Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.04.2009

LSG Berlin-Brandenburg: innere medizin, rollstuhl, restriktive auslegung, anus praeter, zumutbarkeit, behinderung, verordnung, veranstaltung, haus, menschenwürde

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 11 SB 348/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 69 Abs 4 SGB 9, § 69 Abs 5
SGB 9, § 3 Abs 1 Nr 5
SchwbAwV, Art 1 GG
Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen "RF" - Beurteilung der
Zumutbarkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen -
Bindung ans Haus - gelegentliche Teilnahme -
rehabilitationstechnische Möglichkeiten - Menschenwürde
Leitsatz
1. Kann der Behinderte nur in einem Rollstuhl fixiert an einer öffentlichen Veranstaltung
teilnehmen, genügt es nicht, wenn die Versorgungsverwaltung zur Bejahung der
Zumutbarkeit auf rehabilitationstechnische Möglichkeiten verweist.
2. Die Beurteilung der Zumutbarkeit der Teilnahme richtet sich in diesem Grenzbereich noch
möglicher Lebensgestaltung des Behinderten zwangsläufig auch nach der subjektiven
Einschätzung des Betroffenen.
3. Nimmt der Schwerstbehinderte trotz seiner Fixierung im Rollstuhl gelegentlich an
öffentlichen Veranstaltungen teil, rechtfertigt dies die Versagung des Merkzeichens "RF" nicht.
4. Der Verweis auf ein konkret nicht greifbares Hilfsmittel zum Besuch einer öffentlichen
Veranstaltung scheidet aus.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 07.
Oktober 2008 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von
der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen „RF“).
Bei dem 1973 geborenen Kläger hatte der Beklagte bereits mit Bescheid vom 6.
November 1991 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 wegen folgender
Behinderungen (deren verwaltungsinterne Einzel-GdB - Bewertung sich aus dem
Klammerzusatz ergibt):
Sehminderung (Einzel-GdB 50) und
Muskelsystemerkrankung (Einzel-GdB 50)
sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkzeichens „G“ anerkannt. Ein Änderungsantrag aus dem Jahr 2001, mit dem der
Kläger insbesondere die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ geltend machte, blieb
erfolglos (Bescheid vom 24. Januar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
15. November 2002).
Mit seinem Neufeststellungsantrag vom 28. Februar 2005 machte der Kläger die
Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ und „RF“ geltend, da er in seiner Mobilität aufgrund
der vorliegenden Muskeldystrophie stark eingeschränkt sei. Der Beklagte zog ein
Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 23. September
2004 sowie ein neurologisches Gutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. A vom 7.
Oktober 2004, welches im Auftrag der zuständigen Rentenversicherung erstellt worden
war, bei und holte einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-
Mediziner E vom 18. Mai 2005 ein. Nach versorgungsärztlicher Auswertung dieser
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Mediziner E vom 18. Mai 2005 ein. Nach versorgungsärztlicher Auswertung dieser
Unterlagen lehnte der Beklagte eine Änderung des Bescheides vom 6. November 1991
mit Bescheid vom 11. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.
Januar 2006 ab und führte zur Begründung unter anderem aus, der Kläger erfülle weder
die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ noch des
Merkzeichens „RF“.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Cottbus Befundberichte des
Facharztes für Innere Medizin Dr. J vom 12. Mai 2007, des Facharztes für Orthopädie Dr.
T vom 4. Mai 2007, des Facharztes für Innere Medizin/Psychotherapie Dr. H vom 11. Juni
2007 und des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Mediziner E vom 12. Juli 2007
eingeholt.
Der als Sachverständiger bestellte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D hat in
seinem Gutachten vom 29. Januar 2008 unter anderem ausgeführt, der Kläger leide
unter einer Muskelfunktionsstörung an Schultern, Armen, Becken, Beinen und
Körperstamm im Sinne einer Muskeldystrophie, die einen Einzel-GdB von 100 bedinge.
