Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 02.04.2017

LSG Berlin-Brandenburg: körperliche unversehrtheit, arzneimittel, ärztliche verordnung, versorgung, krankenversicherung, hauptsache, label, behandlung, therapie, urin

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 9.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 9 B 482/08 KR ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 SGG, § 30 Abs 4
AMG, § 31 Abs 4 S 2 AMG, § 73
Abs 3 AMG, § 27 Abs 1 S 2 Nr 3
SGB 5
Gesetzliche Krankenversicherung – Anspruch auf Versorgung mit
dem Arzneimittel Metopiron (Wirkstoff Metyrapon) bei Morbus
Cushing bei fehlender Zulassung – Importverbot oder
Möglichkeit der Einzeleinfuhr durch Apotheken durch
Anwendung von Ausnahmevorschriften – Off-Label-Use
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam
vom 10. November 2008 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin vorläufig bis zum 31. Juli 2009 mit dem
Arzneimittel Metopiron 250 mg, täglich dreimal zwei Kapseln, zu versorgen. Im Übrigen
wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das
Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Die Antragstellerin leidet unter Morbus Cushing. Sie begehrt im Beschwerdeverfahren
die Verpflichtung der Antragsgegnerin, sie zukünftig mit dem Arzneimittel Metopiron
(Wirkstoff Metyrapon) zu versorgen.
Die aus dem Tenor ersichtliche Regelungsanordnung im Sinne von § 86 b Abs. 2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat – im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts – zu
ergehen, weil dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
In gerichtlichen Eilverfahren ist es grundsätzlich statthaft, wenn sich die Fachgerichte bei
der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache
orientieren. Allerdings ist ihnen in den Fällen, in denen es um existentiell bedeutsame
Leistungen der Krankenversicherung für einen Antragsteller geht, eine lediglich
summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage verwehrt. Sie haben unter diesen
Voraussetzungen die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen. Ist dem Gericht eine
vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist
anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden; die grundrechtlichen Belange des
Antragstellers sind umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich
schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl.
Bundesverfassungsgericht, stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Februar 2007, 1
BvR 3101/06, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18).
Die Prüfung des geltend gemachten Anspruchs – Versorgung mit dem Arzneimittel
Metopiron – zeigt hier, dass komplizierte, vor allen Dingen arzneimittelrechtliche Fragen
im Raum stehen, die einer abschließenden Beantwortung im Eilverfahren nicht
zugänglich sind; gleichzeitig hält der Senat es jedenfalls nicht für offensichtlich
ausgeschlossen, dass die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren obsiegen wird, weil sie
einen Anspruch auf Versorgung mit dem genannten Arzneimittel nach den Grundsätzen
des so genannten Off-Label-Use hat.
Grundsätzlich bedarf ein Fertigarzneimittel zur Anwendung bei einem Versicherten der
arzneimittelrechtlichen Zulassung für das Indikationsgebiet, in dem es bei ihm
angewendet wird, um dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu
unterfallen. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ( § 2
Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch [SGB V]) nicht von der
Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 und
3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche ( § 21 Abs. 1
Arzneimittelgesetz [AMG]) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. nur Urteil vom 26. September 2006, B 1
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Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. nur Urteil vom 26. September 2006, B 1
KR 14/06 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 9). So liegt es im vorliegenden Fall, denn das
Arzneimittel Metopiron mit dem Wirkstoff Metyrapon verfügt über keine Zulassung im
Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes (AMG). Metopiron gehört nämlich zur Gruppe
der Nachzulassungspräparate, die bereits vor Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes
(1978) im Verkehr befindlich waren. Damit galt Metopiron zunächst als fiktiv zugelassen.
Da bis zum Stichtag 30. April 1990 für Metopiron kein Nachzulassungsantrag gestellt
worden war, verfügte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
mit Bescheid vom 30. April 1990 eine Löschung der Zulassung, so dass die
Verkehrsfähigkeit dieses Arzneimittels in Deutschland zum 31. Dezember 1992 endete.
