Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 02.04.2017

LSG Berlin-Brandenburg: verfassungskonforme auslegung, behinderung, verordnung, hauptsache, eltern, erlass, fremder, berechtigung, gewährleistung, beihilfe

1
2
3
4
Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 11 SB 254/09 B ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 SGG, Art 2 Abs 1
GG, Art 3 Abs 3 S 2 GG, Art 6
GG, Art 19 Abs 4 GG
Schwerbehindertenrecht - Feststellung einer außergewöhnlichen
Gehbehinderung als Voraussetzung der Zuerkennung des
Merkzeichens "T" zur Nutzung des besonderen Fahrdienstes im
Land Berlin - Störung der kognitiven Fähigkeiten mit
ausgeprägter Störung der Orientierungsfähigkeit
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 10. Juni 2009 aufgehoben und der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Instanzen nicht zu erstatten.
Gründe
Die zulässige, insbesondere nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte
Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 10. Juni
2009 ist begründet.
Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, längstens jedoch bis einschließlich
30. September 2009, das Merkzeichen „T“ zur Nutzung des besonderen Fahrdienstes im
Land Berlin zuzuerkennen.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis ergehen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der betreffende Antragsteller das Bestehen des zu
sichernden materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie die besondere
Dringlichkeit des Erlasses der begehrten einstweiligen Anordnung (Anordnungsgrund)
glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der
Zivilprozessordnung - ZPO -). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des
Eilverfahrens ergeben sich aus dem in Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG)
verankerten Gebot effektiven Rechtsschutzes, wenn ohne ihn schwere und
unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher
Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. In solchen
Fällen sind die Gerichte, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der
widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache
orientieren, gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine abschließende
und nicht nur summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet
auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des
Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht. Ist dem Gericht
dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist
anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, in deren Rahmen ebenfalls die
grundrechtlichen Belange des jeweiligen Antragstellers umfassend einzustellen sind. Die
Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen.
Dies gilt ganz besonderes, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine
Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich
erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. u. a.
BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2009 - 1 BvR 120/09 -, Beschluss vom 12. Mai 2005 -
1 BvR 569/05 -, Beschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 -, jeweils zitiert nach
juris).
Hiervon ausgehend sind vorliegend die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten
einstweiligen Anordnung nicht erfüllt. Ebenso wie das Sozialgericht geht der Senat dabei
5
6
7
einstweiligen Anordnung nicht erfüllt. Ebenso wie das Sozialgericht geht der Senat dabei
davon aus, dass vorliegend die sich aus Artikel 19 Abs. 4 GG ergebenden besonderen
Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens zu beachten sind, weil der
Antragsteller mit der Zuerkennung des Merkzeichens „T“ eine Rechtsposition erstrebt,
die letztlich dazu dient, ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, das
sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Dem Antragsteller drohen
deshalb bei einer Versagung von Eilrechtsschutz schwere und unzumutbare Nachteile,
wenn nicht auf Grund einer abschließenden Prüfung, wie sie in einem Verfahren der
Hauptsache vorzunehmen wäre, die Möglichkeit einer zeitweilig andauernden Verletzung
der grundgesetzlichen Gewährleistung der Menschenwürde verneint werden kann.
Anders als das Sozialgericht hält der Senat jedoch die Sach- und Rechtslage des Falles
nach Lage der Akten für ausreichend geklärt und verneint einen Anordnungsanspruch
aufgrund abschließender Prüfung. Hierzu ist im Einzelnen Folgendes auszuführen:
Anspruchsgrundlage für die Erteilung des Nachteilsausgleichs „T“, welcher zur Nutzung
des besonderen Fahrdienstes im Land Berlin berechtigt, ist § 1 Abs. 1 der Verordnung
über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes vom 31. Juli 2001 in der Fassung der
Zweiten Änderungsverordnung vom 22. Juni 2005 (GVBl. S. 342). Nach Satz 1 dieser
Vorschrift ergibt sich die Berechtigung, den besonderen Fahrdienst zu nutzen, aus dem
Feststellungsverfahren und der Bescheiderteilung mit dem Merkzeichen „T“ durch das
Versorgungsamt. Dafür ist nach Satz 2 der Vorschrift Voraussetzung, dass das
Merkzeichen „aG“, ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von mindestens 80
vom Hundert und Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen gegenüber dem
Versorgungsamt nachgewiesen werden.
