Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 29.02.2008

LSG Berlin und Brandenburg: private krankenversicherung, annahme des antrages, sozialhilfe, zahnärztliche behandlung, gesundheit, versicherungsschutz, vorsorge, wahlrecht, auflage, hauptsache

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 29.02.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 20 SO 184/07 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 15 B 32/08 SO ER
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 25. Januar 2008
geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern Leistungen der Hilfe bei Krankheit gemäß § 48
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch zu gewähren. Die Verpflichtung besteht nur, soweit die Antragsteller durch ein
begründetes Attest des behandelnden Arztes oder der aufnehmenden Behandlungsstätte belegen, dass eine ärztliche
oder zahnärztliche Behandlung oder eine Versorgung mit einem Heil- oder Hilfsmittel nicht ohne Gefahr für die
Gesundheit verschoben werden kann. Für die Zeit ab 01. April 2008 ist die Hilfe darüber hinaus nur zu gewähren,
wenn die Antragsteller einen im März 2008 gestellten Antrag auf Aufnahme in die private Krankenversicherung gemäß
§ 315 SGB V nachweisen. Die Verpflichtung des Antragsgegners besteht bis zu dem Tag, an dem in dem
Rechtsstreit, der gegenwärtig beim Sozialgericht Potsdam unter dem Aktenzeichen S 20 SO 13/07 anhängig ist, eine
instanzbeendende Entscheidung verkündet (oder – falls ohne mündliche Verhandlung entschieden wird – den
Antragstellern zugestellt) worden ist oder sich dieser Rechtsstreit auf andere Weise in der Hauptsache erledigt hat,
längstens jedoch bis zum 30. Juni 2008. Die Verpflichtung besteht ferner nur, soweit die private Krankenversicherung
tatsächlich noch keinen Versicherungsschutz zugesagt hat und soweit die Kosten für eine ärztliche Behandlung oder
ein Heil- oder Hilfsmittel in dem Monat, in dem sie angefallen sind, einen Betrag von 267, 68 EUR übersteigen. Der
Antragsgegner kann einmalig wählen, ob er die Verpflichtung durch Ausstellung von Behandlungsscheinen oder
Übernahme der Behandlungskosten erfüllen will. Äußert er sich dazu nicht innerhalb einer Woche, gerechnet ab der
Zustellung des Beschlusses, gegenüber den Antragstellern, gilt, dass die Verpflichtung durch Übernahme der
Behandlungskosten erfüllt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den
Antragstellern deren außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge zur Hälfte zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde ist nur in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Das Sozialgericht hat
zutreffend angenommen, dass vorliegend eine begehrte Leistung (noch) nicht zuerkannt worden ist, und deshalb eine
einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistung voraussetzt, dass bei summarischer Prüfung mit
ausreichender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch nach materiellem Recht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit
§§ 920 Abs. 2, 916 ZPO; Anordnungsanspruch) und eine besondere Eilbedürftigkeit feststellbar sind (§ 86 b Abs. 2
Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 917, 918 ZPO; Anordnungsgrund). Den Antragstellern ist die Hilfe bei
Krankheit nicht als unbefristete Dauerleistung zuerkannt worden. Vielmehr ergibt sich, dass der Antragsgegner zwar in
seinem Schreiben vom 14. Juni 2006 mitgeteilt hatte, dass ab 1. Juli 2006 nicht mehr das bisherige
Abrechnungsverfahren durchgeführt werde, sondern "Krankenscheine" ausgegeben würden. Bereits daraus, dass
diesem Schreiben lediglich Behandlungsscheine für das 3. Quartal 2006 beigefügt waren, erschließt sich aber, dass
Leistungen ohne Prüfung im Einzelfall allenfalls für drei Monate bewilligt werden sollten. Dem entsprechend endete die
Wirkung eines etwaigen "Dauerverwaltungsaktes", welcher in der Ausgabe der Behandlungsscheine zu sehen sein
könnte, mit Ablauf des jeweiligen Quartals, letztmalig also mit dem 31. Dezember 2007. Ein Anordnungsanspruch
"dem Grunde" besteht jedenfalls insoweit, als der Antragsgegner verpflichtet ist, den Antragstellern in den Fällen Hilfe
bei Krankheit zu leisten, in denen solche Hilfe aus medizinischen Gründen nicht in dem in der Beschlussformel
genannten Umfang verschoben werden kann (das müssen nicht nur "Notfälle" sein, für die der Antragsgegner sich
leistungsbereit erklärt hat). Er ergibt sich aus § 48 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Der Leistungspflicht in
diesen Fällen steht der Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 SGB XII) nicht entgegen. Danach erhält Sozialhilfe nicht,
wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann
oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält. Die Antragsteller erhalten die erforderlichen Hilfen bei Krankheit tatsächlich nicht von anderen.
Damit könnte der Nachrang einem Anspruch nur dann entgegen stehen, wenn – wie der Antragsgegner meint – der
Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrages, um daraus Leistungsansprüche geltend zu machen, ein
einzusetzendes "bereites" Mittel der Selbsthilfe darstellte. Dies kann vor dem Hintergrund fraglich erscheinen, dass
den Hilfebedürftigen dann eine anspruchsausschließende Obliegenheit träfe, die nicht nur mit rechtlichen Vorteilen
(Leistungsansprüchen), sondern auch mit rechtlichen Nachteilen (Beitragszahlungen) verbunden sein könnte. Insoweit
unterscheidet sich eine etwaige "Obliegenheit zur Vorsorge" auch von der Fallkonstellation in dem vom Antragsgegner
zu seinen Gunsten herangezogenen Beschluss des 23. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10.
Oktober 2007 – L 23 B 146/07 SO ER –, in dem lediglich zu erörtern war, ob der Antragsteller darauf verwiesen
werden konnte, einen ihm unmittelbar zustehenden Anspruch auf Rückübertragung einer Schenkung zu verwirklichen
(hierzu bereits OVG Hamburg FEVS 46, 386; Bayerischer VGH FEVS 52, 357). Auch gesetzessystematisch könnte
dagegen sprechen, dass das SGB XII in § 41 Abs. 3 einen Fall, in dem das vorwerfbare Herbeiführen einer
Anspruchsvoraussetzung den Anspruch selbst ausschließt, ausdrücklich nennt und in § 92 Abs. 2 Satz 6 einen Fall
fehlender Vorsorge ausdrücklich als einen der Erstattung nach §§ 103, 104 SGB XII bezeichnet. Dem entsprechend
wird die "unterlassene Vorsorge" in Literatur und Rechtsprechung, unter dem Gesichtspunkt eines sozialwidrigen, den
Ersatzanspruch nach § 92a Bundessozial-hilfegesetz beziehungsweise § 103 SGB XII begründenden Verhaltens
diskutiert (siehe etwa BVerwGE 109, 331; OVG Berlin FEVS 29, 138; VGH Baden-Württemberg FEVS 35, 109;
Knopp/Fichtner, BSHG, § 2 Rz 13 ff. einerseits, § 92a Rz. 7 a.E. anderseits; W. Schellhorn in
Schellhorn/Schellhorn/Hohm, 17. Auflage 2006, § 2 Rz. 8 ff. einerseits, § 103 Rz. 11 andererseits; Dauber in
Mergler/Zink, BSHG, Stand 38. Ergänzungslieferung, § 2 Rz. 10a, 18 ff.; Zeitler ebd., § 92a Rz. 18; Daubler in
Handbuch Grundsicherung und Sozialhilfe, Stand 8. Ergänzungslieferung, § 2 Rz 23, 24; Steimer ebd. § 103 Rz 13,
14; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, 2. Auflage 2008, § 2 Rz. 11 ff. einerseits, Schoenfeld ebd. § 103 Rz. 6, 7
andererseits; Armborst/Brühl in LPK-SGB XII, 8. Auflage 2008, § 2 Rz. 14 ff. einerseits; Conradis ebd., § 103 Rz. 5,
6, 16). Danach stellen Ansprüche aus einem Krankenversicherungsvertrag so lange und so weit kein "bereites Mittel"
dar, welches Ansprüche gegen den Antragsgegner auf Hilfe bei Gesundheit ausschlösse, wie ein solcher Vertrag nicht
geschlossen ist und also nicht zu Leistungsansprüchen führen kann und eine ärztliche Behandlung keinen Aufschub
erlaubt, ohne dass die Gesundheit der Antragsteller gefährdet würde. Insoweit ist auch das grundsätzliche, nach
pflichtgemäßem Ermessen auszuübende Wahlrecht des Antragsgegners, in welcher Weise Hilfe im Krankheitsfall
geleistet wird (s. dazu BVerwGE 109, 331), gegenwärtig noch auf die Gewährung der Hilfen nach § 48 SGB XII
reduziert. In dem so beschriebenen Umfang des Anordnungsanspruchs liegt auch ein Anordnungsgrund vor, weil der
Schutz von Leben und Gesundheit auf Grund ihres überragenden Wertes nicht aufgeschoben werden kann. Ob
darüber hinaus ein Anordnungsanspruch besteht, kann offen bleiben, da es insoweit jedenfalls an einem
