Urteil des LSG Hamburg vom 24.11.2005

LSG Ham: aufschiebende wirkung, bewilligung d, besondere härte, ausbildung, arbeitsmarkt, qualifikation, zusicherung, form, sozialhilfe, integration

Landessozialgericht Hamburg
Beschluss vom 24.11.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 51 AS 855/05 ER
Landessozialgericht Hamburg L 5 B 256/05 ER AS
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 24. August 2005 geändert
und die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Aufhebungsbescheide der Antragsgegnerin vom 4.
August 2005 in der Fassung der Entziehungsbescheide vom 23. August insofern angeordnet, als die Bescheide auch
die darlehnsweise Weitergewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen haben. Im
Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die Kosten ihrer
Rechtsverfolgung zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsteller vom 29. August 2005 gegen den Beschluss des Sozialge¬richts Hamburg (SG)
vom 24. August 2005, der das SG nicht abgeholfen und die es dem Landessozialge¬richt (LSG) zur Ent¬schei¬dung
vorge¬legt hat, ist statthaft (§ 172 Sozialge¬richts¬gesetz - SGG -), form- und fristge¬recht ein¬gelegt worden (§ 173
SGG) und auch sonst zuläs¬sig. Sie ist auch weitgehend begründet. Mit dem SG ist der Senat der Auffassung, dass
der von den Antragstellern begehrte vorläu¬fige Rechtsschutz mit dem Ziel, die Antragsgegnerin zur Weiterzahlung
der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II) über den 30. September 2005 hin¬aus zu
verpflichten, in der Form der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Wider¬spruchs gegen die
Aufhe¬bungsbe¬scheide vom 4. August 2005 in der Fassung der Entzie¬hungsbe¬scheide vom 23. August 2005 in
Betracht kommt. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG käme nur in Betracht, wenn es um
die Ver¬pflichtung zur Weiterge¬währung des Arbeitslo¬sengeldes II über eine mit der ursprünglichen Bewilligung
ausgespro¬chene Befristung hinausginge. Eine solche Befristung liegt hier nicht vor. Auch wenn die Antragsgegnerin
mit Bescheid vom 16. August 2005 Arbeitslo¬sengeld II befristet bis zum 31. August 2005 bewilligt hat, bein¬haltet
doch die von der Antragsgegnerin mit Beschei¬den vom 4. August, 16. August und 23. August 2005 getroffene
Regelung insgesamt eine vorzeitige Beendigung der ursprünglich bis zum 31. Oktober 2005 bzw. 30. November 2005
befristeten Bewilligung, d. h. eine Auf¬hebung der Bewilligung nicht schon ab dem 1. August 2005, son¬dern (erst) ab
dem 1. September 2005.
Das Gericht der Hauptsache kann in den Fällen, in denen der Widerspruch – wie hier gemäß § 39 SGB II der
Widerspruch der Antragsteller gegen die Entziehung des Alg II - keine auf¬schiebende Wirkung hat, die
aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Im Rahmen der gebotenen
Abwä¬gung des Interesses der Antrag¬steller am Fortbestand der Bewilligung mit dem Interesse der Antragsgegnerin
an ihrer Rücknahme (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer (ML/K/L), SGG 8. Auflage, § 86b Rdnr. 12) ist vordringlich
auf die Erfolgsaussichten des Widerspruchs der Antragsteller gegen die Rücknahme der Bewilligung abzustellen.