Der Antragsteller hat jedenfalls das Vorliegen der Voraussetzungen für die Feststellung
des Nachteilsausgleichs „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) nicht glaubhaft
gemacht. Für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ist gemäß § 3
Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) die Vorschrift des §
6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) in Verbindung mit Nr. 11 der zu § 46
Straßenverkehrsordnung (StVO) erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV-
StVO) heranzuziehen (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a SB 5/05 R -,
Behindertenrecht 2008, S. 138-141). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert, wer
sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit
großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu gehören
Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte,
Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder
nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder
armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher
Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis
gleichzustellen sind. Der Antragsteller gehört weder zu dem erstgenannten
Personenkreis, noch liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass er diesem
Personenkreis gleichzustellen ist. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine
Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter
ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten
oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (vgl. BSG, a. a. O.). Dabei müssen
seine Leiden in ihren funktionellen Auswirkungen mit den Leiden der erstgenannten
Gruppen von Schwerbehinderten vergleichbar sein; der Leidenszustand muss also
wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das
Schwerste einschränken. Hingegen können insbesondere Störungen der
Orientierungsfähigkeit einen Anspruch auf Feststellung einer außergewöhnlichen
Gehbehinderung nicht begründen (vgl. BSG, Urteil vom 6. November 1985 – 9a RVs 7/83
– SozR 3870 § 3 Nr. 18, Urteil vom 13. Dezember 1994 – 9 RVs 3/94 – SozR 3 -3870 § 4
Nr. 11).
Danach kann unter Würdigung der vorliegenden ärztlichen Befunde, insbesondere des
ausführlichen Befundberichtes der behandelnden Fachärztin für Neurologie und
Psychiatrie Dr. M-P vom 27. Mai 2009, eine außergewöhnliche Gehbehinderung des
Antragstellers nicht festgestellt werden. Denn nach den Feststellungen dieser Ärztin
beruht die Einschränkung der Beweglichkeit des Antragstellers vor allem auf der als
Folge einer Herpes-Encephalitis eingetretenen Störung seiner kognitiven Fähigkeiten,
insbesondere einer ausgeprägten Störung der Orientierungsfähigkeit. Die darüber
hinaus von der Ärztin diagnostizierte neurologisch bedingte Gangstörung (insbesondere
frontale Gangapraxie- und Ataxie) kann nach dem Schweregrad der von ihr
festgestellten funktionellen Auswirkungen nicht den Gehbehinderungen der oben
genannten Personengruppen gleichgestellt werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 29. März
2007 – B 9a SB 5/05 R – a. a. O.) Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Beurteilung der
Ärztin, der Antragsteller sei auf absehbare Zeit nicht in der Lage, sich in einem Radius
8
9
10
11
12
Ärztin, der Antragsteller sei auf absehbare Zeit nicht in der Lage, sich in einem Radius
größer als 1 km ohne fremde Hilfe selbständig zu bewegen; denn diese stützt sie „vor
allem“ auf die kognitiven Störungen des Antragstellers, durch die die Gangstörung
„potenziert“ werde.
Da nach dem Vorstehenden – insbesondere nach den Ausführungen der behandelnden
Ärztin, die zu weiteren Ermittlungen keinen Anlass bieten - die Voraussetzungen für die
Feststellung des Nachteilsausgleichs „aG“ nicht vorliegen, kann dem Antragsteller auch
der Nachteilausgleich „T“ nicht zuerkannt werden. Weder ist eine verfassungskonforme
Auslegung des § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen
Fahrdienstes (im Folgenden: Fahrdienst-V) geboten, noch ergibt sich ein Anspruch auf
Feststellung des Nachteilsausgleichs „T“ unmittelbar aus den Grundrechten des
Antragstellers, insbesondere nicht aus Artikel 2 Abs. 1, 3 Abs. 3 Satz 2 und 6 GG. Eine
verfassungswidrige Regelungslücke liegt nicht vor.