Anordnungsgrund fehlt. Angesichts dessen war der angefochtene Beschluss teilweise aufzuheben beziehungsweise
die Verpflichtung des Antragsgegners zu präzisieren. Die Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistung unter
Vorwegnahme der Entscheidung in der noch anhängigen Hauptsache ist nur in dem Umfang notwendig, der
unerlässlich ist, um Gesundheit und Leben der Antragsteller zu schützen. Dieser Schutz ist für Behandlungen nicht
erforderlich, die ohne Gefahr für die Gesundheit der Antragsteller aufgeschoben werden können. Die Gründe, aus
denen die Antragsteller keine anderweitigen Ansprüche auf Kostenersatz bei Krankheit mehr haben, sind entgegen
ihrer Auffassung für die Frage, ob und in welchem Umfang sie Leistungen aus der Sozialhilfe beanspruchen können,
ohne Bedeutung. Die absolute zeitliche Begrenzung der Verpflichtung ist ausgesprochen worden, um die Beteiligten
zu einer zeitnahen Überprüfung ihrer bisherigen Rechtspositionen zu veranlassen. Dazu ist darauf hinzuweisen, dass
entgegen den Ausführungen des Antragsgegners im Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 2007 nicht spätestens
seit 1. Juli 2007 "Versicherungspflicht für alle" im Bereich der Krankenversicherung gilt: Sie bestand als "Pflicht" für
"alle" vor diesem Datum gar nicht und seither zunächst nur für die Personen, die zuvor in der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert waren (§ 5 Abs. 1 Nr. 13 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch [SGB V]). Eine
Versicherungs"pflicht" in der privaten Krankenversicherung für nicht anderweitig gegen Krankheit abgesicherte
Personen besteht dagegen erst ab 1. Januar 2009 nach Maßgabe des § 193 Abs. 3 Versicherungsvertragsgesetz.
Allerdings wurde ab 1. Juli 2007 durch § 315 SGB V schon ein Kontrahierungszwang für Unternehmen der privaten
Krankenversicherung normiert. Nach dieser Vorschrift können seitdem dort näher bezeichnete Personen ohne
Versicherungsschutz bis zum 31. Dezember 2008 Versicherungsschutz im Standardtarif nach § 257 Abs. 2a SGB V
verlangen, ohne dass Risikozuschläge erhoben werden dürfen. Zu dem von dieser Vorschrift begünstigten
Personenkreis gehören nach Aktenlage auch die Antragsteller. Den Antragstellern ist auch zuzumuten, diese
Möglichkeit der Krankenversicherung zu nutzen, die geeignet ist, die von der Sozialhilfe aufzubringenden Kosten für
ihre Krankenhilfe künftig deutlich zu begrenzen. Soweit keine Pflichtversicherung besteht, erwartet die
Solidargemeinschaft, aus deren Mitteln die Sozialhilfe aufgebracht wird, von dem nicht gesicherten Bürger, dass
dieser Vorsorge für Krankheitsfälle durch Abschluss (oder Aufrechterhaltung) einer Krankenversicherung trifft, denn
niemand darf darauf vertrauen, dass er von Unfällen, Krankheiten und gesundheitsschädigenden Ereignissen jeder Art
verschont bleibt. Dies gilt umso mehr für die Antragsteller, die sich in fortgeschrittenem Alter befinden und nach
Aktenlage an diversen, zum Teil chronischen Krankheiten leiden. Sofern sich die Antragsteller künftig dieser Einsicht
verschließen sollten, setzten sie sich dem Vorwurf sozialwidrigen Verhaltens aus, das zu einem
Kostenersatzanspruch des Antragsgegners gemäß § 103 Abs. 1 SGB XII führen könnte (vgl. BVerwG a.a.O. mit
weiteren Nachweisen; ferner Wahrendorf a.a.O., § 48 Rz. 4 sowie Schoenfeld a.a.O. § 103 Rz. 6, 7 mit weiteren
