Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 02.04.2017

LSG Berlin-Brandenburg: unbestimmter rechtsbegriff, altersrente, angemessenheit, unterkunftskosten, umzug, betriebskosten, diagnose, behandlung, mittelwert, heizung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
14. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 14 B 1650/07 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 1 S 1 SGB 2, § 22 Abs
1 S 3 SGB 2, § 27 WoFG, § 5
WoBindG, § 558c BGB
Arbeitslosengeld II - Angemessenheit der Unterkunftskosten -
Unzumutbarkeit des Umzuges - Erkrankung - Alter - Wohndauer
- Glaubhaftmachung - Berlin
Leitsatz
Zur Glaubhaftmachung der Unzumutbarkeit eines Umzugs aus gesundheitlichen Gründen
durch ein ärztliches Attest und zur Zumutbarkeit der Senkung der Unterkunftskosten bei über
60jährigen Hilfebedürftigen nach langer Wohndauer.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
15. August 2007 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Rechtsanwältin M
B wird abgelehnt.
Gründe
Die zulässige (§§ 172 Abs. 1, 173 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) Beschwerde
der Antragsteller hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen
Anordnung zu Recht abgelehnt.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung nur ergehen, wenn
dies in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint. Dies erfordert zunächst, dass die Voraussetzungen des geltend
gemachten Anspruchs, der durch die einstweilige Anordnung gesichert werden soll, mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben (glaubhaft gemacht) sind (sog.
Anordnungsanspruch). Ein solcher Anordnungsanspruch besteht nicht.
Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) sind
Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu
erbringen, soweit diese angemessen sind. Übersteigen die Aufwendungen für Unterkunft
den angemessenen Umfang, so sind sie als Bedarf so lange zu berücksichtigen, wie es
dem Hilfebedürftigen nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen
Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu
senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate (§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II).
Der Antragsgegner hat den Antragstellern Leistungen für Unterkunft und Heizung ab
September 2007 nicht (mehr) in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu erbringen,
weil diese das Maß des Angemessenen übersteigen. "Angemessenheit" ist ein
unbestimmter Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung
unterliegt. Mangels einer näheren Regelung durch eine Rechtsverordnung (vgl. § 27 Nr. 1
SGB II) greift der Senat zur näheren Bestimmung dessen, was als „angemessene
Aufwendungen“ i.S.d. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzusehen sind, zunächst auf die vom
hier zuständigen kommunalen Träger erlassenen Ausführungsvorschriften zur Ermittlung
angemessener Kosten der Wohnung gem. § 22 SGB II der (B) Senatsverwaltung für
Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz vom 7. Juni 2005 (AV Wohnen) zurück, die
zwar das Gericht nicht binden, aber erkennen lassen, was der kommunale Träger für
„angemessen“ hält, und dafür auch dem Gericht als Hinweis dienen können (Beschlüsse
des Senats vom 31. Juli 2006 – L 14 B 168/06 AS ER –, 28. September 2006 – L 14 B
733/06 AS ER – und vom 15. März 2007 – L 14 B 1218/06 AS ER –). Nach Nr. 4 Abs. 2 der
AV-Wohnen ist für den Drei-Personen-Haushalt der Antragsteller eine Warmmiete bis zu
542 € monatlich angemessen. Wegen der langen Wohndauer und des Alters des
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542 € monatlich angemessen. Wegen der langen Wohndauer und des Alters des
Antragstellers zu 2 (über 60 Jahre) hat der Antragsgegner diesen Richtwert um 10 %
erhöht und sieht daher Wohnungskosten sogar in Höhe von 596,20 € als angemessen
an. Der Senat hat keine Bedenken, sich dieser Bewertung insoweit anzuschließen, als er
die jetzige Wohnung der Antragstellerin für unangemessen groß (111,12 qm) und –
deshalb – zu teuer (768,07 € Brutto-Warmmiete) hält.
