Urteil des LSG Bayern vom 27.11.1997

LSG Bayern: beeinträchtigung des sehvermögens, sicherheit, wahrscheinlichkeit, blindheit, akte, erfahrung, augenheilkunde, universität, bayern, nystagmus

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 27.11.1997 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 9 Bl 9/94
Bayerisches Landessozialgericht L 15 Bl 10/96
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 9. Juli 1996 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist es streitbefangen, ob der am ...1992 geborenen Klägerin vom 01.09.1993 bis 31.12.1994
Zivilblindenpflegegeld nach dem Zivilblindenpflegegeldgesetz (ZPflG) zusteht.
Am 09.02.1993 beantragte die gesetzliche Vertreterin der Klägerin die Gewährung von Zivilblindenpflegegeld unter
Hinweis auf die Entscheidung der Sozialverwaltung des Bezirks Oberpfalz über die Gewährung von Blindenhilfe nach
dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Der Beklagte zog einen Arztbrief des Klinikums Regensburg bei, holte eine
versorgungsärztliche Stellungnahme ein und ließ die Klägerin durch Frau Prof.Dr ... (Klinik und Poliklinik für
Augenheilkunde der Universität Regensburg) untersuchen. In ihrem Gutachten vom 15.11.1993 kam die
Sachverständige zu dem Ergebnis, aufgrund des Ergebnisses der bei der Klägerin durchführbaren Untersuchungen sei
von einer starken Beeinträchtigung des Sehvermögens auszugehen und werde die Gewährung von Blindengeld für
vorerst drei Jahre befürwortet. Aufgrund einer versorgungsärztlichen Stellungnahme hierzu lehnte der Beklagte die
Gewährung der beantragten Leistung mit Bescheid vom 04.01.1994 ab, weil eine Blindheit nicht nachgewiesen sei.
Den Widerspruch hiergegen wies er mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.1994 zurück.
Das hiergegen angerufene Sozialgericht Regensburg (Az.: S 9 Bl 9/94) hat von Amts wegen ebenfalls von Frau
Prof.Dr ... ein Gutachten eingeholt, die unter dem 28.06.1995 die Auffassung vertreten hat, aufgrund eines 5-m-Visus
von 0,3 könne Blind- heit nicht bejaht werden (Untersuchung vom 22.05.1995). Der im Anschluß daran von Amts
wegen gehörte Sachverständige Prof. Dr ... ist hingegen in seinem Gutachten vom 30.12.1995 zu dem Ergebnis
gekommen, nur infolge der in letzter Zeit eingetretenen Zunahme der Sehschärfe sei Blindheit nicht mehr gegeben.
Mit Urteil vom 09.07.1996 hat das Sozialgericht dem Antrag der Klägerin entsprochen und ihr vom 01.09.1993 bis
31.12.1994 Zivilblindenpflegegeld zugesprochen. In den Urteilsgründen ist es davon ausgegangen, daß bei der
Klägerin im fraglichen Zeitraum nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen
Schweregrad vorgelegen haben, wie sie Art.1 Abs.3 Nr.2 ZPflG voraussetzen. Zwar sei das Ausmaß der optischen
Störung bei der Klägerin nicht feststellbar gewesen, jedoch sei eine anspruchsberechtigende Störung des
Sehvermögens nach Feststellung der Sachverständigen und Ansicht des Gerichts mindestens bis 31.12.1994
gegeben gewesen. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten seien daher entsprechend abzuändern.
Seine dagegen eingelegte Berufung hat der Beklagte im wesentlichen damit begründet, daß die vom Sozialgericht
gehörten Sachverständigen zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Untersuchungen das Vorliegen von Blindheit verneint haben
und für die vom Sozialgericht zugesprochene Anspruchsberechtigung entsprechende Befunde fehlen würden. Der
Senat hat unter neuerlicher Ernennung von Prof.Dr ... zum gerichtlichen Sachverständigen eine gutachtliche
Stellungnahme dazu angefordert, ob aufgrund der vorhandenen Unterlagen mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne, daß vom 01.09.1993 bis 31.12.1994 die
Anspruchsvoraussetzungen bei der Klägerin vorgelegen hätten. In seiner Stellungnahme vom 30.06.1997 hat der
Sachverständige nach Rücksprache mit der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin dies bejaht, obwohl bei Kleinkindern
exakte Sehprüfungen üblicher Art prinzipiell unmöglich seien. Nach Kenntnisnahme eines Arztbriefes der Augenklinik
Regensburg vom 23.04.1997 hat er mit Schreiben vom 15.07.1997 ergänzend ausgeführt, die nunmehr festgestellte
Einschränkung des Gesichtsfeldes beider Augen bekräftige seine Schlußfolgerungen zusätzlich. Demgegenüber hat
der Beklagte im Rahmen zweier versorgungsärztlicher Stellungnahmen darauf hingewiesen, die Schlußfolgerungen
von Prof.Dr ... seien nicht durch ausreichende Befunde belegt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 09.07.1996 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom
01.04.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.05.1994 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 09.07.1996 zurückzuweisen.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Zivilblindenpflegegeld-Akte und die
Schwerbehinderten-Akte des Beklagten sowie die Akte des vorangegangenen Streitverfahrens vor dem Sozialgericht
Regensburg. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den gesamten übrigen Inhalt dieser Akten, insbesondere die
genannten ärztlichen Befunde, Stellungnahmen und Gutachten sowie die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten ist nach Art.4 Abs.3 Satz 1 ZPflG in Verbindung mit § 143 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) statthaft; einer Zulassung der Berufung nach § 144 Abs.1 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur
Entlastung der Rechtspflege vom 11.01.1993 hat es im Hinblick auf Satz 2 dieser Vorschrift nicht bedurft. Das
Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG), damit insgesamt zulässig, erweist sich jedoch als
unbegründet.
