Urteil des LSG Hamburg vom 17.12.2010

LSG Ham: krankenversicherung, pflegebedürftigkeit, haushalt, versorgung, gutachter, körperpflege, ernährung, abgrenzung, hauptsache, ermächtigung

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 17.12.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 23 P 5/10 WA
Landessozialgericht Hamburg L 1 P 3/10
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Im Streit ist der Anspruch der Klägerin auf höhere Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe II
ab Mai 2009.
Die 1930 geborene Klägerin leidet unter einem demenziellen Syndrom. Sie wird durch ihren Ehemann im
gemeinsamen Haushalt gepflegt. Am 26. September 2007 beantragte sie bei der Beklagten Leistungen der
Pflegeversicherung nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Durch Bescheid vom 17. Januar 2008
bewilligte ihr die Beklagte ab 1. September 2007 Pflegegeld nach Pflegestufe I (205 EUR im Monat) sowie einen
zusätzlichen Betreuungsbetrag wegen demenzbedingter Fähigkeitsstörungen (bis zu 460 EUR im Jahr).
Am 15. Mai 2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Erhöhung der Pflegestufe. Gestützt auf ein Gutachten
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI vom 8.
Juli 2009, das einen Grundpflegebedarf von 51 Minuten täglich feststellte, lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin
durch Bescheid vom 22. Juli 2009 ab. Durch einen weiteren Bescheid vom 22. Juli 2009 bewilligte die Beklagte der
Klägerin jedoch ab 1. Mai 2009 erhöhte zusätzliche Betreuungsleistungen von bis zu 200 EUR im Monat. Auf ihren
Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 22. Juli 2009 beteiligte die Beklagte erneut den Medizinischen
Dienst der Krankenversicherung, der unter dem 4. September 2009 ein weiteres sozialmedizinisches Gutachten
vorlegte. Gestützt auf dieses wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 30.
November 2009 zurück.
Mit ihrer am 4. Dezember 2009 erhobenen Klage, die nach einer zwischenzeitlichen Erledigungserklärung der Klägerin
mit Einverständnis der Beklagten wieder aufgenommen worden war, verfolgte die Klägerin ihr Begehren weiter.
Das Sozialgericht ließ die Klägerin am 12. Februar 2010 einen Fragebogen über ihren Pflegebedarf ausfüllen.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 28. April 2010 abgewiesen. Die Pflegestufe II
(Schwerpflegebedürftigkeit) setze voraus, dass bei den in § 14 Abs. 4 Nr. 1 bis 3 SGB XI abschließend aufgezählten
persönlichen Verrichtungen der Grundpflege wöchentlich im Tagesschnitt mindestens 120 Minuten Hilfen benötigt
werden. Der nach dem Gesetz allein maßgebliche Grundpflegebedarf der Klägerin liege aber nicht nur nach dem von
der Beklagten eingeholten Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung weit unter 120 Minuten,
sondern es sei auch nach dem von der Klägerin dem Gericht eingereichten Fragebogen vernünftigerweise nicht daran
zu zweifeln, dass ihr Pflegebedarf unterhalb der Pflegestufe II liege. Denn Grundlage der anzurechnenden
Minutenzahlen sei nicht, welcher zeitliche Pflegeaufwand der Klägerin tatsächlich durch ihren Ehemann zugewendet
werde, sondern seien die Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung nach den Richtlinien des GKV-
Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches vom 8. Juni
2009. Danach könnten – ohne dass es einer genaueren Klärung durch das Gutachten eines unabhängigen
gerichtlichen Sachverständigen bedurft habe – für den Grundpflegebedarf insgesamt nicht mehr als 80 Minuten zu
berücksichtigen sein. Ein nach dem Gesetz zu berücksichtigender, zeitlich weiter reichender Hilfebedarf ergebe sich
auch nicht aus einem Betreuungsbedarf der Klägerin. Sie sei daher nicht schwerpflegebedürftig im Sinne der
Pflegeversicherung, die das Pflegerisiko nicht annähernd vollständig, sondern gesetzgeberisch gewollt lediglich
äußerst beschränkt abdecke.
Gegen den am 30. April 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 6. Mai 2010 Berufung eingelegt. Mit
dieser trägt sie unter anderem vor, dass sich ihr Gesundheitszustand in den vergangenen 1 ½ Jahre verschlechtert
habe. Es werde eine umfassende Untersuchung verlangt. Ihr Pflegebedarf durch ihren Ehemann belaufe sich auf 4 bis
5 Stunden am Tag.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 28. April 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Juli
2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2009 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihr Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe II ab Mai 2009 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hat darauf hingewiesen, die Klägerin könne einen neuen Antrag auf Höherstufung bei ihr stellen, wenn
sie meine, dass sich der Pflegeaufwand seit der letzten Begutachtung am 8. Juli 2009 erhöht und der
Krankheitszustand verschlechtert habe.