Es liege eine außergewöhnliche Gehbehinderung vor, die
Doppeloberschenkelamputierten mit der dauernden Unfähigkeit zum Tragen einer
Prothese vergleichbar sei. Der Kläger könne sich ohne fremde Hilfe und ohne große
Kraftanstrengung nicht fortbewegen. Er sei dauerhaft außer Stande, an öffentlichen
Veranstaltungen teilzunehmen, er könne keinen Rollstuhl benutzen, auch aufgrund der
gestörten Körperstatik nicht längere Zeit frei sitzen.
Durch Urteil vom 7. Oktober 2008 hat das Sozialgericht, nachdem es in der mündlichen
Verhandlung den Sachverständigen ergänzend befragt hat, der Klage stattgegeben und
den Beklagten verurteilt, einen GdB von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen
der Merkzeichen „aG“ und „RF“ ab 28. Februar 2005 festzustellen. Zur Begründung hat
es sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. D gestützt.
Gegen das ihm am 3. November 2008 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 25.
November 2008 Berufung hinsichtlich der Zuerkennung des Merkzeichens „RF“
eingelegt. Zur Begründung führt er u. a. aus, seiner Auffassung nach lägen die
gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ nicht vor. Der Kläger sei
nicht generell von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Wenn
auch unter Schwierigkeiten, sei es dem Kläger möglich und zumutbar, in Begleitung mit
Hilfe eines Rollstuhls bestimmte Veranstaltungen zu besuchen. Der Dipl.-Mediziner E
beschreibe in seinem Befundbericht vom 12. Juli 2007 regelmäßige Praxisbesuche des
Klägers. Der Kläger wohne in Cottbus und habe den Begutachtungstermin in Lübben
wahrgenommen. Er sei von seinem Vater mit dem Pkw dort hingefahren worden. Der
Gutachter beschreibe ausführlich die großen Anstrengungen des Klägers, um vom Auto
in den Untersuchungsraum zu gelangen. Diese Einschränkungen würden durch den GdB
von 100 und die Merkzeichen „B“, „G“ und „aG“ ausreichend gewürdigt. Der Gutachter
führe unter anderem aus, der Kläger könne keinen Rollstuhl benutzen, da er diesen allein
nicht bedienen könne und die gestörte Körperstatik kein längeres freies Sitzen zulasse.
Dies sei jedoch mit einem speziellen Rollstuhl, der den Bedürfnissen des Klägers
weitgehend angepasst worden sei, und in Begleitung durchaus möglich. Des Weiteren
habe der Kläger am 7. Oktober 2008 an der fast 90-minütigen mündlichen Verhandlung
teilgenommen. Der Begriff „ständig nicht teilnehmen können“ bedeute bereits seinem
Wortsinn nach, dass eine Teilnahme auf Dauer nicht möglich sein dürfe. Die
Voraussetzungen für die Gebührenbefreiung seien auch dann zu verneinen, wenn der
schwerbehinderte Mensch öffentliche Veranstaltungen mit Hilfe von Begleitpersonen
oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) in zumutbarer Weise besuchen könne.
Es werde in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es auch für Erkrankungen
wie die des Klägers spezielle Möglichkeiten für eine körpergerechte Versorgung mit
einem Rollstuhl gebe. Durch Orthopädiewerkstätten könnten für Betroffene Rollstühle mit
Sitzschalen und Haltesystemen individuell angepasst werden. Diese Systeme würden für
eine korrekte Körperstatik sorgen und das Vorfallen oder Verbiegen des Oberkörpers
nach vorn bzw. zur Seite verhindern. Ein Abstützen des Oberkörpers durch den Kläger
wäre bei entsprechend ausgestattetem Rollstuhl nicht notwendig. Nicht ersichtlich sei,
dass im Falle des Klägers eine Versorgung mit entsprechendem Haltesystem und
Sitzschale nicht möglich sei. Ein ständiger Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen
liege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 53, 175, 180 ff.; SozR 3-
3870 § 4 Nr. 2) nur dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch wegen seines Leidens
ständig, d.h. allgemein und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen
Veranstaltungen ausgeschlossen sei, was einer Bindung an das Haus gleichkomme.
Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger nicht vor.
Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 7. Oktober 2008 insoweit aufzuheben, als
damit die Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ festgestellt worden sind, und die
Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil auch hinsichtlich der Zuerkennung des Merkzeichens
„RF“ für zutreffend.
Mit Bescheid vom 24. November 2008 hat der Beklagte dem Kläger das Merkzeichen
„B“ ab 28. Februar 2005 gewährt; mit Ausführungsbescheid vom 25. November 2008
hat der Beklagte dem Kläger vorbehaltlich des Ausgangs des Berufungsverfahrens einen
GdB von 100 sowie die Merkzeichen „aG und „RF“ gewährt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf
den Inhalt der Gerichtsakte und der Schwerbehindertenakte des Beklagten (Gz. )
verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, insbesondere ist sie statthaft sowie
form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber nicht begründet, denn das Sozialgericht
Cottbus hat den Beklagten zu Recht verurteilt bei dem Kläger die gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ festzustellen; der Kläger
hat als Schwerbehinderter einen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkgebühr, denn
er ist ständig gehindert an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Zu Recht hat das Sozialgericht den Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen
Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ als streitgegenständlich angesehen, obwohl in
offener Klagefrist mit Schriftsatz vom 15. Februar 2006, bei Gericht eingegangen am 16.
Februar 2006, zunächst nur ein Verpflichtungsantrag im Hinblick auf die
gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ gestellt worden war. Durch
den in diesem Schriftsatz enthaltenen umfassenden Anfechtungsantrag im Hinblick auf
den Bescheid vom 11. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18.
Januar 2006 kommt ausreichend sicher zum Ausdruck, dass der gesamte
Regelungsinhalt dieses Bescheides zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden sollte.
Damit begegnet es prozessual keinen Bedenken, dass der Kläger seinen Antrag auf
Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ erst nach
Akteneinsicht im Schriftsatz vom 26. April 2006, bei Gericht eingegangen am 28. April
2006, konkretisiert hat.
Nach § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die
Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen
einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der
Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme
von Nachteilsausgleichen, so treffen sie auch insoweit die erforderlichen Feststellungen
(§ 69 Abs. 4 SGB IX).
Die Voraussetzungen der Vergabe des Merkzeichens „RF“ sind gemäß § 69 Abs. 5 SGB
IX in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung
(SchwbAwV) landesrechtlich im Land Brandenburg durch § 6 Abs. 1 Nr. 8 des
Rundfunkgebührenstaatsvertrags geregelt. Danach werden auf Antrag von der
Rundfunkgebührenpflicht schwerbehinderte Menschen befreit, deren Grad der
Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres
Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Dabei hat der
Senat keine Bedenken, die betreffenden Vorschriften anzuwenden und als gültige
Anspruchsnorm für das Begehren des Klägers anzusehen. Zwar wird vereinzelt die
Auffassung vertreten, die landesrechtlichen Regelungen über die
Rundfundgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen würden nicht der
bundesrechtlichen Ermächtigungsnorm (hier § 126 Abs. 1 SGB IX) entsprechen, weil ein
durch Gebührenbefreiung ausgleichbarer Mehraufwand behinderter Rundfunk- und
Fernsehteilnehmer nicht mehr vorhanden sei, da der überwiegende Teil der deutschen
Bevölkerung - völlig unabhängig von Behinderungen - nahezu vollständig Rundfunk höre
und fernsehe (so LSG Hamburg, Urteil vom 8. August 2006, Az. L 4 SB 22/05, zitiert
nach iuris). Indessen überzeugt diese Ansicht nicht (so im Wesentlichen auch:
Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 08. November 2007, Az. B 9/9a SB 3/06 R, zitiert
nach iuris), da fraglich sein dürfte, ob die Gewährung von Merkzeichen nicht mehr auf
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nach iuris), da fraglich sein dürfte, ob die Gewährung von Merkzeichen nicht mehr auf
Integration der Behinderten ausgelegt ist als auf Kompensation des
behinderungsbedingten Nachteils.
Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgte im
Schwerbehindertenrecht bis zum 31. Dezember 2008 die konkrete Prüfung grundsätzlich
nach Maßgabe der in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP,
herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, aktuelle
Ausgabe: 2008) niedergelegten Maßstäben. Diese waren zwar kein Gesetz und auch
nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen. Es handelte sich jedoch bei
ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung, die
die möglichst gleichmäßige Anwendung dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet
zum Ziel hatte. Die AHP engten das Ermessen der Verwaltung ein, führten zur
Gleichbehandlung und waren deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen
zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist
nach der Rechtsprechung grundsätzlich von diesen auszugehen (BSG, Urteil vom 18.
September 2003, BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr. 2 Rdn. 18). Deshalb stützt sich
der erkennende Senat für Sachverhalte bis zum 31. Dezember 2008 auf die genannten
AHP. Mit Wirkung ab 01. Januar 2009 hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales im
Einvernehmen mit dem Bundesminister der Verteidigung auf Grund des § 30
Bundesversorgungsgesetzes eine Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3,
des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes
(Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) erlassen (BGBl. Teil I, Nr. 57 vom 15.
Dezember 2008; Drucksache 767/08). Gemäß § 2 VersMedV sind in der Anlage zu dieser
Verordnung Grundsätze und Kriterien festgelegt; diese treten ab 01. Januar 2009 an die
Stelle der Anhaltspunkte. Auf Sachverhalte ab dem 01. Januar 2009 wendet der Senat
daher im Bereich des Schwerbehindertenrechts grundsätzlich die genannte – im
Wesentlichen inhaltsgleiche – Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung an.
Für die Auslegung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“
wendet der Senat die in Nr. 33, S. 141 f dargelegten Festlegungen der AHP 2005
weiterhin an, auch wenn die Nr. 33 in den Anhaltspunkten 2008 nicht mehr aufgeführt ist
und auch keine Aufnahme in die Versorgungsmedizin-Verordnung gefunden hat. Einzig
eine weitere Anwendung gewährleistet jedoch die notwendige gleichmäßige Anwendung
dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet.
Auch wenn die Feststellung der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht nicht mehr
den Sozialbehörden obliegt, ändert dies nichts daran, dass die für die Durchführung des
Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen der gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen nach § 69 Abs. 4
SGB IX festzustellen haben.
Nach Nr. 33 der Anhaltspunkte 2005 sind die Voraussetzungen immer erfüllt bei
behinderten Menschen
- bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere
Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb
auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B.
Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,
- die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken (z.
B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus
praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und
Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei
Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können),
- mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,
- nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr
hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung
erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,
- geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss,
dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes
Sprechen oder aggressives Verhalten stören.
Dieser Personenkreis muss allgemein von öffentlichen Zusammenkünften
ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur
gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte
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gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte
Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen
teilnehmen können, erfüllen die Voraussetzungen nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind als öffentliche
Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher,
kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger
als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse
kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und
Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 Az. 9/9a RVs 2/96, SozR 3-3780 §
4 Nr. 17; Urteil vom 10. August 1993, Az. 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2; Urteil
vom 17. März 1982, Az. 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die
Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn
der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend,
vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der
Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom BSG vertretenen
Auslegung muss der Schwerbehinderte praktisch an das Haus gebunden sein, um
seinen Ausschluss an öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können. Es kommt
nicht darauf an, ob jene Veranstaltungen, an denen er noch teilnehmen kann, seinen
persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen. Sonst
müsste jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der
Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Das wäre mit dem Gebührenrecht nicht
vereinbar, denn die Gebührenpflicht selbst wird nicht bloß nach dem individuell
unterschiedlichen Umfang der Sendungen, an denen die einzelnen Teilnehmer
interessiert sind, bemessen, sondern nach dem gesamten Sendeprogramm. Mit dieser
sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der Nachteilsausgleich „RF“ nur
Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten
Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher
Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.
