Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 02.04.2017

LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, materielle rechtskraft, wichtiger grund, rechtsschutz, entziehung, erlass, werk, vollziehung, mitwirkungshandlung, bedürfnis

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
34. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 34 B 1982/08 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG, § 39
Nr 1 SGB 2, § 67 S 1 SGB 12, §
68 Abs 1 S 1 SGB 12, § 65 Abs 1
S 1 Nr 2 SGB 1
(einstweilige Anordnung - Institut der materiellen Rechtskraft -
Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gem
§ 67 SGB 12 - Versagung von Leistungen nach SGB 2
unterbliebener Mitwirkung - Grenzen der Mitwirkung - wichtiger
Grund)
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
9. September 2008 abgeändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des
Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 25. September 2008 wird
angeordnet.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte der Kosten des gesamten
einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
9. September 2008 ist gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetzt (SGG)
zulässig und teilweise begründet. Im Übrigen war die Beschwerde zurückzuweisen. Das
einstweilige Rechtsschutzgesuch des Antragstellers, mit dem er „für August 2008 (und
September 2008) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 351,00
Euro“ begehrt und mit dem er sich gegen „widerrechtliche Kürzungen aus vergangenen
Monaten“ wendet, hat nur teilweise Erfolg.
Dieses einstweilige Rechtsschutzgesuch ist nach § 86b Abs. 1 SGG zu beurteilen. Denn
mit dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 5. Mai 2008, der mit dem ebenfalls
unter dem 5. Mai 2008 ergangenen Sanktionsbescheid eine Einheit bildet, ist ihm
Arbeitslosengeld II für den Bewilligungszeitraum vom 1. Mai 2008 bis zum 31. August
2008 in gesetzlicher Höhe gewährt worden, monatlich jeweils abgesenkt um 35,00 Euro
für Mai 2008 und um 69,00 Euro für die Monate Juni bis August 2008 aufgrund der
verfügten Sanktion. Dieser Bescheid ist nach Aktenlage bestandskräftig geworden, so
dass der Kläger insoweit bereits keine Leistungen in ungekürzter Höhe beanspruchen
kann.
Mit dem Bescheid vom 5. Mai 2005 hat der Antragsgegner jedenfalls aber einen
Rechtsgrund geschaffen, aus dem der Antragsteller für die jeweiligen Monate zunächst
die Auszahlung der ihm bewilligten Leistungen verlangen kann. Mit Bescheid vom 25. Juli
2008 hat der Antragsgegner dem Antragsteller diese Leistungsbewilligung vom 1.
August 2008 an sinngemäß wegen fehlender Mitwirkung entzogen („…die o. g.
Leistungen werden ab dem 1. August 2008 ganz versagt.“). Ein Fall der Versagung ist
hier aufgrund des vorgenannten Bewilligungsbescheides und der tatsächlichen
Leistungsgewährung indes nicht gegeben. Denn nur eine noch nicht gewährte Leistung
kann versagt werden. In der Sache hat der Antragsgegner deshalb eine Entziehung der
bereits bewilligten Leistungen verfügt. Der gegen diesen Entziehungsbescheid vom
Antragsteller erhobene Widerspruch ist nach Aktenlage von dem Antragsgegner noch
nicht beschieden worden. Da dieser Widerspruch nach § 39 Nr. 1 Zweites Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. Eicher/Spellbrink, SGB
II, 2. Auflage 2008, § 39 RdNr. 16b, m. w. Nachw.). richtet sich der einstweilige
Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG.
Hiernach kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder
Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz
oder teilweise anordnen. Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen
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oder teilweise anordnen. Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen
ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen auf der
Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten an
der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen
Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Um eine Entscheidung zugunsten des
Bescheidadressaten zu treffen, ist zumindest erforderlich, dass bei summarischer
Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheides bestehen.
An diesen Grundsätzen gemessen war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des
Antragstellers gegen die angefochtene Entscheidung des Antragstellers anzuordnen.
Der Antragsgegner hat die Entziehung der Leistung verfügt, weil der Antragsteller nach
seiner Auffassung, trotz eines Hinweises auf die Rechtsfolgen einer Einladung vom 28.
April 2008 zu einer sozialmedizinischen Untersuchung am 8. Mai 2008 durch den
ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit dieser Einladung nicht gefolgt sei. Einen vom
Antragsteller mit Schreiben vom 9. Mai 2008 vorgeschlagenen und von dem
Antragsgegner bestätigten Ersatztermin am 15. Mai 2008 soll der Antragsteller ebenfalls
nicht wahrgenommen haben. Abgesehen davon, dass in der dem Gericht zur Verfügung
gestellten Verwaltungsakte, die den Verwaltungsvorgang von Januar 2008 bis zum Erlass
des Bescheides vom 5. Mai 2008 dokumentiert, nicht belegt ist ob, wann und welches
Einladungsschreiben konkret dem Antragsteller unter dem 28. April 2008 zugesandt
worden ist, so dass der Senat jedenfalls in diesem summarischen Verfahren nicht prüfen
kann, ob dieses Schreiben eine konkrete und unmissverständliche, auf den individuellen
Fall des Antragstellers bezogene Folgenbelehrung (vgl. § 66 Abs. 3 Erstes Buch
Sozialgesetzbuch [SGB I]) enthalten hat, die für Voraussetzung für die Entziehung von
Leistungen ist, ist zweifelhaft, ob der Antragsteller überhaupt die ihm abverlangte
Mitwirkungshandlung zumutbar erfüllen kann.
Nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I besteht eine Mitwirkungspflicht nicht, soweit ihre Erfüllung
dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. Unter einem
wichtigen Grund sind die die Willensbildung bestimmenden Umstände zu verstehen, die
die Weigerung bzw. die Nichterfüllung der Mitwirkungshandlung entschuldigen und sie als
berechtigt erscheinen lassen. Dabei sind auch Umstände seelischer, familiärer und
sozialer Art zu berücksichtigen (vgl. Seewald in Kasseler Kommentar, § 65 SGB I RdNr.
9f. und Hauck/Noftz, SGB I, K § 65 RdNr. 8).
Im vorliegenden Fall bestehen insoweit Zweifel, als der Antragsteller nach Aktenlage
Leistungen nach §§ 67 f. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Form von Beratung
und Unterstützung durch das Diakonische Werk erhält. Leistungen nach § 67 SGB XII
werden Betroffenen gewährt, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen
Schwierigkeiten verbunden sind und die aus eigener Kraft diese Schwierigkeiten nicht
überwinden können. Im Übrigen begründet auch der Verwaltungsvorgang des
Antragsgegners Zweifel daran, ob der Antragsteller, der u. a. mit einem Hausverbot
belegt worden ist, noch in der Lage ist, seine Interessen gegenüber dem Antragsgegner
angemessen wahrzunehmen. So hat der Antragsgegner nach Aktenlage allein seit
Januar 2008 eine fast unüberschaubare Vielzahl von Sanktionsbescheiden und
Bescheiden nach § 66 SGB I erlassen, gegen die der Antragsteller nur teilweise
Widerspruch eingelegt oder gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch genommen hat, so
dass auch vor diesem Hintergrund zu vermuten ist, dass er - möglicherweise aus in
seiner Persönlichkeit liegenden oder gesundheitlichen Gründen - nicht in der Lage ist,
seine Angelegenheiten verantwortungsbewusst in der gebotenen und erforderlichen Art
und Weise zu regeln. Insoweit dürfte eine mit dem zuständigen Sozialhilfeträger und
dem Diakonischen Werk abgestimmte Vorgehensweise geboten sein.
Soweit sich der Antragsteller sinngemäß gegen die in der Vergangenheit erlassenen
Bescheide wendet („widerrechtliche Kürzungen aus vergangenen Monaten“) und damit
auch gegen Sanktionsbescheide, die die Zeit vor dem 1. Mai 2008 betreffen, steht
diesem einstweiligen Rechtsschutzgesuch allerdings die Rechtskraft des Beschlusses
des Sozialgerichts Berlin vom 3. April 2008 (S 59 AS 9222/08 ER) entgegen. In diesem
Verfahren hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller
weitere Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 1. März 2008 bis zum 30. April 2008
zu erbringen und ein entsprechendes Rechtsschutzgesuch für die Zeit vom 1. Januar
2008 bis zum 28. Februar 2008 abgelehnt. Beschlüsse in einem Verfahren auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung erwachsen in formelle und materielle Rechtskraft, auch
soweit sie einen Antrag ablehnen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9.
Aufl., § 86b RdNr. 44 und § 141 RdNr. 5). Auch im Anordnungsverfahren besteht ein
Bedürfnis, durch das Institut der materiellen Rechtskraft einem fortgesetzten Streit unter
den Beteiligten über denselben Streitgegenstand entgegenzuwirken, die Belastung der
Gerichte zu vermeiden, sowie der Gefahr widersprechender Entscheidungen zu
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Gerichte zu vermeiden, sowie der Gefahr widersprechender Entscheidungen zu
begegnen (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Juli
2007, Aktenzeichen L 19 B 86/07 AS, zitiert nach Juris, RdNr. 8 m. w. Nachw.).
Soweit der Antragsteller sinngemäß in diesem Verfahren auch um einstweiligen
Rechtsschutz gegen die Bescheide vom 17. Juni 2008 in der Gestalt des
Widerspruchbescheides vom 8. Juli 2008 sowie gegen den Bescheid vom 4. Juli 2008
nachsucht, steht diesem Gesuch die Bestandskraft dieser Bescheide entgegen. Der
Antragsteller hat nach Aktenlage weder gegen den erstgenannten Bescheid Klage noch
gegen den Bescheid vom 4. Juli 2008 Widerspruch erhoben.
Soweit der Antragsteller Leistungen für September 2008 begehrt, kann sein einstweiliges
Rechtsschutzgesuch schon deshalb keinen Erfolg haben, als er nach Aktenlage nach
Ablauf des letzten Bewilligungszeitraums, am 31. August 2008, keinen
Fortzahlungsantrag gestellt hat. Bevor gerichtlicher Rechtsschutz in Anspruch
genommen wird, muss der Betroffene zunächst versuchen, seinen Anspruch durch einen
entsprechenden Antrag bei dem zuständigen Leistungsträger durchzusetzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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