Urteil des LSG Hamburg vom 16.02.2011

LSG Ham: diabetes mellitus, psychiatrische untersuchung, anus praeter, behinderung, gerichtsakte, besuch, zustand, lymphödem, gleichbehandlung, subjektiv

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 16.02.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 29 SB 599/06
Landessozialgericht Hamburg L 4 SB 2/10
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Oktober 2009 aufgehoben. Die
Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist im Streit, ob dem Kläger das Merkzeichen "RF" nach Schwerbehindertenrecht als
Voraussetzung für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht zuzusprechen ist.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 19. Juli 2006 auf den Antrag des Klägers vom 13. Juni 2006 fest, dass dieser
zum Kreis der schwerbehinderten Menschen gehöre und der Grad der Behinderung (GdB) 100 betrage. Dabei
berücksichtigte sie mit Blick auf den Entlassungsbericht des A. Klinikum vom 30. Mai 2006, in dem als Diagnose ein
transglottisches Larynxcarcinom und als Therapie Laryngektomie mit Stimmprothese sowie Neck dissection am 12.
Mai 2006 angegeben wurde, einen Verlust des Kehlkopfes, Ausräumung der Halsweichteile und eine
Kehlkopferkrankung in Heilungsbewährung.
Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und wies darauf hin, dass er aufgrund der Kehlkopfentfernung und eines
dauerhaft angelegten Tracheostomas an starken Hustenanfällen bis hin zum Brechreiz und zeitweise auch an
Atemnot leide, wenn durch starke Verschleimung und Borkenbildung die Atmung erschwert sei. Er könne deshalb
weder an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen, denn er belästige andere
Menschen hiermit offensichtlich. Zudem müsse er häufig sein Absauggerät benutzen. Er legte eine
Formblattbescheinigung der Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde R1 vor, in der es heißt, der Kläger
könne wegen seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger gehöre mit
Blick auf seine Erkrankung nicht zu denjenigen behinderten Menschen mit einem GdB von wenigstens 80, die ständig
nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könnten.
Daraufhin hat der Kläger ohne nähere Begründung fristgerecht Klage erhoben und auf die Einschätzung der ihn
behandelnden Ärzte verwiesen. Das Sozialgericht holte entsprechende Befundberichte ein. Der Internist Dr. S.
berichtete unter dem 28. Januar 2007 von einem Larynxcarcinom und einem Zustand nach Chemo- und
Strahlentherapie, nicht insulinpflichtigem Diabetes mellitus, Adipositas und Hyperurikämie. In dem ärztlichen
Entlassungsbericht der Reha-Klinik Bad M2 vom 25. Oktober 2006 heißt es zu den seinerzeitigen Beschwerden und
funktionellen Einschränkungen: Aphonie bei Zustand nach Laryngektomie, Schluckprobleme, Lymphödem im Gesicht,
Rückenverspannungen, Schulterschmerzen, Armabduktion bis 60° möglich. Unter "Rehabilitationsergebnis" ist
festgehalten, dass unter Einzelinhalation die endotracheale Verschleimung reduziert werden konnte. Die Fachärztin für
Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde R1 berichtete unter dem 14. Februar 2007, der Kehlkopf sei entfernt worden, eine
Sprechfähigkeit bestehe eingeschränkt über ein Sprechventil, schweres Heben sei nicht möglich, der Patient leide an
elektrisierenden Missempfindungen im unteren Gesichts- und Halsbereich als Folge der Bestrahlung. Weiterhin
bestehe ein Lymphödem im Halsbereich und in der unteren Gesichtshälfte als Folge der Ausräumung der
Halslymphknoten beidseits, auch die Kopfbeweglichkeit sei eingeschränkt.
Das Sozialgericht ließ den Kläger durch den Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Prof. Dr. M1 begutachten.
