jedoch um eine
versicherungsfreie Nebenbeschäftigung nach § 168 Abs. 1 Nr. 2, § 168 Abs. 2 b RVO gehandelt. Deswegen sei der
Kläger auch nicht zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt gewesen (§ 313 RVO). Die angefochtenen Bescheide
seien jedoch insoweit fehlerhaft, als die Beklagte nach § 213 RVO verpflichtet sei, dem Kläger Leistungen zu
gewähren. Sie habe nach vorschriftsmäßiger und nicht vorsätzlicher unrichtiger Anmeldung über 3 Monate lang die
Beiträge des Klägers entgegengenommen. Erst nach Eintritt des Versicherungsfalles habe sich herausgestellt, daß
der Kläger weder versicherungspflichtig nicht versicherungsberechtigt gewesen sei.
Gegen dieses am 12. Februar 1973 zugestellte Urteil richtet sich die am 9. März 1973 zu Protokoll der
Geschäftsstelle des Sozialgerichts Kassel eingelegte Berufung der Beklagten, mit der sich diese gegen die
Rechtsauffassung des Sozialgerichts wendet. Sie ist der Meinung, die Voraussetzungen des § 213 RVO seien nicht
erfüllt, weil der Kläger vorsätzlich unrichtig angemeldet worden sei; es sei für sie nicht erkennbar gewesen, daß der
Kläger wegen seines Gesundheitszustandes überhaupt nicht versicherungsfähig gewesen sei. Hinsichtlich seines
Versicherungsschutzes sei der Kläger auch nicht gutgläubig gewesen. Weiterhin setze § 213 RVO eine
unbeanstandete Beitragsannahme für die Dauer von 3 Monaten vor Eintritt des Versicherungsfalles voraus. Im
vorliegenden Falle jedoch sei der Versicherungsfall, die Nierenerkrankung, vor Ablauf dieser Dreimonatsfrist
eingetreten, so daß schon aus diesen Gründen § 213 RVO nicht anwendbar sei. Der Versicherungsfall sei bereits vor
Eintritt in die Beschäftigung eingetreten.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Januar 1973 abzuändern und die Klage in
vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise ein Sachverständigengutachten einzuholen, rein
vorsorglich, die Revision zuzulassen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und vertritt den Standpunkt, eine vorsätzlich unrichtige Anmeldung zur
Versicherung sei nicht erfolgt, so daß jedenfalls ein Leistungsanspruch nach § 213 RVO bestehe. Nach Ablauf der
Dreimonatsfrist sei eine neue Nierenerkrankung eingetreten, wie sich aus der ärztlichen Bescheinigung vom 5.8.1974
ergebe.
Die Beigeladene schließt sich dem Vorbringen des Klägers an.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Kassenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren,
verwiesen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29.8.1974 war die Beigeladene trotz ordnungsmäßiger Ladung weder
erschienen noch vertreten.
Entscheidungsgründe:
Trotz Ausbleibens der Beigeladenen im Termin konnte der Senat entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden
Hinweis enthielt (§ 124 I SGG).
Die Berufung ist zulässig; sie ist an sich statthaft und in rechter Form und Frist eingelegt (§§ 143, 151
Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Es handelt sich im vorliegenden Fall um laufende Leistungen, die über einen längeren
Zeitraum als 13 Wochen zu gewähren sind (§ 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
In der Sache selbst erweist sich die Berufung insofern als begründet, als der Kläger keinen Leistungsanspruch aus §
213 RVO hat.
Nach dem insoweit nicht angegriffenen Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Januar 1973 steht fest, daß der
Kläger kein Mitglied der Beklagten geworden ist, weder auf Grund seiner Beschäftigung bei der Firma B. noch auf
Grund seiner Anmeldung zur freiwilligen Weiterversicherung. Aus einer Mitgliedschaft können daher
Leistungsansprüche nicht abgeleitet werden. Hingegen hält dieses Urteil zu Unrecht den Leistungsanspruch des
Klägers nach § 213 RVO für begründet. Dieser Rechtsauffassung des Sozialgerichts vermag der Senat nicht zu
folgen.
Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung wird von dem Grundsatz beherrscht, daß der den
Leistungsanspruch auslösende Versicherungsfall der Krankheit während eines bestehenden
Versicherungsverhältnisses eingetreten sein muß (vgl. BSG 16 S. 177; S. 115; 25 S. 37). Von diesem Grundsatz gibt
es nur die Ausnahme des § 214 RVO (vgl. BSG a.a.O.), während aus § 213 RVO eine Durchbrechung dieses
Grundsatzes nicht zu entnehmen ist. Auch § 213 RVO setzt ein Versicherungsverhältnis voraus, das entgegen den
materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen durch Beitragszahlung begründet wird. Das Gesetz schützt damit eine auf
gutgläubiger Beitragszahlung beruhende Rechtsposition (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 213 Anm.
