Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 21.07.2008

LSG Berlin und Brandenburg: hallux valgus, fraktur, arbeitsunfall, anerkennung, sicherheit, wahrscheinlichkeit, unfallfolgen, arbeitsunfähigkeit, arthrose, kausalität

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 21.07.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 69 U 539/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 3 U 206/08
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Streitig ist die Anerkennung von Arbeitsunfallfolgen und deren Entschädigung.
Der 1948 geborene Kläger erlitt am 25. Januar 2006 einen Unfall, als ihm während seiner Tätigkeit als Betonbauer für
die Firma S AG ein von ihm getragener Rollcontai-ner aus der Hand auf seinen rechten Fuß fiel (Unfallanzeige des
Arbeitgebers vom selben Tag). Laut dem H-Arztbericht von Dres. M u. a. vom 25. Januar 2006 zog er sich dadurch
eine Großzehengrundgliedfraktur rechts zu, die mit einem Unterschen-kelgips versorgt wurde. Durch eine
Phlebographie konnten eine Phlebothrombose sowie ein postthrombotisches Syndrom des rechten Beins
ausgeschlossen werden. Es wurde jedoch eine tiefe Beinveneninsuffizienz des rechten Oberschenkels nach optimal
gemachter Varizen- Operation 1999 rechts festgestellt (Bericht der Phlebolo-gin Dr. F vom 23. März 2006). Dem
Kläger wurde deshalb ein Kompressionsstrumpf zu Lasten der Krankenkasse verordnet. Der Befund wurde nach einer
weiteren Phle-bographie in dem Bericht vom 24. April 2006 bestätigt. In einem Zwischenbericht vom 26. April 2006
berichteten Dres. M u. a., der Kläger klage über zunehmende Schmerzen im Vorfuß und im gesamten rechten Bein,
das mäßig geschwollen erscheine und berührungsempfindlich sei. Der Kläger sei deshalb weiter arbeitsunfähig. In
einem Untersuchungsbericht im Rahmen der Heilverfahrenskontrolle vom 28. April 2006 stellte der Facharzt für
Chirurgie Dr. H jedoch fest, der Kläger habe im Zusam-menhang mit dem Unfall vom 25. Januar 2006 eine nicht
dislozierte, extraartikuläre Fraktur des Großzehengrundgelenks erlitten. Die Fraktur sei nach den vorliegenden
Zwischenberichten sowie den Röntgenbildern seit dem 09. März 2006 knöchern kon-solidiert. Es sei von einer
unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit von maximal 12 Wochen auszugehen. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
resultiere aus dem Unfall nicht. Unfallunabhängig habe schon vor dem Ereignis eine erhebliche Arthrose des rechten
Großzehengrundsgelenks infolge eines Spreizfußes mit konsekutiver Hallux valgus – Fehlstellung bestanden. Die
jetzt bestehenden Beschwerden seien auf die aktivierte Großzehengrundgelenksarthrose zurückzuführen.
Mit Schreiben vom 08. Mai 2006 teilte die Beklagte darauf hin der AOK Berlin mit, die Arbeitsunfähigkeit des Klägers
wegen der Arbeitsunfallfolgen ende am 28. April 2006. Im Weiteren berichtete auch der Chirurg Dr. L, den der Kläger
am 21. Mai 2006 we-gen fortbestehender Schmerzen aufsuchte, von einer zu vermutenden Endgliedverlet-zung, die
knöchern vollständig konsolidiert sei ohne Gelenkbeteiligung. Die bestehen-den arthrotischen Veränderungen im
Grundgelenk der rechten Großzehe bestünden auf degenerativer Basis und seien vom Unfall unabhängige
gesundheitliche Beein-trächtigungen.
Mit Schreiben vom 08. Juni 2006 teilte die Beklagte dem Kläger mit, seine jetzigen Beschwerden stünden in keinem
Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall vom 25. Ja-nuar 2006. Dies ergebe sich aus dem Bericht des Dr. H. Den
dagegen eingelegten Widerspruch, mit dem sich der Kläger auf einen Bericht des Neurologen Dr. S vom 29. Mai 2006
bezog, wies die Beklagte nach Einholung einer beratungsärztlichren Stellungnahme mit Widerspruchsbescheid vom
28. Juli 2006 zu-rück.
Mit seiner dagegen bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger gel-tend gemacht, die bei ihm
bestehenden Beschwerden im Bereich des rechten Groß-zehengrundglieds hingen mit dem Arbeitsunfall vom 25.