Dieser traf in seinem aufgrund der ambulanten Untersuchung am 27. März 2008 erstellten schriftlichen
Sachverständigengutachten die Feststellung eines regelrechten Befundes bei Zustand nach vollständiger Kehlkopf-
und beiderseitiger Halslymphknotenentfernung. Das Tracheostoma sei reizlos, die Stimmprothese in regelrechter
Position. Eine übermäßige Sekretbildung oder ein signifikanter Hustenreiz habe sich nicht gezeigt, sodass die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht nicht vorlägen. Vielmehr könne
der Kläger öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise besuchen. Die Behinderung in Form der Laryngektomie
wirke nicht unzumutbar abstoßend oder störend. Auf das Gutachten (Blatt 62 ff. der Gerichtsakte) wird ergänzend
Bezug genommen.
Daraufhin regte der Kläger eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung an. Er leide noch immer sehr unter den
Folgen der schweren Erkrankung und könne die Situation mit der Stimmprothese noch immer nicht für sich
akzeptieren. Die eigenartige und jedem anderen Menschen selbst aus weiter Entfernung auffallende Stimme belaste
ihn und seinen Mut, in die Öffentlichkeit zu gehen, sehr. Auch bestätige die Fachärztin für Hals-, Nasen- und
Ohrenheilkunde R1 Kurzatmigkeit durch rezidivierende Verschleimungen.
Das Sozialgericht ließ den Kläger durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. M. begutachten. Dieser
traf aufgrund der ambulanten Untersuchung am 12. November 2008 die Feststellung, dass bezüglich des
Lokalbefundes am Kehlkopf, hinsichtlich Stimmgebung und Schleimbildung keine Beobachtungen auffällig seien, die
geeignet seien, das Ergebnis von Prof. Dr. M1 in Zweifel zu ziehen. Allerdings bestehe ein im Vergleich zur
Normalbevölkerung überdurchschnittlich häufiger Hustenreiz. Er gelangte zu der Einschätzung, dass die
gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" nicht vorlägen, weil der Kläger weder unzumutbar noch
abstoßend wirke. Der gegenüber dem Durchschnitt häufigere Hustenreiz sei wiederum weder besonders heftig noch
lang anhaltend. Er ermögliche durchaus die Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen. Es sei auch darauf
hinzuweisen, dass der Kläger in der Untersuchungssituation naturgemäß sehr viel mehr habe reden müssen, als es
bei einem Kino- oder Theaterbesuch der Fall sei, so dass die in der Untersuchungssituation beobachtete
Hustenfrequenz nicht auf solche Ereignisse übertragen werden könne.
Der Kläger widersprach dieser gutachtlichen Einschätzung unter Hinweis auf Befundberichte der Fachärztin für Hals-,
Nasen- und Ohrenheilkunde R1 vom 21. September 2007 und vom 9. Januar 2009. Danach komme es bei ihm zu
rezidivierenden Verschleimungen und Borkenbildungen in der Trachea mit Hustenanfällen. Mehrmals täglich müsse er
absaugen.
In seiner Stellungnahme hierzu vertritt Prof. Dr. M. die Auffassung, dass hierdurch neue Befunde nicht mitgeteilt
würden. Den Befundbericht vom 21. September 2007 habe er in seinem Gutachten bereits berücksichtigen können,
weil er ihm vorgelegen habe. An seiner Einschätzung halte er darum fest.
Das Sozialgericht hat in der mündlichen Verhandlung am 21. Oktober 2010 die Tochter des Klägers als Zeugin
vernommen. Diese hat angegeben, ihren Vater den "ganzen Tag husten" zu hören. Immer wenn sie im Badezimmer
sei, wo das Absauggerät stehe, müsse sie damit rechnen, dass dieser hereinkomme, um seine Sprechkanüle zu
reinigen. Nach ihren Beobachtungen geschehe dies etwa alle halbe Stunde.
Daraufhin hat das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 19. Juli 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 24. Oktober 2006 verurteilt, bei dem Kläger ab April 2009 das Merkzeichen "RF"
festzustellen. Auf die Entscheidung (Blatt 155 der Gerichtsakte) wird Bezug genommen. Sie ist der Beklagen am 12.
Januar 2010 zugestellt worden.
Mit ihrer am 5. Februar 2010 eingelegten Berufung trägt die Klägerin vor, das Urteil stelle eine juristische Zumutung
dar, weil eine Begründung der Entscheidung nicht erfolge. Dies wiege umso schwerer, als von zwei medizinischen
Sachverständigengutachten abgewichen werde, welche die Rechtsposition der Beklagten stützten. Dabei könnten
derartige Gutachten naturgemäß nicht durch subjektiv gefärbte Äußerungen der Tochter ausgehebelt werden. Aus
dem Gutachten des Prof. Dr. M. ergebe sich, dass der Kläger Bus und Bahn benutze. Dies belege, dass ihm auch der
Besuch öffentlicher Veranstaltungen möglich sei. Schließlich sei ein starker Hustenreiz in der mündlichen
Verhandlung vor dem Sozialgericht nicht aufgetreten. Die Kanüle sei in der Verhandlungspause gereinigt worden.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die im ersten Rechtszug ergangene Entscheidung für rechtens, weil ihm das begehrte Merzeichen zustehe.
Allerdings wolle er an keiner Verhandlung mehr teilnehmen und bitte um eine Entscheidung ohne seine Einbeziehung.
Das Berufungsgericht hat weitere Befundberichte eingeholt. Die Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde R1
verweist unter dem 10. Dezember 2010 auf ihre Mitteilung vom 9. Januar 2009, hinsichtlich derer sich keine Änderung
ergeben habe. In einem Befundbericht des Medizinischen Versorgungszentrums an der K. (Dr. R.) vom 1. Februar
2011 heißt es hinsichtlich der geäußerten Beschwerden, der Kläger fühle sich ständig schlapp, er habe nach wenigen
Schritten Luftnot, es trete Husten mit weißen Auswurf auf. Er traue sich wegen der Verständigungsschwierigkeiten
nicht aus der Wohnung.
Der Kläger hat sich mit Erklärung vom 30. September 2010 (Blatt 182 der Gerichtsakte), die Beklagte mit Erklärung
vom 5. Oktober 2010 (Blatt 183 der Gerichtsakte) mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden
erklärt. Gleichzeitig haben beide Beteiligte auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte und denjenigen der Akte des Versorgungamts, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind,
ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) Berufung, über
die der Berichterstatter gemäß § 155 Abs. 3 und 4 SGG und § 124 Abs. 2 SGG mit dem Einverständnis der
Beteiligten allein und ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden kann, ist auch begründet. Zu Unrecht hat
das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids verpflichtet, bei dem Kläger das Merkzeichen "RF"
festzustellen. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) erweist sich der angefochtene
Bescheid als rechtsfehlerfrei. Das begehrte Merkzeichen steht dem Kläger nicht zu.
Nach § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX)
stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer
Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitlichen
Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen sie auch insoweit die
erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX).
Die Voraussetzungen für die Vergabe des Merkzeichens "RF" sind gemäß § 69 Abs. 5 SGB IX in Verbindung mit § 3
Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung landesrechtlich im Bundesland Hamburg für die Zeit ab 1. April
2005 durch Art. 5 § 6 Abs. 1 Nr. 8 des Achten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge
(Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) vom 15. Oktober 2004 in der Fassung des Gesetzes vom 1. März 2005
(HmbGVBl. 2005, S. 40, 47) bzw. ab 1. März 2007 in der Fassung des Neunten Staatsvertrags zur Änderung
rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Neunter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in der Fassung des Gesetzes vom 15.
Februar 2007 (HmbGVBl. 2007, S. 38, 45) geregelt. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags
werden auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht schwerbehinderte Menschen befreit, deren Grad der Behinderung
nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig
nicht teilnehmen können.
Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgt die konkrete Prüfung dieser Voraussetzungen
nach Maßgabe der Rechtsprechung der Sozialgerichte und der in Nr. 33, Seite 141 f. der "Anhaltspunkte für die
ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (herausgegeben
vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005 (AHP)) niedergelegten Maßstäbe. Letztere sind
zwar kein Gesetz und auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen. Es handelt sich jedoch bei
ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung, die die möglichst gleichmäßige
Anwendung dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die AHP engen das Ermessen der Verwaltung
ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, als so genannte antizipierte
Sachverständigengutachten auch gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche
anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 18.
