Urteil des LSG Bayern vom 17.01.2011

LSG Bayern: darstellung des sachverhaltes, gemeinsame einrichtung, hauptsache, rechtsschutz, versäumnis, notlage, dringlichkeit, zukunft, nachzahlung, rechtsgrundlage

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 17.01.2011 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 13 AS 1777/10 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 11 AS 889/10 B ER
Bundessozialgericht B 14 AS 8/11 S
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 24.11.2010 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird
abgelehnt.
Gründe:
I.
Der Antragsteller (ASt) begehrt höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II)
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner (Ag) für die Zeit ab 19.06.2009.
Der 1952 geborene ASt bezog bis zu dessen Erschöpfung am 18.06.2009 Arbeitslosengeld in Höhe von 34,01 EUR
täglich. Am 22.05.2009 beantragte er erstmals Alg II. Seine Unterkunftskosten bezifferte er mit monatlich 363,45
EUR.
Hinsichtlich der beantragten Bewilligung von Alg II ab 20.05.2009 bis 30.04.2010 ist derzeit ein Klageverfahren vor
dem Sozialgericht Nürnberg (SG) anhängig; ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist vom ASt ohne Erfolg
durchgeführt worden (Beschluss des Senates vom 05.08.2010 - L 11 AS 386/10 B ER -).
Mit Bescheid vom 11.06.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.09.2010 bewilligte der Ag dem
ASt auf den in den vorgelegten Akten des Ag nicht zu findenden Weiterbewilligungsantrag vom 04.06.2010 Alg II für
die Zeit vom 04.06.2010 bis 31.12.2010. Ein Anspruch auf Leistungen für die Zeit vom 01.05.2010 bis 03.06.2010
bestehe nicht, da der vorhergehende Bewilligungsabschnitt am 30.04.2010 ausgelaufen und der Folgeantrag erst am
04.06.2010 eingegangen sei. Der Zuschlag nach § 24 SGB II betrage im zweiten Jahr nur noch maximal 80 EUR.
Über die hiergegen erhobene Klage hat das SG noch nicht entschieden (S 13 AS 1607/10).
Mit mehreren Schreiben wandte sich der ASt jeweils an den Ag und forderte im Rahmen von "Versäumnis-Anträgen"
verschiedene Leistungen für die Zeit ab dem 19.06.2009 nach, zuletzt in Höhe von insgesamt 2.780,88 EUR. Dabei
geht es unter anderem um Leistungen anteilig für Juni 2009 ab 19.06.2009, ärztliche Behandlungskosten, Zinsen für
Kontoüberziehungen durch Zahlungsverzug des Ag, Schmerzensgeld und die Leistungen für Mai 2010. Für die Monate
Februar bis April 2010 fordert der ASt jeweils weitere 195,90 EUR, für Juli bis Dezember 2010 jeweils weitere 80 EUR
und für Januar 2011 weitere 160 EUR.
Mit Bescheid vom 06.12.2010 idF des Änderungsbescheides vom 16.12.2010 bewilligte der Ag dem ASt auf dessen
Fortzahlungsantrag vom 15.11.2010 Alg II für die Zeit vom 01.01.2011 bis 30.06.2011. Dabei wurde der Zuschlag
nach § 24 SGB II ab dem 01.01.2011 infolge einer Rechtsänderung nicht mehr berücksichtigt. Dagegen hat der ASt
am 13.12.2010 Widerspruch eingelegt, über den bislang nicht entschieden ist.
Am 15.11.2010 hat der ASt beim SG einen "Dringlichkeits-Antrag mit einstweiliger Verfügung bzw. Anordnung"
gestellt. Als Anlage ist der "18. Versäumnis-Antrag" vom 30.10.2010 beigefügt, mit dem der ASt zusätzliche
Leistungen für die Zeit vom 19.06.2009 bis November 2010 in Höhe von insgesamt 2.540,88 EUR fordert. Das SG hat
den Antrag mit Beschluss vom 24.11.2010 abgelehnt. Der ASt habe für den maßgeblichen Zeitraum vom 15.11.2010
bis 31.12.2010 eine aktuelle und akute Notlage weder glaubhaft gemacht noch dargelegt. Für Leistungen für die
Vergangenheit fehle es an einem Anordnungsgrund. Daneben fehle es auch an einem Anordnungsanspruch für
November und Dezember, denn der ASt sei auf die Halbierung des Zuschlages nach § 24 SGB II hingewiesen
worden.