Januar 2006 zusammen. Sei-ne behandelnden Ärzte hätten ihm mitgeteilt, durch die Verletzung sei ein Nerv durch-
trennt worden, der die erheblichen Schwellungen und Beschwerden verursache.
Das Sozialgericht hat zunächst ein Vorerkrankungsverzeichnis der AOK Berlin beige-zogen und dann den Orthopäden
Dr. E mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 01.
Februar 2007 zu der ab-schließenden Beurteilung gelangt, das Ereignis vom 25. Januar 2006 habe zu einer nicht
dislozierten Fraktur des Grundglieds der rechten Großzehe im Sinne einer Infraktion geführt. Eine Gelenkbeteiligung
sei bei den Nachuntersuchungen ebenso sicher ausgeschlossen worden wie eine neurologische Komplikation im
Sinne von Ge-fühlsstörungen. Die Fraktur sei folgenlos konsolidiert. Arbeitsunfähigkeit wegen dieser Unfallfolgen habe
bis zum 25. April 2006 bestanden. Eine MdE sei ab dem Wiederein-tritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu begründen.
Durch Urteil vom 14. Dezember 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt,
nach dem Ergebnis der Begutachtung durch Dr. E sei die Fraktur des rechten Großzehengrundglieds knöchern ohne
Frakturverschiebung kon-solidiert. Die daneben bestehende ausgeprägte Fehlform mit einer deutlichen Groß-
zehengrundgelenksarthrose erkläre die weiter bestehenden Beschwerden. Diese deutliche Arthrose sei keineswegs
auf den Unfall zurückzuführen, da eine solche nicht in so kurzer Zeit nach dem Unfall entstehen könne.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, zu deren Begründung er ausführt, seine behandelnden Ärzte gingen
davon aus, dass durch den Unfall nicht nur das Großzehengrundgelenk verletzt worden sei, sondern auch ein dort
befindlicher Nerv. Im Weiteren bezieht sich der Kläger auf ein Attest des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie K
vom 08. April 2008.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 2007 und den Be-scheid
vom 08. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juli 2006 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, den Zustand des Groß-Zehen Grundgliedes am rechten Fuß als Folge des Arbeitsunfalls vom 25. Januar
2006 anzuerkennen und Leistungen dem Grunde nach zu ge-währen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 13. Juni 2008 sind die Beteiligten zu der beabsichtig-ten Entscheidung des Senats
durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsge-setz (SGG) angehört worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
II.
Der Senat konnte nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entscheiden, denn er
hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.
Bei dem Schreiben der Beklagten vom 08. Juni 2006 handelt es sich um einen Ver-waltungsakt im Sinne des § 31
Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Zwar fehlt dem Schreiben, das keine Rechtsmittelbelehrung enthält,
die Kennzeichnung als Bescheid. Es ist aber noch mit ausreichender Sicherheit zu erkennen, dass die Be-klagte mit
Rechtsbindungswillen die Anerkennung weiterer Unfallfolgen ablehnt. Das Schreiben ist zudem auf die Aufforderung
des Klägers mit Schreiben vom 30. Mai 2006 ergangen, ihn nunmehr zu bescheiden. Im Widerspruchsbescheid vom
28. Juli 2006 wird das Schreiben außerdem als Verwaltungsakt bezeichnet.
Die insoweit zulässige Berufung ist aber unbegründet.
Zwar bestehen Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit des Antrags des Klägers, dem es offensichtlich an
Bestimmtheit mangelt, worauf der Kläger auch mit gerichtlichem Schreiben vom 13. Juni 2008 hingewiesen worden
ist. Allerdings ist der Senat gemäß § 123 SGG nicht an die Fassung der von dem Kläger gestellten Anträge
gebunden. Dem klägerischen Vorbringen lässt sich ein hinreichend deutliches Begehren auf die Anerkennung der
rechten Großzehengrundgelenksarthrose und einer Nervendurch-trennung des Nervus digitalis prorii der ersten Zehe
rechts an der medialen Seite als Folge des Arbeitsunfalls vom 25. Januar 2006 sowie die Gewährung von Entschädi-
gungsleistungen entnehmen. Mit diesem Begehren kann die Berufung jedoch keinen Erfolg haben.
Gemäß § 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und
Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3
oder 6 begründenden Tätigkeit (§ 8 Absatz 1 Satz 1 SGB VII).
Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist damit in der Regel erforderlich, dass die Ver-richtung des Versicherten zur
Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeiten zuzurech-nen ist, dass die Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von
außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt und Letzteres einen Gesundheits-erst-
schaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Das Entstehen von länger
andauernden Unfallfolgen auf Grund des Ge-sundheits-erst-schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist dagegen
nicht Voraus-setzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (so BSG, Urteil vom 12. April 2005, Aktenzeichen B 2
U 27/04 R). Die versicherte Tätigkeit, der Unfall und die Gesund-heitsschädigung müssen im Sinne des Vollbeweises,
also mit an Sicherheit grenzen-der Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zu-
sammenhang als Voraussetzung für die Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden
Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht
allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG SozR 3-2200 § 551 RVO Nr. 16 m. w. N.). Ein Zusam-menhang ist
wahrscheinlich, wenn bei Abwägung der für den Zusammenhang spre-chenden Faktoren diese so stark überwiegen,
dass darauf die Überzeugung des Ge-richts gegründet werden kann.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Senat nicht davon überzeugt, dass bei dem Kläger über den 28. April
2006 hinaus Gesundheitsstörungen vorgelegen haben, die wahrscheinlich auf dem von der Beklagten mit dem
angefochtenen Bescheid an-erkannten Arbeitsunfall vom 25. Januar 2006 beruhen und sogar zu entschädigen sind.
So ist zunächst zu beachten, dass die von dem Kläger geltend gemachte Nervenver-letzung nicht nachgewiesen ist.
Aus dem Bericht von Dr. S vom 29. Mai 2006 ergibt sich nur die Feststellung eines Sensibilitätsausfalls durch eine
vermutliche Nerven-durchtrennung des Nervus digitalis prorii der ersten Zehe rechts an der medialen Sei-te. Mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist diese Gesundheitsstörung je-doch nicht nachgewiesen und kann deshalb
bei der Kausalitätsbeurteilung keine Be-rücksichtigung finden. Der Sachverständige Dr. E weist zudem ausdrücklich
darauf hin, dass bei diversen Voruntersuchungen Gefühlsstörungen explizit ausgeschlossen worden sind.
Der Sachverständige hat außerdem nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass die noch bestehenden
Beschwerden des Klägers im Bereich der rechten unteren Extremität nicht wahrscheinlich auf den Arbeitsunfall
zurückzuführen sind, sondern auf die unfallunabhängige und vorbestehende Fußfehlform im Sinne eines deutlichen
Senk-Spreizfußes mit deutlicher Großzehengrundgelenksarthrose, die sowohl am rechten als auch am linken nicht
verletzten Fuß festgestellt worden ist. Die Fraktur selbst ist knöchern vollständig konsolidiert, was durch
röntgenologische Befunde nachgewiesen ist. Der Senat hat keine Bedenken, den sachverständigen Feststellun-gen
zu folgen. Auch der Kläger hat keine substantiierten Einwendungen gegen diese Feststellungen erhoben.
Der von dem Neurologen und Psychiater K am 08. April 2008 bescheinigte Ursachen-zusammenhang zwischen der
Großzehenfraktur und den weiteren Leiden des Klägers in Form von chronischen Schmerzen nach Belastung an
Schwellung und Gehbehinde-rung sowie Bandscheibenprotrusionen bei C 6/7, L 3/4 bis L 5/S 1, chronischem Wir-
belsäulenschmerzsyndrom, Einengung der Neuroforamina C 4-7, radikulärer Läsion C 5, Occipitalneuralgie,
Depression, Belastungsreaktion, Insomnia und Cephalgie ver-mag der Berufung nicht zum Erfolg zu verhelfen. Die
Bescheinigung enthält keinerlei Begründung für den angenommenen Ursachenzusammenhang zwischen dem Ar-
beitsunfall und sämtlichen Gesundheitsstörungen, an denen der Kläger offenbar lei-det. Dazu hätte aber Veranlassung
bestanden, denn einige Leiden, wie sie etwa durch das Vorerkrankungsverzeichnis dokumentiert sind, haben bereits
vor dem Ar-beitsunfall bestanden. Dazu gehören die Wirbelsäulenbeschwerden. Darüber hinaus lässt sich kein
biomechanischer Hergang vorstellen, um den behaupteten Ursachen-zusammenhang zumindest plausibel zu machen.
Letztlich, und das ist entscheidend, hat sich Dr. E in seinem Gutachten vom 01. Februar 2007 ausführlich zu den Ge-
sundheitsstörungen und dem Ursachenzusammenhang geäußert. Die Bescheinigung von Herrn K veranlasst den
Senat deshalb nicht, weitere Ermittlungen von Amts we-gen durchzuführen.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.