Im Berufungsverfahren hat das Gericht einen Befundbericht von Dr. B. und sodann ein Gutachten nach ambulanter
Untersuchung der Klägerin in ihrem Haushalt nach § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch den Facharzt für
Allgemeinmedizin W. eingeholt. Dieser erstattete sein Gutachten unter dem 24. August 2010. Danach könne am
Vorliegen einer schweren und weit fortgeschrittenen Demenz-Erkrankung (fortgeschrittenes demenzielles Syndrom)
der Klägerin kein Zweifel bestehen. Es ergebe sich kein wesentlicher Unterschied zur Begutachtung durch den
Medizinischen Dienst der Krankenversicherung vom 8. Juli 2009. Der jetzt festgestellte Hilfebedarf, der mit
durchschnittlich täglich 55 Minuten im Bereich der Grundpflege die Kriterien der Pflegestufe I erfülle, liege nach
Anamnese, Aktenlage und Befund unverändert seit der Erstantragstellung der Klägerin im Jahr 2007 vor. Ein
Grundpflegehilfebedarf, der die Kriterien der Pflegestufe II erfüllen würde (mindestens 120 Minuten pro Tag), liege
eindeutig und bei Weitem nicht vor.
Während des Berufungsverfahrens ist die Klägerin auf ihren Antrag bei der Beklagten auf Feststellung einer höheren
Pflegestufe durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung am 28. August 2010 in ihrem Haushalt
untersucht worden. Im Gutachten vom 12. September 2010 ist ausgeführt, es bestehe Pflegebedürftigkeit der Stufe I.
Die zeitlichen Voraussetzungen für eine Höherstufung in Pflegestufe II seien nicht erfüllt. Der Gutachter kam zu
einem Grundpflegebedarf der Klägerin von täglich 66 Minuten. Hierauf ist durch die Beklagte der Antrag der Klägerin
durch Bescheid vom 17. September 2010 abgelehnt worden.
Durch Beschluss vom 6. Oktober 2010 hat der Senat die Berufung nach § 153 Abs. 5 SGG dem Berichterstatter zur
Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des
Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte in der Besetzung mit dem Berichterstatter und zwei ehrenamtlichen Richtern verhandeln und
entscheiden, weil das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden hat und der Senat durch Beschluss vom 28.
September 2010 die Berufung dem Berichterstatter übertragen hat, der nach § 153 Abs. 5 SGG zusammen mit den
ehrenamtlichen Richtern entscheidet. Der Beschluss ist den Beteiligten am 13. Oktober 2010 zugestellt worden.
Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) erhoben.
Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch
auf höhere Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung.
Streitgegenstand ist allein der Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 30. November 2009. Der nachfolgende Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 17. September 2010 auf einen
neuen Antrag der Klägerin hin ist nicht nach § 96 SGG Gegenstand dieses Verfahrens geworden.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen,
geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden
Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in
erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XI sind nach
§ 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI pflegebedürftige Personen der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftigkeit) zuzuordnen, die
bei der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) oder der Mobilität (§ 14
Abs. 4 Nr. 3 SGB XI) mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich
mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) benötigen. Dabei
muss in der Pflegestufe II der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft
ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung
benötigt, nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden betragen;
hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen. Zur näheren Abgrenzung der Merkmale der
Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sind die auf der Ermächtigung in §§ 17 und 53a SGB XI beruhenden
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des
Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 8. Juni 2009 heranzuziehen.
Von diesen Maßgaben ausgehend kann die Klägerin Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe
II nicht beanspruchen.
Der Senat folgt den auf belastbaren tatsächlichen Erhebungen beruhenden und nachvollziehbaren Bewertungen in
dem vom Gericht eingeholten Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin W., das in seinen Grundaussagen
zudem mit dem nahezu zeitgleich vorgelegten, auch auf einer Untersuchung der Klägerin in ihrem Haushalt
beruhenden letzten Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 12. September 2010
übereinstimmt. Beide Gutachter sind unabhängig voneinander mit jeweils 55 bzw. 66 Minuten täglich weit von der
Annahme eines Grundpflegebedarfs der Klägerin in Höhe von 120 Minuten täglich entfernt.
Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt es nicht darauf an, in welchem zeitlichen Umfang sie tatsächlich täglich
von ihrem Ehemann gepflegt wird. Rechtlich entscheidend ist allein der nach dem SGB XI anzuerkennende
Pflegebedarf. Danach aber unterschreitet der durch die Gutachten festgestellte Grundpflegebedarf der Klägerin die
maßgebliche Schwelle von mindestens 120 Minuten täglich deutlich. Anhaltspunkte dafür, dass diesen
gutachterlichen Bewertungen unzutreffende Sachverhaltsannahmen in einem Ausmaß zugrunde liegen, dass der
pflegeversicherungsrechtlich anzuerkennende tägliche Grundpflegebedarf in etwa das Doppelte zu betragen habe, sind
weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.