2 a).
Dieser Schutz löst jedoch nur dann Leistungspflichten einer Kasse aus, wenn der Eintritt des Versicherungsfalles
frühestens nach 3-monatiger ununterbrochener und unbeanstandeter Beitragszahlung erkennbar geworden ist.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts tritt im Rahmen des § 213 RVO der Versicherungsfall nicht mit der
Anmeldung bei der Kasse ein; denn der Versicherungsfall als Ereignis im Leben des Versicherten, gegen dessen
Nachteile er geschützt werden soll (BSG 22 S. 278), ist im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung die
Krankheit selbst und nicht eine Anmeldung bei der Kasse. Letztere kann allenfalls bewirken, daß wegen eines
Versicherungsfalles Leistungen zu erbringen sind.
Dieser Versicherungsfall darf nach § 213 RVO erst nach Ablauf der Dreimonatsfrist erkennbar geworden sein, weil
andernfalls jede nichtversicherungsfähige Person auch ohne vorsätzlich unrichtige Anmeldung bei bestehender
Erkrankung durch bloße Beitragszahlung in den Genuß der gesetzlichen Krankenversicherungsleistungen kommen
könnte. Dieses Ergebnis liegt nicht im Sinne des Gesetzes. Vielmehr soll durch § 213 RVO nur derjenige geschützt
werden, welcher als nicht erkennbar Kranker Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung leistet und nach Ablauf
einer Frist (3 Monate) Leistungen in Anspruch nehmen muß. Nur dieser Personenkreis ist hinsichtlich des Erwerbs
des Versicherungsschutzes als gutgläubig und daher als schutzbedürftig zu bezeichnen.
Die Berechnung zur Frist der Anwendung des § 213 RVO setzt voraus, daß der zeitliche Zwischenraum zwischen der
ersten Beitragsleistung und dem Erkennbarwerden der Krankheit genau festzustellen ist. Der Schutz des guten
Glaubens eines vermeintlich Versicherten liegt darin, daß er bei plötzlich eintretender Krankheit den von ihm
erwarteten Versicherungsschutz genießt. Erst nach Ablauf der Dreimonatsfrist soll die Kasse ein
versicherungsmäßiges Risiko tragen, was nicht mehr der Fall ist, wenn der Versicherungsfall bereits vor Ablauf dieser
Frist eingetreten ist. In diesem Fall ist keine schutzbedürftige Rechtsposition entstanden. Andernfalls könnte
jedermann durch bloße Beitragsleistung den Versicherungsschutz erwerben, wenn er erst nach 3 Monaten einen
Leistungsantrag stellt. Von einem versicherungsmäßigen Risiko, das die Kasse im Wege der Beitragsannahme zu
übernehmen hätte, könnte dann keine Rede mehr sein.
Im vorliegenden Fall ist der Versicherungsfall der Nierenerkrankung vor dem Eintritt des Klägers in die Versicherung
eingetreten. Dies ergibt sich schon daraus, daß ihm seit 1968 Erwerbsunfähigkeitsrente u.a. wegen einer
Nierenerkrankung gewährt wird. Weiterhin wandte sich der Kläger im April 1971 an die BfA mit dem Problem der
Notwendigkeit der Dialysebehandlung. Hieraus geht eindeutig hervor, daß der Versicherungsfall der Nierenerkrankung
bereits vor Ablauf der Dreimonatsfrist des § 213 RVO eingetreten ist. Dem steht nicht entgegen, daß sich die
Notwendigkeit einer Dialysebehandlung erst später ergeben hat; denn der Begriff des Versicherungsfalles wird nicht
durch den Eintritt der Notwendigkeit einzelner Heilmaßnahmen, sondern durch den Eintritt der ersten, die
Folgeerkrankungen auslösende Krankheit zeitlich bestimmt (Grundsatz der Einheit des Versicherungfalles – vgl. BSG
25 S. 37). Die Bescheinigung vom 5.8.1974 läßt erkennen, daß sich die Nierenerkrankung in einer bestimmten
Richtung verschlechtert hat; eine neue Nierenerkrankung ist danach nicht als neuer Versicherungsfall eingetreten.
Deswegen bestand auch keine Veranlassung zur Einholung von Sachverständigengutachten wegen des Eintritts des
Versicherungsfalles.
Nach alldem erweist sich die Berufung der Beklagten insoweit als begründet, als sie nicht nach § 213 RVO
leistungspflichtig ist.
Das angefochtene Urteil war daher abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Auslegung des § 213 RVO von grundsätzlicher
Bedeutung ist.