Der Senat hält die Frage für offen (und damit im Hauptsacheverfahren zu klären), ob
Metopiron einem strikten Importverbot unterliegt (§ 30 Abs. 4 AMG) oder ob es im Wege
der Einzeleinfuhr von Apotheken nach der Ausnahmevorschrift in § 73 Abs. 3 AMG
beschafft und abgegeben werden darf. Dabei ist fraglich, ob sich nicht schon aus § 31
Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz in Verbindung mit § 30 Abs. 4 Satz 1 AMG ein strafbewehrtes
(§§ 96 Nr. 7, 97 Abs. 2 Nr. 8 AMG) Verbot des Inverkehrbringens und des Imports von
Metopiron ergibt. Gegebenenfalls ist hier der Erlöschenstatbestand aus § 31 Abs. 1 Nr. 3
AMG zu bejahen, so dass über § 31 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz AMG die strikten Verbote
aus § 30 Abs. 4 AMG gelten. Wäre dies der Fall, würde das Verbringungsverbot auch
nicht durch die Ausnahmevorschrift in § 73 Abs. 3 AMG durchbrochen werden können
(vgl. hierzu und zum Folgenden Bundessozialgericht, Urteil vom 17. März 2005, B 3 KR
2/05 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 25 ff.).
Auf der anderen Seite erscheint es arzneimittelrechtlich durchaus vertretbar
anzunehmen, dass das Erlöschen der Zulassung von Metopiron zum 31. Dezember
1992 nicht zur entsprechenden Geltung von § 30 Abs. 4 AMG führt und Metopiron so zu
behandeln ist, als wäre seine Zulassung in Deutschland nie beantragt worden. Damit
würde § 73 Abs. 3 AMG auf dieses Arzneimittel Anwendung finden mit der Folge, dass es
unter den Voraussetzungen von § 73 Abs. 3 AMG rechtmäßig von Apotheken importiert
und abgegeben werden darf (Beschaffung geringer Mengen auf besondere Bestellung
einzelner Patienten). Diese Auffassung vertritt auch die für die Überwachung des
Arzneimittelverkehrs zuständige Landesbehörde; das Landesamt für Soziales und
Versorgung des Landes Brandenburg hat in einem Schreiben vom 8. August 2008
darauf hingewiesen, dass § 73 Abs. 3 AMG eine Ausnahme vom generellen Importverbot
vorsieht, so dass auch das Arzneimittel Metopiron mit dem Wirkstoff Metyrapon
eingeführt werden dürfe. Im Hinblick auf diese Rechtsauffassung der zuständigen
Fachbehörde erscheint es jedenfalls im Eilverfahren hinnehmbar, dass die Antragstellerin
mit dem von ihr begehrten Arzneimittel versorgt wird.
Ist die arzneimittelrechtliche Problematik des vorliegenden Falles danach offen, bedarf
es im Verfahren des Eilrechtsschutzes vor diesem Hintergrund keiner weiteren
Erörterungen zu den Voraussetzungen des Off-Label-Use. Der Senat neigt allerdings zu
der Auffassung, dass die Krankheit der Klägerin – Morbus Cushing – lebensbedrohlich ist,
dass keine andere Therapie verfügbar ist und dass die begründete Aussicht auf einen
Behandlungserfolg besteht. Die Auffassung des Sozialgerichts, die Therapie mit
Metopiron nur als Begleitmaßnahme zur Strahlentherapie anzusehen, geht fehl. Die
Klägerin wurde im Juni 2008 zuletzt strahlentherapeutisch behandelt. Bis zum Eintritt der
Wirkung der Strahlentherapie nach 12 bis 36 Monaten ist es zur Vermeidung der
deletären Folgen des Morbus Cushing geboten, den Hypercortisolismus medikamentös
zu behandeln. Die Gabe des Wirkstoffs Metyrapon erscheint in diesem Zusammenhang
geradezu schulmäßig (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Auflage 2004,
Eintrag „Cushing-Syndrom“). Es handelt sich um keine Begleittherapie, sondern um eine
unentbehrliche Behandlung für den Zeitraum, in dem die Strahlentherapie noch nicht
greift.