Auch wenn nach der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts praktisch eine
Bindung ans Haus bestehen muss, um den Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen
zu begründen, kann dies nicht bedeuten, dass alle nur denkbaren
rehabilitationstechnischen Möglichkeiten zum Verlassen des Hauses, über die der
Schwerbehinderte gar nicht verfügt, in Betracht gezogen werden müssen, um zu
belegen, dass der Schwerbehinderte entgegen seinen tatsächlichen Möglichkeiten und
seinem nachvollziehbar begründeten entgegenstehenden Willen doch an öffentlichen
Veranstaltungen teilnehmen kann. Ein solches Verständnis wäre mit den Grundrechten
des Behinderten nicht vereinbar.
Dem Beklagten ist im Grundsatz zuzustimmen, wenn er ausführt, dass die Zuerkennung
des Merkzeichens „RF“ nicht in Betracht kommt, wenn der Betroffene mit Hilfsmitteln an
öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Dies bedarf z.B. hinsichtlich
querschnittsgelähmter Rollstuhlfahrer, die in der Lage sind, sich mit ihrem Hilfsmittel
selbständig zu bewegen, weil ihre übrigen Körperfunktionen nicht beeinträchtigt sind,
keiner weiteren Begründung.
Anders ist die Rechtslage jedoch dann, wenn der Betroffene nur in einem Rollstuhl fixiert
an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Die Situation eines so schwer
behinderten Menschen ist mit der eines „normalen“ Rollstuhlfahrers nicht zu
vergleichen. Denn er ist den verschiedensten Umwelteinwirkungen auf einer öffentlichen
Veranstaltung praktisch hilflos ausgeliefert. Er kann seinen Blickwinkel auf das
Dargebotene nicht selbständig verändern, kann Gefahren oder Belästigungen nicht
ausweichen, kann sich zur Verrichtung der Notdurft nicht entfernen und ist neugierigen
oder gar belästigenden Blickkontakten ohne die Möglichkeit des Ausweichenkönnens
ausgesetzt. Besteht eine solche ausgesprochen eingeschränkte Möglichkeit der
Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, so vermag diese objektiv bestehende
Teilnahmemöglichkeit die Zumutbarkeit des Besuchs der Veranstaltung für den
Behinderten nicht zu begründen. In einem Grenzbereich, in dem es trotz der Funktion
des Schwerbehindertenrechts, die Eingliederung behinderter Menschen zu fördern und
nicht deren Ausgrenzung, nahe liegend erscheint, dass der behinderte Mensch zum
Objekt auf ihn einwirkender äußerer Einflüsse werden kann, kann die Zumutbarkeit der
Teilnahme vor dem Hintergrund der durch Artikel 1 Grundgesetz (GG) geschützten
Menschenwürde nur subjektiv aus der Sicht des Schwerstbehinderten beurteilt werden.
Zum Schutzbereich der Menschenwürde gehört auch der Kernbereich privater
Lebensgestaltung (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Kommentar, 9. Auflage, Art. 1 Rn.
11), der hier angesichts des Fehlens von Gestaltungsmöglichkeiten des
Schwerstbehinderten ohne weiteres betroffen ist, auch wenn der Senat nicht verkennt,
dass allein das Bestehen wenig würdiger Umstände noch keine Verletzung der
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dass allein das Bestehen wenig würdiger Umstände noch keine Verletzung der
Menschenwürde darstellt ( vgl. Jarass, a.a. O., Rn.6). Vorliegend hat der Bevollmächtigte
des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat überzeugend dargelegt, dass
der geistig wache, intelligente Kläger sich durch eine Teilnahme an einer öffentlichen
Veranstaltung zur Schau gestellt fühlt und sich daher durch eine solche „Forderung“ in
seinem Persönlichkeitsrecht verletzt sieht. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger
an der mündlichen Verhandlung in erster Instanz noch teilgenommen hat. So schaden
gelegentliche, von einem Ausnahmecharakter geprägte Veranstaltungen, die nicht ins
Gewicht fallen, nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG ohnehin nicht. Dieser
Ausnahmetatbestand gilt ohne Zweifel für die mündliche Verhandlung vor dem
Sozialgericht, an der der Kläger im Übrigen nur unter großen Mühen teilgenommen hat.