Dass die Fahrdienst-V für die Berechtigung, den besonderen Fahrdienst zu nutzen,
neben dem Nachweis eines mobilitätsbedingten Grades der Behinderung von
mindestens 80 und von Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen auch den Nachweis
einer außergewöhnlichen Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG fordert,
ist sachgerecht, denn die Bereitstellung eines Fahrdienstes erscheint nur dann geboten,
wenn es - neben den weiteren oben bezeichneten Voraussetzungen - dem Betroffenen
wegen einer Behinderung beim Gehen nicht zuzumuten ist, längere Wege insbesondere
zum Kraftfahrzeug oder zu einer Haltestelle im öffentlichen Nahverkehr zurückzulegen,
weil diese nur noch mit außergewöhnlicher und großer Anstrengung zu Fuß zurückgelegt
werden können ( vgl. zu § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG BT-Drucksache 8/3150 S. 9 f.). Störungen
der Orientierungsfähigkeit vermögen demgegenüber grundsätzlich nicht die
Notwendigkeit der Nutzung eines Fahrdienstes zu begründen. Denn den mit diesen
Störungen verbundenen Einschränkungen der Fortbewegungsmöglichkeit kann
hinreichend - wie vorliegend auch geschehen - durch die Zuerkennung der
Nachteilsausgleiche „G“ (Gehbehinderung) und „B“ (Begleitperson) auf der Grundlage
des § 146 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) Rechnung getragen werden.
Der Antragsteller kann demgegenüber nicht mit Erfolg einwenden, eine Begleitperson
stehe ihm insbesondere für Besuche bei seinen Eltern nicht zur Verfügung bzw. seine
Eltern sähen sich nicht in der Lage, ihn mit dem Kraftfahrzeug von seiner
Wohneinrichtung abzuholen bzw. dort hinzubringen. Denn Nachteilsausgleiche des
Schwerbehindertenrechts wie das Merkzeichen „T“ knüpfen ausschließlich an konkrete
gesundheitliche Beeinträchtigungen und nicht an sonstige Gegebenheiten an. Dies ist
auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da die Regelungen über die
Nachteilsausgleiche in ein Gesamtsystem eingebettet sind, welches insbesondere die
Leistungsgesetze der einzelnen Rehabilitationsträger umfasst. Soweit sich hier
insbesondere unter Berücksichtigung des Rechts des Antragstellers auf Umgang mit
seinen Eltern die Notwendigkeit der Nutzung eines Fahrdienstes ergeben könnte, ist er
demnach auf die Möglichkeit zu verweisen, beim Sozialhilfeträger als
Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX eine Beihilfe auf der Grundlage des §
54 Abs. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu beantragen. Nach dieser
Vorschrift können Behinderten oder von einer Behinderung bedrohten Menschen in einer
stationären Einrichtung, die - wie der Antragsteller - Leistungen der Eingliederungshilfe
erhalten, oder ihren Angehörigen zum gegenseitigen Besuch Beihilfen geleistet werden,
soweit es im Einzelfall erforderlich ist. Bei der im pflichtgemäßen Ermessen des
Sozialhilfeträgers stehenden Maßnahme sind insbesondere die persönlichen und
finanziellen Verhältnisse des Betroffenen und seiner Angehörigen sowie die Zielsetzung
der Eingliederungsmaßnahme zu berücksichtigen, wobei der Sozialhilfeträger bezüglich
der Angehörigen nicht streng an die Einkommensgrenzen gebunden ist (vgl. Schellhorn,
SGB XII, 17. Auflage. § 54 Rdnr. 8). Im Rahmen dieser Vorschrift kann den insbesondere
durch Artikel 6 GG geschützten Belangen des Antragstellers hinreichend Rechnung
getragen werden. Ferner ist auf § 22 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch (Eingliederungshilfe-Verordnung) zu verweisen, wonach zum Bedarf
eines behinderten Menschen, bei dem Maßnahmen der Eingliederungshilfe seine
Begleitung erfordern, auch die notwendigen Fahrtkosten und die sonstigen mit der Fahrt
verbundenen notwendigen Auslagen der Begleitperson sowie weitere Kosten der
Begleitperson gehören, soweit sie nach den Besonderheiten des Einzelfalles notwendig
sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog und entspricht dem Ausgang des
Verfahrens in der Sache selbst.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden, § 177 SGG.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum