Urteil des LSG Bayern vom 23.09.2010

LSG Bayern: materielles recht, unterkunftskosten, rechtsschutz, nachzahlung, wohnung, darlehen, vermieter, akte, auflage, kündigung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 23.09.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 22 AS 1266/10 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 7 AS 651/10 B ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16. Juli 2010 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist im Beschwerdeverfahren die Übernahme weiterer Kosten für die Unterkunft für Zeiträume, für die
bestandskräftige Bewilligungsbescheide vorliegen und ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X abgelehnt wurde
sowie hilfsweise die Übernahme von Mietschulden als Darlehen.
Der 1953 geborene Antragsteller erhält von der Antragsgegnerin seit November 2005 Leistungen nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Antragsteller bewohnt eine Wohnung mit einer Fläche von circa 60 qm, einer
Kaltmiete von 550,- Euro, Heizkosten von 50,- Euro (ab Mai 2009 95,71 Euro) und Nebenkosten von 100,- Euro
monatlich. Zu Beginn des Leistungsbezuges lebten auch der 1980 geborene Sohn D und die 1988 geborene Tochter N
im Haushalt des Antragstellers.
Zunächst wurden zwei Drittel der Kosten der Unterkunft für den Antragsteller und die Tochter N als Bedarf anerkannt.
Der Sohn war wegen seines Lebensalters nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft. Ende 2007 zog der Sohn nach E ...
Die Antragsgegnerin legte daraufhin der Bewilligung für den Antragsteller und seine Tochter die vollen
Unterkunftskosten als Bedarf zugrunde; Kindergeld und Erwerbseinkommen wurden auf den Anspruch der Tochter
angerechnet (Bescheid vom 16.01.2008). Ab Juni 2008 kam es zwischen den Beteiligten zu unterschiedlichen
Auffassungen darüber, ob die Tochter noch in der Wohnung lebte oder ausgezogen war. Die Antragsgegnerin
bewilligte daraufhin nur mehr für den Antragsteller Leistungen, wobei nur mehr die Hälfte der Unterkunftskosten als
Bedarf anerkannt wurde (Bescheid vom 05.06.2008).
Mit Schreiben vom 27./28.08.2009 beantragte der Antragsteller die Überprüfung der vergangenen Leistungen ab Juni
2008 wegen den Kosten der Unterkunft. Er habe jetzt eine Kündigung des Vermieters erhalten. Hierauf forderte die
Antragsgegnerin erneut Nachweise zum Aufenthalt der Tochter.
Am 23.09.2009 sprach der Antragsteller bei der Antragsgegnerin wegen der Übernahme von Mietschulden vor. Ihm
wurde erklärt, dass dies nicht möglich sei, weil die Wohnung zu teuer sei und der Mietrückstand von 12.000,- Euro zu
hoch sei.
Mit Bescheid vom 14.12.2009 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Übernahme der vollen Miete ab dem Umzug
der Tochter ab. Über den Widerspruch des Antragstellers vom 11.01.2010 ist noch nicht entschieden. Am 17.04.2010
hat der Antragsteller eine Klage zum Sozialgericht erhoben auf Nachzahlung der zu wenig bezahlten Miete (Az. S 22
AS 1106/10).
Am 22.04.2010 erfolgte ein Hausbesuch. Mit Bescheid vom 03.05.2010 wurden ab 01.06.2010 bis wohl 30.11.2010 die
vollen Kosten der Unterkunft (monatlich 747,71 Euro) anerkannt.
Am 05.05.2010 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Er
begehre die volle Miete ab sofort und die Nachzahlung der in der Vergangenheit zu Unrecht verweigerten Miete, ggf. in
Form eines Darlehens.
Mit Änderungsbescheid vom 17.05.2010 wurde auch für die Zeit ab 22.04.2010 Kosten der Unterkunft in Höhe von
747,71 Euro monatlich anerkannt. Mit Beschluss vom 28.06.2010 lehnte das Sozialgericht den Erlass einer
einstweiligen Anordnung ab. Aufgrund des Änderungsbescheids vom 17.05.2010 würden die vollen Unterkunftskosten
übernommen und der Anordnungsanspruch sei erfüllt. Der Antragsteller machte daraufhin geltend, dass über die
Nachzahlung der Miete aus der Vergangenheit noch nicht entschieden sei. Mit Ergänzungsbeschluss vom 16.07.2010
lehnte das Sozialgericht auch eine einstweilige Anordnung hinsichtlich der Unterkunftskosten für die Zeit zwischen
Juni 2008 und 21.04.2010 ab. Im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X seien erhöhte Anforderungen an den
Anordnungsgrund zu stellen, die hier nicht erfüllt seien.
Am 13.08.2010 hat der Antragsteller Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.07.2010
erhoben. In der Vergangenheit sei regelmäßig zu wenig Miete bezahlt worden. Auf die Frage des Gerichts, was mit
dem Vermieter wegen der Kündigung konkret vereinbart worden sei, teilte der Antragsteller mit, dass der Vermieter
sich bereit erklärt habe, eine Räumungsklage zu unterlassen unter der Bedingung, dass die laufende Miete in voller
Höhe bezahlt wird.
Der Beschwerdeführer beantragte sinngemäß, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.07.2010
aufzuheben und die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, für den Zeitraum von Juni 2008 bis 21.04.2010 die
vollen Unterkunftskosten zu übernehmen, hilfsweise ein Darlehen für die Mietschulden zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf die Akte der Antragsgegnerin, die Akte
des Sozialgerichts und die Akte des Landessozialgerichts verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die
Beschwerde ist jedoch nicht begründet, weil das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht
abgelehnt hat.
Für die begehrte Begründung einer Rechtsposition im einstweiligen Rechtsschutz ist ein Antrag auf eine
Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Der Antrag muss zulässig sein und die Anordnung
muss zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Es muss glaubhaft sein, dass ein materielles Recht
besteht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird (Anordnungsanspruch), und es muss glaubhaft sein,
dass eine vorläufige Regelung notwendig ist, weil ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht
zumutbar ist (Anordnungsgrund).
Der Antragsteller begehrt weitere Leistungen für Unterkunft und Heizung in einem zurückliegenden Zeitraum, für den
bestandskräftige Bescheide ergangen sind. Ausgehend vom Streitgegenstand eines Anordnungsverfahrens, im
Eilverfahren zu prüfen, inwieweit dem Antragsteller für einen Zwischenraum bis zur Hauptsacheentscheidung eine
bestimmte Rechtsposition zusteht, ist ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bei einer bindenden
Hauptsacheentscheidung unzulässig (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage 2008, § 86b Rn.
26d). Es gibt dann keine Rechtsposition, die bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren gesichert werden könnte.
Erst wenn ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bei der Behörde gestellt wurde und der Behörde unter Darlegung
und ggf. Glaubhaftmachung der Dringlichkeit der Überprüfung eine ausreichende Bearbeitungsfrist eingeräumt wurde,
kann ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wieder zulässig werden. Beim Gericht kann ein
Überprüfungsantrag nicht gestellt werden, weil ein Gericht keine Stelle nach § 16 SGB I ist.
In der Sache ist vom Gericht der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund zu prüfen, wobei an den
Anordnungsgrund besonders strenge Anforderungen zu stellen sind, weil das Unterlassen eines rechtzeitigen
Rechtsbehelfs trotz Rechtsbehelfsbelehrung gegen eine Eilbedürftigkeit spricht (vgl. Beschluss Bay. LSG vom
05.08.2010, L 7 AS 523/10 B ER). Zu beachten ist ferner, dass für die Vergangenheit, also die Zeit vor Anhängigkeit
des Eilverfahrens, im vorläufigen Rechtsschutz, ohnehin kein finanzieller Ausgleich erbracht wird, sofern keine
fortwirkende Notlage besteht.
Im vorliegenden Fall wurde Überprüfungsantrag bereits am 28.08.2009 gestellt und auf die erfolgte Kündigung des
Vermieters hingewiesen. Allerdings wurde kein Kündigungsschreiben vorgelegt und offensichtlich ist auch eine
Räumungsklage nicht erhoben worden. Wie der Antragsteller mitteilt, sieht der Vermieter von einem
Räumungsverfahren ab, solange er laufend die volle Miete erhält. Damit fehlt es für den Anspruch auf Nachzahlung
von Miete im Rahmen des Überprüfungsverfahrens zumindest an den strengen Anforderungen an den
Anordnungsgrund. Wegen § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II ist aber absehbar, dass die tatsächliche Miete, die deutlich über
der Angemessenheitsgrenze der Antragsgegnerin liegt, nicht mehr lange in voller Höhe übernommen werden wird.
Der Antragsteller macht neben dem Anspruch auf Nachzahlung der Unterkunftskosten hilfsweise einen Anspruch auf
Übernahme von Mietschulden nach § 22 Abs. 5 SGB II geltend. Dieser Anspruch setzt in jedem Fall voraus, dass
dies zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt ist. Die Übernahme von Mietschulden ist grundsätzlich nur dann
gerechtfertigt, wenn es sich um eine kostenangemessene Unterkunft handelt (Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage
2008, § 22 Rn. 109 und Münder, SGB II, 3. Auflage 2009, § 22 Rn. 121). Die Wohnung des Antragstellers ist mit einer
Kaltmiete von 550,- Euro deutlich zu teuer - die von der Antragsgegnerin festgelegte angemessene Miete beträgt für
eine Person 449,21 Euro Kaltmiete. Deshalb fehlt es für eine Schuldenübernahme an einem Anordnungsanspruch.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Anspruch auf Übernahme von Mietschulden ist nachrangig im Verhältnis
zum originären Anspruch auf Übernahme von Mietkosten als Zuschuss nach § 22 Abs. 1 SGB II. Dies gilt auch für
das Überprüfungsverfahren. Deshalb wird bei einer rechtswidrigen Leistungsablehnung nicht das Ermessen im
Rahmen von § 22 Abs. 5 SGB II auf Null reduziert und nur ein Darlehen gewährt (so aber Münder a.a.O.), sondern es
ist die vorenthaltene Leistung im Rahmen des Überprüfungsantrags als Zuschuss zu erbringen. Für die Prüfung des
Widerspruchs gegen den Überprüfungsbescheid vom 14.12.2009 lassen sich aus § 22 Abs. 5 SGB II keine
Folgerungen ziehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.