Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 16.06.2008

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 16.06.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 2 U 128/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 3 U 239/08
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 29. August 2007 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung der Berufskrankheit (BK) Nr. 2106 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (BKV) – Druckschädigung der Nerven -.
Die 1942 geborene Klägerin arbeitete seit Juni 1974 als selbständige Friseurmeisterin und war bei der Beklagten
versichert. Sie gab ihre Tätigkeit im Mai 2001 auf. Bereits am 29. Januar 2002 hatte die Klägerin einen Antrag auf
Anerkennung einer BK gestellt, da sie wegen ihres Wirbelsäulenschadens den Friseurberuf habe aufgeben müssen.
Die Beklagte hatte den Antrag als solchen auf Anerkennung der Bken Nrn. 2108 und 2109 ausgelegt und Ermittlungen
durchgeführt. Am 12. Oktober 2004 sprach die Klägerin bei der Beklagten persönlich vor und beantragte außerdem die
Anerkennung der BK Nr. 2106. Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen des Verfahrens zu den Bken Nrn. 2108
und 2109 bei, aus denen sich schwere chronische Abnutzungserscheinungen der Wirbelsäule und der Wirbelgelenke
sowie ein Bandscheibenvorfall bei C 6/7 ergaben (Bericht Dr. P vom 15. April 2001 sowie Berichte über eine CT der
HWS vom 04. April 2001 und eine MRT der LWS vom 09. Januar 2002). Außerdem wurde bei der Klägerin am 02.
September 2002 eine Epicondylitis humeri radialis rechts diagnostiziert. Die Beklagte holte einen Bericht des
behandelnden Neurologen und Psychiaters G vom 21. März 2003 ein, der angab, die Klägerin leide an einem
depressiven Syndrom. In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 14. September 2005 führte der Chirurg Dr. B
u. a. aus, eine BK Nr. 2106 scheide aus, da ein Druck auf Nerven nicht stattgefunden habe. Dass bei dem
festgestellten HWS- Syndrom Beschwerden im Sinne einer Epicondylitis aufträten, sei ein bekanntes Phänomen. Ob
überhaupt eine klassische Symptomatik wie bei einer Epicondylitis vorhanden sei, lasse sich den Berichten nicht
entnehmen. Nach Einholung einer Stellungnahme der Gewerbeärztin Dipl. Med. T vom 24. November 2005 entschied
die Beklagte mit Bescheid vom 21. Dezember 2005, die Wirbelsäulenerkrankung mit Schmerzausstrahlung in den
Schulter-Arm-Bereich sei keine BK Nr. 2106. Es bestehe deshalb kein Anspruch auf Leistungen oder Maßnahmen, die
dem Entstehen dieser BK entgegenwirkten. Es seien weder die arbeitstechnischen noch die medizinischen
Voraussetzungen der BK Nr. 2106 erfüllt. Bei der Friseurtätigkeit sei keine überdurchschnittliche Belastung durch
einseitige länger andauernde Beanspruchungen der Wirbelsäule bzw. im Schulter-Arm-Bereich anzunehmen. Darüber
hinaus sei kennzeichnend für das Vorliegen der BK eine eindeutige Beziehung zwischen der Lokalisation des
einwirkenden Druckes und dem anatomischen zuzuordnenden klinisch-neurologischen Befund. Hier sei jedoch von
einem Schulter-Arm-Syndrom bei fortgeschrittenen verschleißbedingten HWS- Veränderungen auszugehen. Eine
Druckbelastung im Bereich der HWS und im Schulter-Arm-Bereich liege bei der Tätigkeit als Friseurin nicht vor. Den
dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05. Oktober 2006 zurück.
Dagegen hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Potsdam erhoben, mit der sie ihr Rückenleiden und die dadurch
bedingten gesundheitlichen Einschränkungen im Einzelnen schildert.
Das Sozialgericht hat Befundberichte von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. P vom 03. Februar 2007, des
Neurologen und Psychiaters G und des Chirurgen Dr. Sch, beide vom 23. März 2007, beigezogen. Dem Bericht des
Dr. P sind der Entlassungsbericht der B Klinik B bei B vom 23. Juni 2006 und der Bericht der Kardiologen Dres. v A u.
a. vom 15. März 2006 beigefügt worden.
Durch Urteil vom 29. August 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, da kein Nervenschaden feststellbar
sei.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie geltend macht, ihre Wirbelsäulenbeschwerden seien als
berufsbedingt anzuerkennen, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 30 v. H. Sie bezieht sich im Weiteren
auf ein Gutachten des Orthopäden Dr. M vom 20. Juni 2007 für das Landesamt für Soziales und Versorgung
Potsdam, der bei der Klägerin u. a. ein vertebragenes Schmerzsyndrom in Form eines Cervikal- und Lumbalsyndroms
diagnostiziert und mit einem Grad der Behinderung von 30 bewertet hat.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 29. August 2007 und den Bescheid
vom 21. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05. Oktober 2006 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, das Hals- und Lendenwirbelsäulenleiden als Berufskrankheit Nr. 2106 anzuerkennen und zu
entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Mit gerichtlichen Schreiben vom 07. und 30. Mai 2008 sind die Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung des
Senats durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsakte verwiesen.
II.