Diese Einschätzung wird durch die im Land Berlin geltenden Bestimmungen für den
sozialen Wohnungsbau bzw. die Vergabe von Wohnberechtigungsscheinen gestützt. In B
ist für eine aus drei Personen bestehende Bedarfsgemeinschaft eine 2,5 bis 3-Zimmer-
Wohnung (vgl. Ziff. 8 Abs. 1 der zur Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz
i.V.m. § 27 Abs. 1 bis 5 Wohnraumförderungsgesetz erlassenen
Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15. Dezember 2004
) mit einer Größe bis zu 75 qm (Abschnitt II Ziff. 1 Buchst a der
Anlage 1 der WFB 1990idF der VVÄndWFB 1990) als angemessen anzusehen. Sodann ist
der Wohnstandard festzustellen, wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein einfacher und
im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Letztlich kommt
es darauf an, dass das Produkt aus Wohnfläche und dem diesem Standard
entsprechenden qm-Preis, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, der
Angemessenheit entspricht (so genannte Produkttheorie). Dabei ist der räumliche
Vergleichsmaßstab für den Mietwohnungsstandard so zu wählen, dass dem
grundsätzlich zu respektierenden Recht des Leistungsempfängers auf Verbleib in seinem
sozialen Umfeld ausreichend Rechnung getragen wird.
Einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen steht nur „ein einfacher und im unteren Segment
liegender Ausstattungsgrad der Wohnung“ zu (Bundessozialgericht, Urteil vom 7.
November 2006 – B 7b AS 10/06 R –). Dabei sind die Bewertungen des örtlichen, gemäß
§§ 558c und 558d Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) qualifizierten Mietspiegels des Landes
Berlin zugrunde zu legen. Die Nettokaltmieten pro Quadratmeter betragen nach dem
Berliner Mietspiegel 2007 vom 11. Juli 2007 (ABl. S. 1797) für Wohnungen dieser Größe
(mit Sammelheizung, Bad und Innentoilette) in einfacher Wohnlage 4,11 € (bei einfacher
Ausstattung und Fertigstellung zwischen 1956 - 1964), 4,31 € (Mittelwert bei
Fertigstellung der Wohnung zwischen 1950 und 1955) oder auch 4,35 € (Mittelwert bei
Fertigstellung der Wohnung zwischen 1965 und 1972). Hierzu sind zusätzlich „warme"
Betriebskosten („kalte“ Betriebskosten zuzüglich Heizkosten und Warmwasser) von
mittlerweile durchschnittlich 2,74 EUR pro qm (vgl. Betriebskostenspiegel 2006 des
Deutschen Mieterbundes unter http://www.mieterbund.de/presse/2006/pm 2006 12 14-
2.html) zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich nach alledem höchstens eine
Angemessenheitsgrenze für Bruttowarmmieten in Höhe von monatlich 531,80 EUR
(326,25 EUR Kaltmiete [4,35 EUR x 75 qm] und 205,05 EUR „warme“ Betriebskosten
[2,74 x 75 qm]), die im Übrigen den von dem Antragsgegner nach der AV Wohnen
zugrunde gelegten Wert sogar noch unterschreitet.
Wohnungen unterhalb der vom Antragsgegner als angemessen angesehenen Kosten
sind auch konkret verfügbar und zugänglich. Es ist nicht – zumindest – glaubhaft
gemacht, dass entsprechende Wohnungen nicht vorhanden sind. Zu den Bemühungen
der Antragsteller um eine kostengünstigere Wohnung haben sie lediglich vorgetragen,
dass bei einer Vorsprache bei der Gesellschaft D keine Wohnungen mit einer Miete bis
zu 572,24 € vorhanden gewesen seien. Eine solche einmalige Vorsprache – die zudem
nicht belegt ist – reicht jedoch für ein substantielles Bemühen um Beschaffung einer
kostengünstigeren Wohnung nicht aus, zumal unerheblich ist, welche Wohnungen die D
anbietet. Es ist allgemein bekannt, dass der Wohnungsmarkt in B, auch bezogen auf
einzelne Bezirke, entspannt ist. Im Übrigen zeigt bereits eine kurze Recherche zu den
über Internet zugänglichen Wohnungsangeboten (z.B. immobilienscout24), dass auch in
C in einfacher Wohnlage 2,5- bis 3-Zimmerwohnungen zwischen 65 und 75 qm mit einer
Bruttowarmmiete innerhalb der vom Antragsgegner als angemessen angesehenen
Mietobergrenze vorhanden sind. Schließlich ist es den Antragstellern angesichts der
außergewöhnlichen Größe ihrer jetzigen Wohnung von über 110 qm – die die Teilung
eines großen Zimmers ermöglichen dürfte – unbenommen, eine Senkung der
Unterkunftskosten auch durch die Untervermietung eines Zimmers zu bewirken.