Diese beurteilt der Senat anders als das SG durch¬aus positiv. Der am XX.XXXXX 1984 in K./Afghanistan geborene
Antragsteller und die am XX.XXXXXXXX 1983 ebenda geborene Antragstellerin hatten als Auszubildende, deren
Ausbildungen – im Falle des Antragstellers ein im Wintersemester 2004 begonnenes Studium an der Techni¬schen
Universität (TU) Hamburg-Harburg im sechs Semester umfassenden Bachelor-Stu¬diengang Informations¬technologie
mit dem Abschluss "Bachelor of Science", im Falle der Antragstellerin ein im Sommersemester 2003 begonnenes
Studium an der Hochschule für angewandte Wissenschaft (HAW) in Hamburg im acht Semester umfassenden Diplom-
Stu¬diengang Informations- und Elektrotechnik - gemäß § 2 Bundesaus¬bildungsförderungsgesetz (BAföG) dem
Grunde nach förderungsfähig sind, gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – Grundsicherung für
Arbeitsuchende (SGB II) grundsätzlich keinen Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II. Dass
ihr Studium tatsächlich nicht nach dem BAföG gefördert wurde und wird, weil sie als Staats¬angehörige von
Afghanistan mit der bis zum 29. Juni 2005 geltenden Aufenthaltsbefugnis und der am 23. August 2005 gemäß § 26
Abs. 4 AufenthG – nicht, wie in § 8 Abs. 1 Nr. 4 BAföG vorausgesetzt, nach § 23 Abs. 2 AufenthG - erteilten
Niederlassungserlaubnis und der zwischenzeitlich ausgestellten so genannten Fiktionsbescheinigung die in § 8 Abs. 1
Nrn. 2 bis 9 und Abs. 2 BAföG geregelten ausländer- bzw. aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllen, ist
in diesem Zusam¬menhang unerheblich. Jedoch haben sie entgegen der Auffassung des SG Anspruch auf
Gewährung dieser Leistun¬gen als Darle¬hen gemäß § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II, da die Verweigerung der
Weiterzahlung für beide eine besondere, d. h. vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Härte beinhalten würde. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur vergleichbaren Regelung des § 26
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur vergleichbaren Regelung des § 26
Bundessozialhilfegesetz ((BSHG); Urteil vom 14. Oktober 1993, Az: 5 C 16/91, BVerwGE 94, 224) besteht eine
besondere Härte in diesem Sinne nur, wenn die Fol¬gen des Anspruchsausschlusses über das Maß hinausgehen,
das regelmäßig mit der Versa¬gung von Hilfe zum Lebensunterhalt für eine Ausbildung verbunden und vom
Gesetzgeber in Kauf genommen worden ist. Ein "besonderer" Härtefall liegt demnach erst dann vor, wenn im
Einzelfall Umstände hinzutreten, die einen Ausschluss von der Ausbildungs¬förderung durch Hilfe zum
Lebensunterhalt auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, die Sozialhilfe von den finan¬ziellen Lasten einer
Ausbildungsförderung freizuhalten, als übermä¬ßig hart, d.h. als unzu¬mutbar oder in hohem Maße unbillig,
erscheinen lassen. Diese recht unbestimmten Grundsätze hat die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte
(OVG) der Länder durch die Bildung von Fallgruppen ausgefüllt, die auf die hier einschlägige Bestimmung § 7 Abs. 5
Satz 2 SGB II übertragen werden können (vgl. hierzu OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. September 1995, Az: 4 M
5332/95, FEVS 46, 422). So hat das Oberver¬waltungsgericht Lüneburg das Vorliegen einer besonderen Härte u. a. in
solchen Fällen für mög¬lich gehalten, in denen die finanzielle Grundlage für die Ausbildung, die zuvor gesichert war,
entfallen ist, wenn dies vom Hilfe Suchenden nicht zu vertreten und die Ausbildung schon fortge¬schritten ist und der
Hilfe Suchende begründete Aussicht hat, wieder" zu seinem Geld zu kom¬men", und deshalb der Träger der
Sozialhilfe nur zur Überbrückung einer vorü¬bergehen¬den Notlage einspringen muss (OVG Lüneburg, Beschluss
vom 29. September 1995 a. a. O.). In Fortführung dieser Rechtsprechung hat das Landessozialgericht Niedersachsen-