Gegen diesen Beschluss hat der ASt Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt und die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Es sei der Vollzug des Zahlungsversäumnisses des Ag in Höhe
von 2.540,88 EUR für die Zeit vom 19.06.2009 bis einschließlich November 2010 anzuordnen. Unter dem 13.01.2011
übersandte der ASt eine aktuelle Aufstellung der "Zahlungsversäumnisse" vom 03.01.2011, mit der Leistungen in
Höhe von 2.780,88 EUR in der Zeit vom 19.06.2009 bis einschließlich Januar 2011 geltend gemacht werden, und das
Widerspruchsschreiben gegen den Bescheid vom 06.12.2010, mit dem er von einem Leistungsanspruch in Höhe von
727,45 EUR (Wohnmiete 363,45 EUR und Grundsicherung 364 EUR) ab dem 01.01.2011 ausgeht.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Akte des Ag sowie die Gerichtsakten erster und
zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des ASt ist zulässig, §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG), in
der Sache jedoch unbegründet.
Der Ag als beteiligtenfähige gemeinsame Einrichtung mit der Bezeichnung Jobcenter ist gemäß § 76 Abs 3 Satz 1
SGB II als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisherigen Antragsgegnerin Arbeitsgemeinschaft getreten. Das
Passivrubrum war entsprechend von Amts wegen zu berichtigen.
Der ASt hat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes keinen Anspruch auf Gewährung von weiteren Leistungen
in Höhe von 2.780,88 EUR in der Zeit vom 19.06.2009 bis einschließlich Januar 2011 und höherer laufender
Leistungen ab 01.01.2011.
Der ASt begehrt zusätzliche Leistungen für die Zeit vom 19.06.2009 bis über den Januar 2011 hinaus.
Streitgegenstand ist jedoch allein der Bescheid vom 11.06.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
30.09.2010, mit dem der Ag über eine Leistungsgewährung für den Zeitraum vom 01.05.2010 bis 31.12.2010
entschieden und insofern Leistungen vom 04.06.2010 bis 31.12.2010 bewilligt und mangels eines früheren
Fortzahlungsantrages die Leistungsgewährung für die Zeit vom 01.05.2010 bis 03.06.2010 abgelehnt hat. Hinsichtlich
der Leistungen für die Zeit bis zum 30.04.2010 hat bereits ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren ohne Erfolg
stattgefunden. Ein erneuter Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ohne Änderung der Sach- und Rechtslage ist nicht
zulässig (so auch Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 45a mwN). Die Zeit ab dem
01.01.2011 wird von dem am 05.11.2010 beim SG beantragten einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht erfasst,
denn zu diesem Zeitpunkt war ein entsprechender Fortzahlungsantrag beim Ag noch nicht gestellt bzw. eine
Entscheidung des Ag über eine Leistungsbewilligung ab dem 01.01.2011 noch nicht erfolgt. Soweit der ASt
weitergehend mit der Beschwerde auch die Leistungen für die Zeit ab Januar 2011 geltend gemacht hat, handelt sich
damit um eine Änderung des Antrages iSd § 99 Abs 1 SGG (zu den Voraussetzungen vgl. Leitherer in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 99 Rn. 12). Eine derartige Antragsänderung iSd § 99 Abs 1 SGG ist nur
zulässig, wenn der Ag zustimmt oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Beides ist nicht der Fall.
Soweit der ASt weitere Leistungen für den Zeitraum 01.05.2010 bis 31.12.2010 begehrt ist § 86b Abs 2 Satz 2 SGG
Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis.
Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa
dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare
Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so
BVerfG vom 25.10.1998 BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 NJW
2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl. Rn. 652).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und
das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein
Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm
§ 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 9. Aufl, § 86b Rn. 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des
Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und
Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927,
NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache
erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der
Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung
zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den
Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter
Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Ast zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005,
803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 - 1
BvR 2971/06 -). In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die
BvR 2971/06 -). In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die
Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, darf die
Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden. (vgl. BVerfG vom
12.05.2005 aaO)
Unter Beachtung dieser Kriterien ist dem ASt einstweiliger Rechtsschutz nicht zu gewähren, denn ein
Anordnungsgrund ist nicht glaubhaft gemacht.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit der Sache, ist in jeder
Lage des Verfahrens, insbesondere auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung. Der ASt verweist jeweils auf seine Aufstellungen, aus denen sich die aus seiner Sicht säumigen
Zahlungen des Ag ergeben. Damit begehrt der ASt jeweils Leistungen für die Vergangenheit. Im Rahmen einer
Regelungsanordnung ist aber der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu
vermeiden, dass der ASt vor vollendete Tatsachen gestellt wird, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (vgl.
Keller aaO § 86b Rn. 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die
in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume
diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein
Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen,
wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein
besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch
fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl. Beschluss des Senates vom 12.04.2010 - L 11 AS 18/10 B ER -
juris). Beides ist vorliegend nicht der Fall, denn der ASt hat nichts zu einer existenzbedrohenden Notlage darlegt, die
es durch eine umgehende Nachzahlung von Leistungen zu beseitigen gilt und die Vorwegnahme der Hauptsache
rechtfertigen könnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Aus den oben dargelegten Gründen ist die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende
Erfolgsaussicht der Beschwerde gemäß § 73a SGG iVm § 114 ZPO nicht gegeben. Der Antrag auf PKH war somit
abzulehnen.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.