Soweit der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass der
Kläger ja nicht gezwungen werde an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen und eine
Verletzung seiner Rechte durch die restriktive Auslegung der einschlägigen Regelungen
und der Rechtsprechung durch den Beklagte schon deshalb ausgeschlossen sei,
vermochte der Senat dem nicht zu folgen. Selbstverständlich hat der Kläger für ihn
negative Rechtsfolgen zu tragen, wenn ein rein objektiver Maßstab an die Zumutbarkeit
der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen gelegt und deshalb eine Sozialleistung
verweigert wird.
Nicht zu überzeugen vermochte auch der Einwand des Beklagtenvertreters, dass eine
Zumutbarkeit der Teilnahme schon deshalb bestehe, weil andere ebenso schwer
behinderte Betroffene an öffentlichen Veranstaltungen teilnähmen. Diese Auffassung
verkennt den nach Auffassung des Senats in Grenzbereichen notwendigen Rückgriff auf
notwendiger Weise subjektive Einschätzungen des Betroffenen, wenn es um die ohnehin
stark eingeschränkte Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Schwerstbehinderten
geht.
Letztlich steht auch die einen strengen Maßstab vorgebende Rechtsprechung des BSG
der Auslegung des Senats nicht entgegen. Der Senat vermag dem Beklagten nicht zu
folgen, soweit er subjektive Zumutbarkeitserwägungen bei der Prüfung der
gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ für unzulässig hält. So
sprechen die AHP 2005 selbst unter Nr. 33 (2) c) von „zumutbarer Weise“ und
„unzumutbaren Belastungen“.
Damit steht für den Senat fest, dass der Kläger selbst dann Anspruch auf die
Zuerkennung des Merkzeichen „RF“ hätte, wenn er über einen mehr oder weniger
maßangefertigten Rollstuhl mit Sitzschale und Haltevorrichtung verfügen würde. Der
Senat ist aber darüber hinaus der Auffassung, dass der Kläger nicht auf die
Zuhilfenahme eines nicht ohne weiteres erreichbaren Hilfsmittels (wie z.B. auf „normale
Rollstühle, die in manchen Museen vorgehalten werden) verwiesen werden kann. Ist ein
Hilfsmittel weder vorhanden noch beantragt und liegt auch keine Zusage eines
zuständigen Trägers vor, diese Leistung zu erbringen, so kann der Betroffene auf die
Benutzung eines solchen exklusiven Hilfsmittels nicht verwiesen werden. Denn ob der
Betroffene tatsächlich Anspruch auf das fragliche Hilfsmittel hat, ist in diesen Fällen
offen. Die Prüfung der Frage kann komplizierte Rechts- und Tatsachenfragen auf
verschiedenen Gebieten des Sozialrechts aufwerfen, für die der Beklagte nicht zuständig
ist und über deren Beantwortung er nur Mutmaßungen anstellen kann. Derartige
Mutmaßungen sind nicht geeignet, dem im Übrigen feststellbaren Anspruch entgegen
gehalten zu werden.
Nach diesen Grundsätzen hat das Sozialgericht den Beklagten im Ergebnis zutreffend
zur Anerkennung des Nachteilsausgleichs „RF“ verurteilt, denn der Kläger ist aufgrund
seiner körperlichen Beeinträchtigungen ständig daran gehindert an öffentlichen
Veranstaltungen teilzunehmen.
Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 193 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits Rechnung.
Die Revision ist gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Frage, was dem
Behinderten zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen zugemutet werden kann,
grundsätzliche Bedeutung hat.
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