Die einstweilige Anordnung war damit auf Grund einer Folgenabwägung zu erlassen. Das
Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1
Grundgesetz (GG) i.V.m. der Rechtschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebietet
es, eine Abwägung vorzunehmen, die die verfassungsrechtlich geschützten Belange der
Antragstellerin im gebotenen Maße zur Geltung bringt. Dabei waren die Grundsätze
anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht für die Fälle entwickelt hat, in denen von
der Entscheidung in einem gerichtlichen Verfahren mittelbar Lebensgefahr für den
Einzelnen ausgehen kann. Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgt die Pflicht der staatlichen
Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen;
behördliche und gerichtliche Verfahren müssen der grundlegenden objektiven
Wertentscheidung zugunsten des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit
gerecht werden (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2002, 1
BvR 1586/02, NJW 2003, S. 1236; nachfolgend Landessozialgericht Berlin, Beschluss des
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BvR 1586/02, NJW 2003, S. 1236; nachfolgend Landessozialgericht Berlin, Beschluss des
9. Senats vom 28. Januar 2003, L 9 B 20/02 KR ER W02 l).
Dabei sind in Gestalt einer Doppelhypothese die Folgen gegeneinander abzuwägen, die
auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung
nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch
doch bestanden hätte, und die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die
beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren
herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand.
Sollte die erstgenannte Alternative erfüllt sein, d.h. sollte eine einstweilige Anordnung im
Ergebnis zu Unrecht abgelehnt werden, so entstünden der Antragstellerin
schwerwiegende, gegebenenfalls nicht rückgängig machbare Nachteile. Nach dem
bisherigen Vorbringen der Antragstellerin und den von ihr vorgelegten medizinischen
Unterlagen erscheint nämlich nachvollziehbar, dass sich ihr Gesundheitszustand unter
der seit Juni 2008 erfolgenden Behandlung mit Metopiron stabilisiert hat. In seinem
Bericht vom 5. Mai 2009 gibt der behandelnde Endokrinologe an, die Tagesdosis habe
mittlerweile von viermal zwei Kapseln auf dreimal zwei Kapseln reduziert werden können.
Die kontrollfähigen Parameter wie Cortisol im Serum oder im Urin seien zumeist im
Zielbereich. Vor diesem Hintergrund erscheint es dem Senat unvertretbar,
Eilrechtsschutz zu versagen.
Die Folgen, die bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen Anordnung zum Nachteil
der Antragsgegnerin einträten, wiegen demgegenüber weniger schwer. Zwar entstünde
der Antragsgegnerin in diesem Falle ein messbarer finanzieller Schaden. Sie könnte ihn
nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 Zivilprozessordnung (ZPO) von der
Antragstellerin ersetzt verlangen, wenn sich im anschließenden Verfahren der
Hauptsache herausstellte, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im
Ergebnis nicht begründet war. Bei sachnaher Betrachtung muss allerdings angenommen
werden, dass angesichts der (vermutlich) schwachen finanziellen Situation der
Antragstellerin ein solcher Schadensersatzanspruch im Ergebnis nicht durchsetzbar
wäre. Gleichwohl muss die Abwägung eines bloßen finanziellen Schadens der
Antragsgegnerin auf der einen Seite und des Schutzes von Leben und körperlicher
Unversehrtheit der Antragstellerin auf der anderen Seite zu der aus dem Tenor
ersichtlichen Entscheidung führen.
Der Senat hat die zusprechende Entscheidung auf den 31. Juli 2009 befristet, da der
behandelnde Arzt in seinem Bericht vom 5. Mai 2009 einen Dosisrückgang beschreibt
und ein Absetzen der Medikation mit weiterem Abstand zur Strahlentherapie für möglich
hält. Der Senat weist gleichzeitig darauf hin, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf
Versorgung mit dem streitigen Arzneimittel auch über den 31. Juli 2009 hinaus besitzt,
sofern sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht ändern und qualifizierte ärztliche
Verordnungen für das Arzneimittel vorliegen, aus denen sich die Tagesdosis und die
voraussichtliche Dauer der Anwendung des Medikamentes ergibt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Sie berücksichtigt, dass die
Antragstellerin im Beschwerdeverfahren trotz der Befristung der einstweiligen Anordnung
im Wesentlichen obsiegt hat. Gleichzeitig bleibt es für das erstinstanzliche Verfahren bei
der Kostenentscheidung des Sozialgerichts im Beschluss vom 10. November 2008, denn
seinerzeit war der Eilantrag nicht stattgabereif. Die für eine stattgebende Entscheidung
unentbehrliche ärztliche Verordnung des begehrten Arzneimittels wurde nämlich erst am
2. April 2009 zu den Akten gereicht; in Zusammenhang mit dem Bericht des
behandelnden Arztes vom 5. Mai 2009, der Wirkstärke und Dosierung nennt, kam eine
zusprechende Entscheidung damit erst jetzt in Betracht.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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