Bremen einen besonderen Härtefall i. S. d. § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II angenommen, wenn die finanzielle Grund¬lage für
die Ausbildung, die zuvor gesichert war, entfallen ist, sofern dies vom Hilfesu¬chen¬den nicht zu vertreten ist, die
Ausbildung schon fortgeschritten ist und der Hilfesu¬chende begründete Aussicht hat, nach der Ausbildung eine
Erwerbstätigkeit ausüben zu kön¬nen (Beschluss vom 14. April 2005 – L 8 AS 36/05 ER – SozSich 2005, 180 für
eine nach dem SGB III förderungsfähige, zu einem Drittel absolvierte Ausbildung). Es sei nicht im Sinne des Gebotes
für erwerbsfähige Hilfebedürftige, ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen (§ 2 Abs. 2
Satz 2 SGB II), wenn bedürftige junge Menschen daran gehindert werden, Bildungsziele anzustreben und damit die
Voraussetzungen für eine effektive Einsetzung ihre Arbeitskraft zu schaffen. Das Hessische Landessozialgericht hat
sich dieser Auffassung angeschlossen (9. Senat, Beschluss vom 11. August 2005, Az: L 9 AS 14/05 ER,
veröffentlich in Juris, für eine Studierende nach dem dritten Semester eines sechs Semester umfassenden
Studienganges). Auch der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Er hält einen Abbruch des Studiums
aus finanziellen Gründen für beide Antragsteller für unzumutbar. Beiden ist über den Beginn ihres Studiums hinaus
Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG gewährt wor¬den. Beide konnten bei Aufnahme des Studiums von einer
gesicherten finanziellen Grundlage ausgehen. In beiden Fällen hatte der Sozialhilfeträger der mit ihm geführten
Rückspra¬che zufolge nach Grundsätzen, die im April 1998 in einem Rundschreiben niedergelegt worden waren, die
Härtefallregelung des § 26 BSHG angewandt. Maßgebend dafür waren der frü¬here Bezug von Hilfe zur Erziehung –
bis zum 10. Dezember 2000 - und der gesicherte Auf¬enthalt durch Besitz einer Aufenthaltsbefugnis und Ausschluss
einer Abschiebung. Es ist unerheblich, dass diese Handhabung durch die obergerichtliche Rechtsprechung der OVGe
nicht gedeckt war. Der Senat ist an diese Bewertung auch nicht gebunden. Erheblich ist in diesem Zusammenhang
aber, dass beide das Studium in der durch objektive Umstände, nämlich die angedeutete Weisungslage, legitimierten
Hoffnung aufgenommen haben, eine gesicherte finanzielle Grundlage für ihr Studium zu haben. Ohne den Übergang
vom BSHG zum SGB II wäre – weitere Bedürftigkeit unterstellt – die Sozialhilfe weitergezahlt worden. Beide haben im
Vertrauen auf diese Förderung bereits nennenswerte Anstrengungen im Stu¬dium unter¬nommen. Dies gilt
insbesondere für die Antragstellerin. Sie hatte bei Einstellung der Zahlun¬gen bereits das 5. Fachsemester und damit
weit mehr als die Hälfte ihres auf acht Semester angelegten Studiums zurückgelegt. Bei dieser Sachlage ist es ihr
nicht zuzumuten, das Stu¬dium abzubrechen und auf den Ertrag ihrer Anstren¬gungen zu verzichten. Dies gilt umso
mehr, als der Abschluss des Studiums in zeitlicher Hinsicht absehbar ist und ihr eine Arbeitsmarkt verwertbare
Qualifikation verschaffen wird. Bislang ist sie ohne jegli¬che berufli¬che Qualifikation, so dass sich die nach einem
Abbruch des Studiums anzustre¬bende berufli¬che Integration auf dem Arbeitsmarkt schwierig gestalten dürfte. Es
stellt sich die Frage, ob nicht die Fortsetzung des Studiums sogar im Interesse der Antragsgegnerin liegt. Dies gilt um
so mehr, als sich vor dem Hinter¬grund ihrer in § 3 Abs. 2 SGB II geregel¬ten Verpflich¬tung, erwerbsfähi¬gen
Hilfe¬bedürftigen, die – wie die Antragstellerin - das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, unverzüg¬lich eine
Arbeit oder eine Ausbildung zu vermitteln, die Frage aufdrängt, ob sie einem sol¬chen jugendli¬chen
Studienabbrecher ohne jegliche berufliche Qualifikation nicht ohnehin eine Ausbil¬dung anbieten müsste.