Sachlich zutreffend hat das Sozialgericht auf Art.1 Abs.3 Nr.2 ZPflG abgestellt, wonach als Blinde Personen gelten,
bei denen nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie
der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Art.1 Abs.3 Nr.1 ZPflG gleichzuachten sind. Nach Vollendung des ersten
Lebensjahres steht diesem Personenkreis nach Art.1 Abs.1 ZPflG ein Pflegegeld zu, soweit sie ihren Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben.
Das Vorliegen dieser bis zum 31.03.1995 (Inkrafttreten des Bayerischen Blindengeldgesetzes) maßgeblichen
Voraussetzungen hat der Sachverständige Prof.Dr ... in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 30.06.1997 sowie
seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15.07.1997 unter Auswertung der vorhandenen Befunde, der Angaben der
gesetzlichen Vertreterin der Klägerin sowie seiner langjährigen ärztlichen Erfahrung schlüssig und überzeugend bejaht.
Die am 10.11.1993 in der Klinik für Augenheilkunde der Universität Regensburg festgestellten Befunde (Mikropapillen,
Nystagmus) und Ergebnisse der Sehfunktionsprüfungen führten damals zur Befürwortung der Gewährung von
Zivilblindengeld an die Klägerin durch Prof.Dr ..., die Leiterin der Abteilung für Kinderaugenheilkunde u.a. in
vorgenannter Klinik. Trotz des - altersbedingten - Fehlens exakter apparativer Meßergebnisse für die Jahre 1993/94
hält der Senat jedenfalls aufgrund rückschauender Beurteilung unter Einbeziehung der 1995 erhobenen genaueren
Befunde (einschließlich der 1997 festgestellten Gesichtsfeldeinschränkungen) und der von Prof.Dr ... angeführten
ärztlichen Erfahrungswerte zum zeitlichen Ablauf einer Besserung des Sehvermögens bei Kleinkindern das Vorliegen
der Voraussetzungen des Art.1 Abs.3 ZPflG in der Zeit vom 01.09.1993 bis 31.12.1994 mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit für bewiesen. Dem Beklagten ist zwar einzuräumen, daß die vom Sozialgericht Regensburg
eingeholten Gutachten keine eindeutige Aussage hinsichtlich des streitbefangenen Zeitraums enthalten, doch hat die -
ausdrücklich unter Hinweis auf den hier anzuwendenden Beweismaßstab der an Sicherheit grenzenden
Wahrscheinlichkeit erfolgte - Beweiserhebung durch den Senat den Nachweis dafür erbracht, daß der Klägerin im
streitbefangenen Zeitraum die beantragte Leistung zugestanden hat. Dem Beklagten ist auch einzuräumen, daß dem
Sachverständigen Prof.Dr ... für seine Beurteilung keine apparativen Befunde zur Verfügung gestanden haben, deren
Erhebung bei Kleinkindern generell nur schwer möglich ist. Dies kann einen gerichtlichen Sachverständigen jedoch
nicht daran hindern, seine - hier langjährige - ärztliche Erfahrung in die Beurteilung einzubringen und in Verbindung mit
den vorliegenden Befunden darauf zu schließen, daß die Anspruchsvoraussetzungen für einen gewissen Zeitraum
gegeben sind. Die zeitliche Einschränkung des Art.1 Abs.1 ZPflG belegt es im übrigen, daß der Gesetzgeber die
Schwierigkeit der Erhebung präziser Befunde bei Kleinkindern gesehen, gleichwohl aber nach Vollendung des ersten
Lebensjahres grundsätzlich die Anspruchsberechtigung bejaht hat. Unter diesen Umständen exakte apparative
Befunde auch bei Kleinkindern zu fordern, ist daher im Ergebnis nicht möglich und würde der Absicht des
Gesetzgebers entgegenstehen.
Aus diesen Gründen ist die Berufung des Beklagten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unbegründet und mit
der Kostenfolge aus den §§ 183, 193 SGG zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat
noch der Senat von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten
Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht.