Urteil des LSG Bayern vom 29.01.2002

LSG Bayern: hallux valgus, genu recurvatum, erwerbsunfähigkeit, operation, gesundheitszustand, erwerbsfähigkeit, vergleich, orthopädie, berufsunfähigkeit, minderung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.01.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 7 RJ 454/97
Bayerisches Landessozialgericht L 6 RJ 307/00
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 29. März 2000 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Die am 1963 geborene Klägerin beantragte erstmals am 12.02.1986 wegen der Folgen eines am 20.05.1982 privat
erlittenen Verkehrsunfalls bei der Beklagten Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die
Beklagte zunächst mit Bescheid vom 25.07.1986 wegen vordringlich durchzuführender Rehabilitationsmaßnahmen
vorläufig und sodann mit Bescheid vom 19.01.1987 mangels Erfüllung der Wartezeit und, weil weder Erwerbs- noch
Berufsunfähigkeit vorliege, endgültig ab.
Am 17.05.1995 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut die Zahlung von Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.08.1995 ab, weil im Zeitpunkt des
Rentenantrags die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentenleistung nicht erfüllt seien. Den am
08.09.1995 hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.02.1996 zurück;
der Widerspruch sei unzulässig, weil im Bescheid vom 18.08.1995 eine sachliche Prüfung für den Fall zugesagt
worden sei, dass - wie nun geschehen - der Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit bereits vor dem Zeitpunkt des
Rentenantrags geltend gemacht werde. Der Widerspruchsbescheid wurde von der Beklagten am 06.02.1996 mit
eingeschriebenem Brief zur Post gegeben; Klage wurde nicht erhoben.
Mit Bescheid vom 17.07.1996 lehnte nunmehr die Beklagte den Rentenantrag vom 17.05.1995 erneut ab. Zwar liege
bei der Klägerin vom 23.10.1995 bis 30.04.1997 Erwerbsunfähigkeit (EU) vor; mangels Vorliegens der
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bestehe aber kein Rentenanspruch. Auf den am 09.08.1996 eingelegten
Widerspruch erteilte die Beklagte den Bescheid vom 17.10.1996. Der Klägerin stehe vom 01.05.1996 (vom Beginn
des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit am 23.10.1995) bis 30.04.1997 Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit zu. Die Rente sei befristet zu leisten, weil nach den medizinischen Befunden begründete
Aussicht auf Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse bestehe. Der Bescheid werde nach § 86 SGG Gegenstand
des anhängigen Widerspruchsverfahrens. Nachdem die Klägerin erklärt hatte, die Rente sei unbefristet zu leisten,
wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.03.1997 zurück.
Gesundheitszustand und berufliches Leistungsvermögen der Klägerin hatte die Beklagte umfangreichem
Vorbefundmaterial entnommen. Als entscheidend für die vorübergehende Leistungseinschränkung hatte der
sozialmedizinische Dienst der Beklagten die Folgen eines am 07.12.1995 operierten schädelbasisnahen Aneurysmas
erachtet.
Über einen neben dem Widerspruchsverfahren am 16.01.1997 gestellten Weiterzahlungsantrag hat die Beklagte nicht
entschieden.
Mit der am 18.04.1997 zum Sozialgericht Landshut (SG) erhobenen Klage begehrte die Klägerin weiterhin unbefristete
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Das SG erhob über Gesundheitszustand und berufliches Leistungsvermögen der Klägerin Beweis durch Einholung
medizinischer Sachverständigengutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie,
Sportmedizin Dr.G. (Gutachten vom 26.07.1998), sodann - aufgrund eines entsprechenden Antrags der Klägerin nach
§ 109 SGG - von dem Arzt für Orthopädie, Sportmedizin und Chirotherapie Dr.H. (Gutachten vom 10.02.1999) und
abschließend - auf Anregung der Beklagten und im Hinblick auf die Einwendungen des sozialmedizinischen
Dienstes/Arzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, Sozialmedizin Dr.L. vom 20.07.1999 - nach § 106 SGG von dem
Orthopäden Dr.S. , Chefarzt der Orthopädie/Traumatologie der R.klinik B. (Gutachten vom 19.08.1999 einschließlich
einer ergänzenden Stellungnahme vom 22.12.1999 zu der Äußerung des sozialmedizinischen Dienstes/Dr.L. vom
30.11.1999).
Dr.G. stellte fest, bei der Klägerin liege seit dem am 20.05.1982 erlittenen Unfall ein Zustand nach Schädel-Hirn-
Trauma vor mit einem pseudo-neurasthenischen Syndrom, einer diskreten Residualsymptomatik links (insbesondere
auch mit einer Beeinträchtigung der Feinmotorik der linken Hand), einer geringgradigen Peronäusläsion links,
Bewegungseinschränkungen im Bereich beider Kniegelenke und einer Migräne. Die Klägerin könne vollschichtig nur
noch leichte Tätigkeiten vorwiegend im Sitzen, ohne Akkord- oder Wechselschichtarbeit, ohne Streßbelastung sowie
ohne besondere Beanspruchung der linken Hand verrichten. Das Anpassungs- und Umstellungsvermögen sei nicht
aufgehoben, zusätzliche Arbeitspausen seien nicht erforderlich, auch könne ein Anmarschweg zur Arbeitsstätte
durchaus zurückgelegt werden.
Dr.H. erhob bei der Klägerin folgende Diagnosen: 1. Valgusgonarthrose rechts. 2. Anteriore und posteriore
Kniegelenksinstabilität links bei Genu recurvatum. 3. Hallux rigidus rechts bei Zustand nach Hallux-valgus-Operation.
4. Krallenzehenbildung an den Zehen 4 und 5 rechts. 5. Tendomyotische Cervicocephalgie bei beginnender
Uncovertebralarthrose. 6. Lumbalgie mit pseudoradiculärer Schmerzausstrahlung bei fortgeschrittener
Osteochondrose L5/S1. 7. Zustand nach osteosynthetisch versorgter Oberschenkelfraktur beidseits. 8. Subacromial-
Syndrom beidseits. 9. Chronisches Schmerzsyndrom.
Der Sachverständige kam zum Ergebnis, dass die Klägerin keine Arbeiten von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten
könne; Besserungsaussicht bestehe nicht, auch könnten die üblichen Anmarschwege zur Arbeitsstätte nicht mehr
zurückgelegt werden.
Nach Dr.S. liegen bei der Klägerin folgende Gesundheitsstörungen vor: 1. Lumbalsyndrom pseudoradikulär/radikulär
mit L 5 Fußheberschwäche links und Zehenheberschwäche links sowie Hypersensibilitätsbereich distal betont L 5. 2.
Fortgeschrittene Pangonarthrose des rechten Kniegelenks. 3. Komplexinstabilität Grad I linkes Kniegelenk. 4.
Komplexinstabilität Grad I rechtes Kniegelenk. 5. Hallux rigidus rechts mit Großzehengrundgelenksarthrose Grad III,
Zustand nach Hallux-valgus-Operation. 6. Krallenzehenbildung D V mit Beugekontraktur, auch nach Operation. 7.
Unphysiologische Streckkontraktur Zehe IV rechts nach Operation. 8. Fußwurzelarthrose rechter Fuß. 9. Zustand
nach osteosynthetisch versorgter Oberschenkelfraktur beidseits mit spornförmiger Kallushyperreaktion. 10.
Geringgradiges Cervicalsyndrom bei beginnender degenerativer Veränderung (Uncovertebralarthrose). 11. Haglund-
Ferse links. 12. Neurologisch bedingte Reduktion der Beweglichkeit und Einsatzfähigkeit der linken Hand. 13.
Funktionelles schmerzhaftes Knacken beider Schultergelenke bei Schulterhochstand beidseits mit geringfügigem
Supraspinatus-outlet-Impingement-Syndrom.
Dr.S. führte aus, bei der Klägerin fänden sich orthopädischerseits vor allem schmerzhafte Einschränkungen der
unteren Extremitäten. In beiden Kniegelenken lägen Abnutzungserscheinungen fortgeschrittenen Ausmaßes vor, und
zwar überwiegend rechts mit gleichzeitiger Instabilität beidseits. Hierdurch werde die Stabilität beider Kniegelenke
deutlich beeinflußt; dies mache sich bei Arbeiten auf unebenem Terrain und insbesondere bei Startphasen nach
längeren abgewinkelten Haltungen der Kniegelenke bemerkbar. Am rechten Kniegelenk bestehe annähernd eine
Indikation für eine Prothesenimplantation. Desweiteren bestehe - vermutlich als Restsymptomatik eines
Schädelhirntraumas - eine Fußheber- und Großzehenheber- sowie Zehenheberschwäche links mit
Gangdyskoordination links bei zusätzlich deutlich geschädigtem rechten Vorfuß. Der rechte Fuß werde weniger
belastet als der linke Fuß, was sich auch in der Fußsohlenbeschwielung darstelle. Es bestehe außerdem von seiten
der oberen Extremitäten eine vermutlich zentral bedingte Dyskoordination der linken Hand mit deutlich reduzierter
Einsatzfähigkeit nicht nur hinsichtlich des Fein- und Spitzgriffs, sondern auch der groben Kraft, so dass von einer
verminderten Gebrauchsfähigkeit der linken Hand ausgegangen werden müsse. Wenn Dr.G. vom Fehlen
umschriebener Paresen ausgehe und vom Fehlen von Atrophien, so müsse dem widersprochen werden. Es finde sich
nämlich eine Fußheber- und eine Großzehenheber- sowie Zehenheberparese links, Kraftgrad III bis IV/V. Die
Daumenmuskulatur sei links abgeflacht im Vergleich zu rechts, insofern liege auch eine Atrophie vor. Die grobe Kraft
und die feineren Bewegungen seien nicht seitengleich regelrecht, sondern es bestünden deutliche Unterschiede
hinsichtlich der linken und rechten Hand. Die linke Hand sei im Vergleich zur rechten Hand deutlich dyskoordinierter
und schwächer, dies gebe auch Dr.G. zu, wenn er schreibe, dass eine Bradydysdiadochokinese bestehe. Die Klägerin
könne nach ihrem festgestellten Gesundheitszustand täglich nur noch zwei Stunden bis unter halbschichtig arbeiten,
wobei die Betonung auf zwei Stunden liege. Die Störungen der Klägerin seien eindeutig nachvollziehbar. Das
Vorgutachten von Dr.H. habe nicht dramatisiert sondern entspreche den Tatsachen, wie die intensive
Nachuntersuchung der Klägerin ergeben habe. Es liege ein polytopes und multiorganes Defektsyndrom vor, das mehr
Liegephasen als Steh- und Gehphasen im Sinne der Belastungsphasen zuläßt. Dekompensationsmechanismen
kämen sofort zum Tragen. Eine größere Belastbarkeit erscheine nicht zumutbar. Mit Sicherheit benötige die Klägerin
unübliche zusätzliche Arbeitspausen von mehr als zweimal einer Viertelstunde täglich. Ein Anmarschweg zur
Arbeitsstätte von 500 Metern viermal täglich könne auf keinen Fall mehr zurückgelegt werden. Der jetzt
festzustellende Gesundheitszustand habe im großen und ganzen bereits im Mai 1995 bestanden. Die Tätigkeit, die
zum damaligen Zeitpunkt durchgeführt worden sei, sei nur unter Aufbringung der maximalen körperlichen Kräfte und
unter dem Risiko einer massiven körperlichen Verschlechterung verrichtet worden. Besserungsaussicht bestehe nicht.
Zu der vom sozialmedizinischen Dienst der Beklagten/Dr.L. unter dem 30.11.1999 vorgebrachten Kritik nahm Dr.S.
am 22.12.1999 im einzelnen Stellung, wobei er auch auf die im vorliegenden Fall bestehende besondere Bedeutung
des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der Untersuchungssituation hinwies; es bleibe eindeutig bei der
Schlussfolgerung in seinem Gutachten.
Der sozialmedizinische Dienst der Beklagten/Dr.L. äußerte hierzu unter dem 12.01.2000, er sehe keine Veranlassung,
von seiner bisherigen Auffassung abzuweichen.
Das SG verpflichtete hierauf die Beklagte mit Urteil vom 29.03.2000, der Klägerin ab 01.06.1995 Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit (ohne zeitliche Befristung) zu gewähren. Das Urteil wurde der Beklagten am 02.05.2000 zugestellt.
Am 29.05.2000 ging die Berufung der Beklagten beim Bayer. Landessozialgericht ein. Sie legte zwei Stellungnahmen
von Dr.L. vor (vom 18.05.2000 und vom 31.07.2001), in denen inhaltlich auf die erste Äußerung vom 30.11.1999
Bezug genommen wurde. Das Erstgericht habe sich nicht mit den Argumenten der Beklagten auseinandergesetzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestands wird im Übrigen auf den
Inhalt der beigezogenen Akten (Rentenakten der Beklagten; Klageakten des SG Landshut) und der Akte des Bayer.
Landessozialgerichts sowie auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 ist nicht zu
beanstanden, da die Klägerin gegen die Beklagte ab 01.06.1995 unbefristeten Anspruch auf Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit hat. Der Senat folgt diesbezüglich in vollem Umfang den Gründen des angefochtenen Urteils und
sieht daher gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe
ab. Ergänzend ist lediglich auszuführen:
Der Vorwurf der Beklagten, das Erstgericht habe sich nicht mit den Einwendungen Dr.L. gegen das Gutachten von
Dr.S. auseinandergesetzt, geht fehl. Im Hinblick auf die erforderliche medizinische Sachkunde hat das SG in
verfahrensrechtlich nicht zu beanstandender Weise von Dr.S. eine ergänzende Stellungnahme (vom 22.12.1999)
eingeholt, in der sich dieser mit der von Dr.L. gesehenen Problematik eingehend und überzeugend auseinandergesetzt
hat. Gegenüber dieser Stellungnahme Dr.S. hat Dr.L. in seinen weiteren Äußerungen (vom 12.01.2000, 18.05.2000
und 31.07.2001) keine Sachargumente mehr vorgetragen, die für das SG oder den Senat hätten Veranlassung bieten
können, an der Richtigkeit des Gutachtens von Dr.S. zu zweifeln. Im vorliegenden Fall sollte auch nicht übersehen
werden, dass die Klägerin von zwei medizinischen Sachverständigen auf orthopädischem Fachgebiet nach
persönlicher Untersuchung für nur noch unter halbschichtig einsatzfähig beurteilt worden ist. Dies zeigt, dass
offensichtlich die Beurteilung nach Aktenlage, worauf auch Dr.S. besonders hinweist, dem konkreten Fall nicht
gerecht werden kann.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Landshut vom 29.03.2000 war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.