Dem¬gegen¬über hält sich die Belastung der Antragsgegnerin in Grenzen, weil sie lediglich eine darlehns¬weise
Gewährung des Alg II für eine absehbare Dauer beinhaltet. Es spricht nichts dagegen, dass die Antragstellerin ihr
Studium innerhalb der Regelstudienzeit erfolgreich abschließen und mit der erworbenen und auf dem Arbeitsmarkt
gefragten Qualifikation in der Lage sein wird, das Darlehn zurückzuzahlen. Dieselben Erwägungen gelten auch für den
Antragsteller. Der Umstand, dass er bei Einstel¬lung der Zahlungen anders als seine Schwester sein Studium noch
nicht zur Hälfte absolviert hatte, gebietet keine andere Beurteilung. Er hatte innerhalb des sechssemestrigen
Bachelor-Studien¬ganges das zweisemestrige Grundstudium zurückgelegt, stand vor dem Beginn des vier Semester
umfassenden Vertiefungsstudi¬ums und hatte damit nach einem Drittel der Gesamt¬studienzeit nicht mehr den
Status des Anfängers. Die verbleibende Studiendauer ist mit vier Semestern nur unwesentlich länger als im Falle der
Antragstellerin. Wie in ihrem Falle fällt auch hier zugunsten einer Weiterzahlung des Alg II ins Gewicht, dass
jedenfalls die vom Antragsteller eingeschlagene Fachrichtung, der angestrebte Abschluss und sein Lebens¬alter für
ein Gelingen seiner Integration in den Arbeitsmarkt nach dem Studium sprechen. Ein Anspruch der Antragsteller auf
Weitergewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wie bisher als Zuschuss – nicht nur als Darlehn
-, den sie in ihrem Widerspruch gegen die o. g. Bescheide, in ihrem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung dieses Widerspruchs sowie in ihrer Beschwerde jedenfalls nicht ausdrücklich ausge¬schlossen haben, lässt
sich auch nicht aus einer entsprechenden Zusage des Sozialhilfeträgers ableiten. Selbst wenn man mit dem
Hessischen Landessozialgericht (9. Senat, Beschluss vom 11. August 2005, Az: L 9 AS 14/05 ER - Juris - NDV-RD
2005, 102) die Auffassung vertritt, die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende seien hinsichtlich der
erwerbsfähigen Hilfe¬empfänger Funktionsnachfolger der bisher für Ansprüche nach dem BSHG zuständigen
Sozi¬alhilfeträger und an Zusagen über die weitere Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt gebunden, so erstreckt
sich doch die Bindungswirkung der Zusicherung nicht auf die Bewilli¬gung der Leistung in Form eines Zuschusses,
soweit wie hier die Leistung ab 1. Januar 2005 nach § 7 Abs. 5 SGB II nur noch als Darlehen gewährt werden kann.
Nach § 34 Abs. 3 Sozi¬algesetzbuch Zehntes Buch Verwaltungsverfahren (SGB X) ist die Behörde an die
Zusiche¬rung nicht mehr gebunden, wenn sich nach Abgabe der Zusicherung die Sach- oder Rechts¬lage derart
ändert, dass die Behörde bei Kenntnis der nachträglich eingetretenen Änderung die Zusicherung nicht gegeben hätte
oder aus rechtlichen Gründen nicht hätte geben dürfen. So verhält es sich hier. Der Sozialhilfeträger hätte im Falle der
Antragsteller die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt als Zuschuss im Rahmen von § 26 BSHG vor dem
Inkrafttreten des SGB II in Kenntnis der Tatsache, dass § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II ab dem 1. Januar 2005 die
Gewährung von Leistungen der hier in Rede stehenden Art nur noch als Darlehn vorsieht, mit Blick auf die Änderung
der Rechtslage bis längstens 31. Dezember 2004 befristen müssen (vgl. Hess. LSG a. a. O.). Die übrigen
Voraussetzungen für einen Anspruch auf die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts sind nicht strittig. Die
Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Die Beschränkung des
Erfolgs der Beschwerde auf die Verpflichtung der Antragsgegne¬rin zur darlehnweisen Gewährung von Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts ist nicht so wesentlich, dass sie sich in der Kostenentscheidung auswirken müsste.
Entschei¬dend dürfte für die Antragsteller gewesen sein, die Fortsetzung des Studiums finanziell zu sichern. Dies
geschieht auch mit der von ihnen erreichten einer Verpflichtung der Antrags¬gegnerin zur darlehnsweisen Gewährung
von Leistungen.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.