Die Antragsteller haben auch nicht glaubhaft gemacht, dass es ihnen nicht möglich oder
nicht zumutbar ist, die Unterkunftskosten zu senken. Zwar ist für die Antragstellerin zu
1) erstmals im Beschwerdeverfahren ein ärztliches Attest ihres behandelnden
Hausarztes vorgelegt worden, wonach wegen „einer depressiven Erkrankung“ aus
ärztlicher Sicht kein Umzug durchgeführt werden soll. Mit diesem Attest ist jedoch nicht
hinreichend belegt, dass die Antragstellerin zu 1) an einer Krankheit leidet, wegen der sie
(vorübergehend?) nicht in der Lage sein soll, in eine andere Wohnung zu ziehen. In dem
ärztlichen Attest wird weder eine genaue medizinische Diagnose noch Art und Umfang
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ärztlichen Attest wird weder eine genaue medizinische Diagnose noch Art und Umfang
der Behandlung mitgeteilt, und es fehlt an jeder Aussage zur Prognose der
Krankheitsentwicklung. Ferner ist nicht erkennbar, welche Umstände den
Allgemeinmediziner F befähigen, die auf fachfremdem Gebiet liegende Diagnose zu
stellen und die Beurteilung einer Verschlechterung im Falle eines Umzugs vorzunehmen.
Anhaltspunkte dafür, dass sich die Antragstellerin zu 1) in der Behandlung eines
Facharztes bzw. einer Fachärztin für Psychiatrie oder Psychotherapie befindet, liegen
nicht vor, denn sonst wäre ein entsprechendes Attest eingereicht worden. Bereits dieser
Umstand spricht gegen eine schwerwiegende psychische Erkrankung, ferner die
Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit, die sogar noch ausgeweitet werden soll.
Auch das Alter des 1946 geborenen Antragstellers zu 2) und die lange Mietdauer von
mehr als 20 Jahren führen nicht dazu, dass ein Umzug (oder die Untervermietung)
unzumutbar i.S.v. § 22 Abs. 1 SGB II wäre. Einerseits überschreitet der Antragsteller zu
2) mit 60 Jahren nur geringfügig die Grenze, nach der nach der „AV Wohnen“ ein Umzug
„in der Regel“ bei langer Wohndauer nicht verlangt werden soll, andererseits weist der
Antragsgegner zu Recht darauf hin, dass die angemessenen Wohnkosten in
außergewöhnlich hohem Maße überschritten werden. Wie bereits zur Angemessenheit
der Miete ausgeführt, vermögen die Ausführungsbestimmungen in der „AV Wohnen“
das Gericht nicht zu binden, sie sind lediglich Anhaltspunkte für das, was der Träger für
„zumutbar“ ansieht und geben Hinweise für eine Auslegung. Der Begriff der
Zumutbarkeit ist ein gerichtlich voll nachprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff.
Unzumutbar ist ein Wohnungswechsel regelmäßig dann, wenn in kurzer Zeit ein Ende
der Hilfebedürftigkeit abzusehen ist (Lang, in: Eicher/Spellbrink SGB II, § 22 Rdnr. 56).