Der Senat konnte nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entscheiden, denn er
hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Anerkennung und Entschädigung ihres Hals- und Lendenwirbelsäulenleidens als BK Nr. 2106.
Nach § 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und BKen, die nach
dem dritten Kapitel des SGB VII zu entschädigen sind. BKen sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch
Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten
Tätigkeit erleidet (§ 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII). Nach Nr. 2106 der Anlage zur BKV sind Druckschädigungen der Nerven
als BK anzusehen. Weitere Voraussetzungen sind im Verordnungstext nicht normiert.
Die Anerkennung der BK im konkreten Einzelfall setzt voraus, dass die schädigende Einwirkung ihre rechtlich
wesentliche Ursache in der versicherten Tätigkeit haben muss (haftungsbegründende Kausalität) und die schädigende
Einwirkung die Gesundheitsstörung verursacht hat (haftungsausfüllende Kausalität). Hierbei reicht sowohl bei der
haftungsbegründenden wie auch bei der haftungsausfüllenden Kausalität die Wahrscheinlichkeit des
Ursachenzusammenhangs aus, d. h. nach vernünftiger Abwägung aller Umstände müssen die auf die berufliche
Verursachung der Krankheit deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden
kann (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten
schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß müssen dagegen im Sinne des Vollbeweises, d. h.
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden.
Ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK Nr. 2106 erfüllt sind, kann dahin stehen.
Denn es ist bereits nicht nachgewiesen, dass bei der Klägerin eine Druckschädigung der Nerven besteht. Je nach Art
der ausgeübten Tätigkeit werden bestimmte Nerven durch die berufliche Tätigkeit besonders betroffen, vorwiegend die
oberflächlich verlaufenden motorischen Nerven, die durch ihre Lage einer von außen kommenden anhaltenden
Einwirkung gut zugänglich sind. Eine Nervenschädigung kann z. B. eintreten, wenn ein Nerv wiederholten
mechanischen Einwirkungen auf Grund einer anatomischen Enge nicht genügend ausweichen kann, z. B. über eine
knöcherne Unterlage, innerhalb eines knöchernen oder fibrösen Kanals oder an Sehnenkreuzungen. Sowohl
motorische als auch sensomotorische Nerven oder Nervenanteile können geschädigt sein. Für das Vorliegen einer BK
kennzeichnend ist eine eindeutige Beziehung zwischen der Lokalisation des einwirkenden Drucks und dem
anatomisch zuzuordnenden klinisch-neurologischen Befund. Der elektroneurographische Nachweis einer Veränderung
der peripheren Nervenleitfähigkeit ist dabei in der Regel unverzichtbar (so Merkblatt des Bundesministeriums für
Arbeit vom 01. Oktober 2002 zur BK Nr. 2106, abgedruckt in Mehrtens/Brandenburg, M 2106 Abschnitt IV a. E.).
Nicht Gegenstand der BK sind akute traumatische Nervenschädigungen, das Carpaltunnel-Syndrom bzw.
Nervenschäden durch bestimmte Erkrankungen, die über andere BKen erfasst sind wie etwa bandscheibenbedingte
Erkrankungen der Hals- oder Lendenwirbelsäule (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und
Berufskrankheit, 7. A. 2003, Kap. 5.7.).
Nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen sind keine der Lokalisation eines einwirkenden Drucks auf Nerven
durch die Tätigkeit als Friseurin zuzuordnenden Befunde erhoben worden. Die Klägerin leidet, wie sich insbesondere
aus dem Gutachten des Orthopäden Dr. M ergibt, an einem HWS- Syndrom mit einer hypertrophen Spondylarthrose
mit neuroforaminalen Einengungen bei C 3 bis C 7, einem Bandscheibenprolaps bei C 6/7 und einer
Bandscheibenprotrusion bei C 3/4 sowie einer beginnenden Omarthrose beiderseits ohne
Bewegungseinschränkungen. Im Bereich der LWS bestehen mehrsegmentale Bandscheibenprolapse bei L 1/2 und L
5/S 1, eine Spondylarthrose bei L4 bis S1, eine paradoxe Kyphosierung der LWS im oberen Abschnitt sowie eine
fragliche ISG-Blockierung rechts. Anhaltspunkte für Nervenschäden sind keinem der ärztlichen Berichte und Befunde
zu entnehmen. Im Entlassungsbericht der B Klinik B bei B vom 23. Juni 2006 ist kein pathologischer neurologischer
Befund erhoben worden. Der Chirurg Dr. B hat in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 14. September 2005
zudem ausgeführt, die am 02. September 2002 festgestellte Epicondylitis rechts sei auf die nachgewiesenen
Veränderungen im HWS- Bereich zurückzuführen. Die späteren Befundberichte und das Gutachten von Dr. M
erwähnen die Diagnose nicht mehr. Dem Befundbericht von Dr. S vom 23. März 2003 und dem Gutachten von Dr. M
lässt sich letztlich ohne Zweifel entnehmen, dass die Beschwerden der Klägerin im Wesentlichen auf das Hals- und
Lendenwirbelsäulensyndrom zurückzuführen sind. In diesem Fall scheidet aber, wie bereits oben ausgeführt, die
Anerkennung der BK Nr. 2106 aus.
Die Berufung ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.