Nachweisen). Soweit sie finanziell nicht in der Lage sind, für den Krankenversicherungsschutz aufzukommen,
müssen die Antragsteller dem Träger der Sozialhilfe die Entscheidung überlassen, ob dieser schon vor Eintritt eines
Krankheitsfalles die Beiträge zur – jetzt noch freiwilligen – privaten Krankenversicherung als Ermessensleistung nach
§ 32 Abs. 2 SGB XII übernehmen oder erst im Krankheitsfall Krankenhilfe gemäß § 48 SGB XII leisten will (vgl. das
bereits zitierte Urteil des BVerwG). Mit anderen Worten: Anders als die Antragsteller augenscheinlich meinen, haben
nicht sie ein Wahlrecht bezüglich der Art der Krankenhilfe, sondern der Antragsgegner, da dem Leistungsträger, der
ihnen bei Bedürftigkeit Leistungen zu erbringen hat, gerade wegen des bereits erwähnten § 103 SGB XII das Recht
zur Leistungsbestimmung zusteht (vgl. erneut BVerwG a.a.O.). Indem die Antragsteller vortragen, dass sie dann
grundsicherungsberechtigt wären und somit auf "Sozialhilfeniveau" lebten, verkennen sie, dass sie bereits bisher
Leistungen der Sozialhilfe erhalten.
Nach Aktenlage hat der Antragsgegner sein Wahlrecht auch bereits ausgeübt. Den angefochtenen Bescheiden ist
hinreichend deutlich zu entnehmen, dass der Antragsgegner einerseits Krankenhilfe in der bisherigen Form künftig
nicht mehr leisten will, andererseits aber erklärter Maßen bereit ist, die anfallenden Beiträge einer privaten
Krankenversicherung zu übernehmen, soweit sie die sozialhilferechtlich maßgebende finanzielle Leistungsfähigkeit
der Antragsteller überschreiten. Im Rahmen der Bedarfsberechnung wird der Antragsgegner auch zu prüfen haben, ob
bei den Antragstellern im Besonderen aufgrund ihrer Erkrankungen Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII zu
berücksichtigen oder abweichende Regelbedarfe nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII festzulegen sein könnten.
Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen war den Antragstellern allerdings in begrenztem Umfang einstweiliger
Rechtsschutz zu gewähren. Entgegen der aus den angefochtenen Bescheiden ersichtlichen Annahme des
Antragsgegners ist Versicherungsschutz aus dem Standardtarif der privaten Krankenversicherung nicht innerhalb
weniger Tage zu erlangen. Wie dem Senat auf telefonische Anfrage bei der Allianz-Krankenversicherung erläutert
worden ist, beginnt das Versicherungsverhältnis zwar am 1. des Folgemonats der Antragstellung.
Versicherungsschutz wird tatsächlich jedoch erst – rückwirkend – nach Prüfung und Annahme des Antrages gewährt.
Hierzu gehört eine umfassende Risikoprüfung unter Berücksichtigung erforderlicher Selbstauskünfte, Befundberichte
behandelnder Ärzte und sonstiger Behandlungsunterlagen (z. B. Krankenhausentlassungsberichte) im Hinblick darauf,
dass mit der Aufnahme in den Standardtarif die Möglichkeit eröffnet wird, später einen Wechsel in einen Tarif mit
zusätzlichen Leistungen vorzunehmen. Der gesetzliche Ausschluss von Risikozuschlägen gilt nur für den
Standardtarif. Er wird von der privaten Krankenversicherung nach dem jeweiligen konkreten Risiko zwar berechnet,
aber ruhend gestellt, solange die Versicherung im Standardtarif bzw. künftig im Basistarif besteht. Diese
Verfahrensweise beruht auf Vereinbarungen des Verbandes der privaten Krankenversicherer, der sich die Antragsteller
damit nicht entziehen können.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).