Auch insoweit ist das Lebensalter von Bedeutung. Sofern weitere Umstände
dazukommen (wie beispielsweise eine lange Wohndauer) wird bei über 60jährigen
Hilfedürftigen regelmäßig ein Wohnungswechsel nicht gefordert werden, wenn zu
erwarten ist, dass mit Bezug einer Altersrente spätestens ab dem 65. Lebensjahr der
Lebensunterhalt der Bedarfsgemeinschaft aus eigenen Mitteln (der Altersrente)
bestritten werden kann. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners im Schreiben
vom 7. März 2007 kommt es diesbezüglich auch nicht darauf an, dass nur ein Mitglied
der Bedarfsgemeinschaft das 60. Lebensjahr vollendet hat. Sofern der Bedarf der
Bedarfsgemeinschaft insgesamt durch den Bezug einer Altersrente sichergestellt wäre,
wäre ein Wohnungswechsel regelmäßig nicht (mehr) zumutbar. Vorliegend spricht das
Alter des Antragstellers zu 2) aber nicht gegen einen Wohnungswechsel, denn es ist
nicht damit zu rechnen, dass die Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft in den
nächsten Jahren (bei Vollendung des 65. Lebensjahres des Antragstellers zu 2)) enden
wird. Der Antragsteller zu 2) kann nach der Rentenauskunft der Deutschen
Rentenversicherung Berlin-Brandenburg vom 20. Juli 2006 lediglich mit einer Altersrente
bei Vollendung des 65. Lebensjahres - also im September 2011 - in Höhe von 242,01 €
rechnen. Sofern weiterhin Beiträge in Höhe der vergangenen fünf Jahre gezahlt werden,
erhöht sich die zu erwartende Altersrente auf 267,58 € monatlich. Mit dieser geringen
Rente ist der Antragsteller zu 2) jedoch nicht einmal dazu in der Lage, seinen eigenen
Bedarf sicherzustellen und wird weiterhin auf ergänzende Sozialhilfeleistungen
angewiesen sein. Erst recht ist er nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für seine Frau
und sein Kind zu bestreiten, so dass die Bedarfsgemeinschaft absehbar dauerhaft
hilfebedürftig bleiben wird.
Auch die selbständige Tätigkeit der Antragstellerin zu 1) als Handelsvertreterin für
Textilien rechtfertigt es nicht, von einer absehbar kurzen Dauer der Hilfebedürftigkeit der
Bedarfsgemeinschaft auszugehen. Im Jahr 2006 hat die Antragstellerin (ohne
Abschreibungen und Kfz-Kosten) einen durchschnittlichen monatlichen Gewinn in Höhe
von 105,22 Euro, in der Zeit von Januar bis Juni 2007 sogar nur noch in Höhe von 12,01 €
erzielt. Angesichts dieser niedrigen Einkünfte ist die Erwartung nicht gerechtfertigt, dass
die Antragstellerin zu 1) in absehbarer Zeit den Lebensunterhalt der
Bedarfsgemeinschaft sicherstellen kann.
Die Antragsteller haben nach allem nur noch Anspruch auf Erstattung ihrer
angemessenen Aufwendungen. Deren Grenze sieht der Senat – wie zuvor erörtert – bei
einem Betrag von mehr als 596,20 € (abzüglich der Energiepauschale in Höhe von 16,96
€ ergibt sich ein Betrag von 579,24 Euro) im Monat als überschritten an. Nur bis zu
dieser Grenze können die Antragsteller die Übernahme ihrer Aufwendungen verlangen.
Da der Antragsgegner einen entsprechenden Anspruch anerkennt, konnte das auf
Leistung höherer Kosten der Unterkunft gerichtete Begehren der Antragsteller deshalb
keinen Erfolg haben.
Für das Beschwerdeverfahren ist Prozesskostenhilfe nicht zu bewilligen, da die
beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 114 Satz 1
der Zivilprozessordnung i.V.m. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG).
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Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG unter Berücksichtigung des
Ergebnisses in der Sache.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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