September 2003 – B 9 SB 3/02 R – BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr. 2 Rn. 18) grundsätzlich von diesen
auszugehen. Die AHP 2005 finden Anwendung, obwohl weder die späteren AHP 2008 noch die aufgrund § 30 Abs. 17
des Bundesversorgungsgesetzes erlassene und nach § 69 Abs. 5 Satz 5 SGB IX auch im Recht der behinderten
Menschen mit Blick auf die zu treffenden Feststellungen maßgebliche Versorgungsmedizin¬verordnung diese
fortgeschrieben haben. Denn der Landesgesetzgeber hat die Inhaltsbestimmung durch die AHP und die
Rechtsprechung mit der unveränderten Übernahme des überkommenen Normtextes (vgl. Art. 5 § 6 Abs. 1 Nr. 8 des
Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags) akzeptiert (vgl. Dau, jurisPR-SozR 22/2008 Anm. 5 Seite 2 f.).
Nach Nr. 33 der Anhaltspunkte sind die Voraussetzungen immer erfüllt bei behinderten Menschen - bei denen schwere
Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung)
- bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B.
Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können, - die durch ihre Behinderung auf
ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken (z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend
verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen
bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können), -
mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose, - nach Organtransplantation, wenn über einen
Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen
Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden, - geistig oder
seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher
Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören. Dabei müssen die
behinderten Menschen allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass
sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte
Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, erfüllen die
Voraussetzungen nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte
politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu
verstehen, die länger als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse kultureller
Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. Urteil vom 12. Februar
1997 – 9/9a RVs 2/96 – SozR 3-3780 § 4 Nr. 17; Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RVs 7/91 – SozR 3-3870 § 48 Nr.
2; Urteil vom 17. März 1982 – 9a/9 RVs 6/81 – SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der
Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens
ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht
nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom Bundessozialgericht
vertretenen Auslegung, der das erkennende Gericht folgt, muss der Schwerbehinderte praktisch an das Haus
gebunden sein, um einen Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können.
An der Erfüllung dieser Voraussetzungen fehlt es bei dem Kläger. Dafür spricht schon, dass er eigenem Bekunden
zufolge (vgl. die Erklärung gegenüber dem medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. M., Blatt 111 der Gerichtsakte)
öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Dass ihm die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen wegen der besonderen
Art seiner Sprache "unangenehm" ist, reicht hierfür nicht. Dafür, dass sich sein Anblick und seine natürlichen
Lebensäußerungen – etwa in Gestalt des Hustens – bei jedweder Veranstaltung als abstoßend oder störend und damit
unzumutbar für Dritte darstellen, gibt es auch sonst keinerlei Anhaltspunkte. Beide im gerichtlichen Verfahren tätig
gewesenen medizinischen Sachverständigen bestätigen vielmehr ebenso wie der im Verwaltungs-verfahren von der
Beklagten beauftragte Arzt, dass die Lebensäußerungen des Klägers nicht abstoßend oder unzumutbar störend
wirken. Den durch die medizinischen Sachverständigen getroffenen Feststellungen stehen weder die Äußerungen der
Tochter im Termin vor dem Sozialgericht noch die Befundberichte der Fachärztin für Hals-, Nasen- und
Ohrenheilkunde R1 entgegen. Beiden ist nämlich keine Angabe zum Grad der Belastung der Umgebung durch den
Kläger zu entnehmen. Die erforderliche Absaug-frequenz wird von Frau R1 mit "mehrmals täglich" angegeben und liegt
damit in einem die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht entgegenstehendem Bereich. Dass die Tochter
des Klägers dies als subjektiv störend empfindet (ich muss immer damit rechnen, dass er ins Bad kommt, wo das
Absauggerät steht), stellt keinen Maßstab für die zu treffende Entscheidung dar. Auch räumt sie ein, dass dies –
ebenso wie das bloße Reinigen der Sprechkanüle – an einigen Tagen häufiger, an anderen jedoch seltener geschieht.
Auch dies belegt, dass der Kläger nicht generell von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.