Urteil des LSG Bayern vom 23.03.2009

LSG Bayern: aufschiebende wirkung, überwiegendes interesse, rentenanspruch, aussetzung, ausnahmefall, rückzahlung, erlass, rückforderung, erwerbstätigkeit, glaubhaftmachung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 23.03.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 8 R 557/06*
Bayerisches Landessozialgericht L 20 R 179/09 ER
Der Antrag der Beklagten, die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 05.08.2008
auszusetzen, wird abgelehnt. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Aussetzungsverfahrens
zu erstatten.
Gründe:
I. Am 05.08.2008 hat das Sozialgericht Würzburg (SG) die Beklagte zur Leistung von Rente wegen voller
Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.06.2008 bis 31.05.2010 verurteilt. Seit Beginn der Reha-Maßnahme sei die
Klägerin lt. dem Entlassungsgericht der Reha-Einrichtung nicht mehr in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich am
Erwerbsleben teilzunehmen. Dagegen hat die Beklagte Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Die
Einschätzung der Leistungsminderung im Entlassungsbericht der Reha-Einrichtung sei nicht nachvollziehbar. Zudem
hat die Beklagte beantragt, die Vollstreckung aus dem Urteil des SG auszusetzen. In der Rechtsprechung werde eine
Rückforderung in Fällen einer "besonderen Härte" ausgeschlossen. Der derzeitige Rentenanspruch der Klägerin
betrage 581,36 EUR brutto. Außerdem erhalte sie derzeit keine eigenen Einkünfte. Sie sei verheiratet. Das
Einkommen des Ehemannes sei unbekannt. Bei einem späteren Rentenbezug wäre eine Verrechnung der Urteilsrente
nicht möglich. Die Versichertengemeinschaft erleide ggf. einen Schaden.
II. Der statthafte Aussetzungsantrag ist zulässig.
Gemäß § 199 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung
hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige
Anordnung aussetzen. Ein vollstreckbarer Titel im Sinne des § 199 Abs 1 SGG liegt vor.
Die Berufung der Beklagten hat hinsichtlich der Beträge, die für die Zeit nach Erlass des angefochtenen Urteils
bezahlt werden sollen, keine aufschiebende Wirkung (§ 154 Abs 2 SGG). Die Beklagte ist daher verpflichtet, die
sogenannte Urteilsrente anzuweisen, die aber wieder zu erstatten ist, wenn das Urteil des Erstgerichts auf die
Berufung hin oder in einem eventuellen Revisionsverfahren aufgehoben wird.
Der Aussetzungsantrag ist jedoch nicht begründet.
Bei der Entscheidung über die Aussetzung ist eine Interessen- und Folgenabwägung vorzunehmen (BSG, Beschluss
vom 05.09.2001 - B 3 KR 47/01 R -; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9.Auflage § 199 Rdnr 8), wobei
der in § 154 Abs 2 SGG zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, dass Berufungen in der
Regel keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich der für die Zeit nach Erlass des Urteils zu zahlenden Beträge haben
sollen. Eine Aussetzung kommt daher nur in Ausnahmefällen in Betracht (Leitherer aaO Rdnr 8a; BSG, Beschluss
vom 28.10.2008 - B 2 U 189/08 B -).
Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist im Rahmen einer Interessen- und Folgenabwägung zu prüfen. Dabei können
die Erfolgsaussichten der Berufung ausnahmsweise dann eine Rolle spielen, wenn diese offensichtlich fehlen (vgl.
auch BSG, Beschluss vom 05.09.2001 - B 3 KR 47/01 R -) oder offensichtlich bestehen (BSGE 12, 138). Sind die
Erfolgsaussichten jedoch nicht in dieser Weise eindeutig abschätzbar, ist im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung
insbesondere zu berücksichtigen, ob der Beklagten - über den Nachteil hinaus, der mit jeder Zwangsvollstreckung als
solcher verbunden ist - ein im nachhinein nicht mehr zu ersetzender Schaden entstehen würde (BSG, Beschluss vom
05.09.2001 - B 3 KR 47/01 R -). Maßgeblich sind dabei die Umstände des Einzelfalles, die vom
Vollstreckungsschuldner glaubhaft vorzutragen sind (BSG SozR 3-1500 § 199 Nr 1). Der Hinweis auf Sonderfälle,
unter denen eine im Ergebnis rechtswidrig gezahlte Urteilsrente vom Begünstigten nicht zurückgefordert werden dürfe,
genügt hierzu nicht, wenn nicht Anhaltspunkte dafür benannt werden, beim Begünstigten könne ein solcher "Härtefall"
bestehen (vgl. BSG, Beschluss vom 28.08.2007 - B 4 R 25/07 R -). Zudem darf ein überwiegendes Interesse des
Vollstreckungsgläubigers nicht entgegenstehen (BSG, Beschluss vom 28.08.2007 - B 4 R 25/07 R -; vgl. hierzu auch
die § 86b SGG zu entnehmenden Rechtsgedanken). Vorliegend sind die Erfolgsaussichten der Berufung nicht
eindeutig abzuschätzen. Hierzu sind zumindest weitere Überlegungen erforderlich, die dem Senat im Rahmen des
Hauptsacheverfahrens vorbehalten bleiben müssen. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob ein Nachteil im o.g. Sinne
von der Beklagten glaubhaft dargelegt worden ist. Dies ist nicht der Fall. Die Beklagte hat lediglich allgemein auf eine
evtl. entfallende Rückerstattungsmöglichkeit bei Vorliegen eines Härtefalles hingewiesen. Sie hat den derzeit
vorhandenen Rentenanspruch genannt. Dies ist jedoch nur von untergeordneter Bedeutung, denn die Klägerin wird
diese Rente beziehen, wenn die Berufung der Beklagten erfolglos wäre. Eine Rückzahlung kommt aber dann nicht in
Betracht. Die Beklagte hält die Berufung hingegen gerade für begründet. Sollte die Berufung der Beklagten jedoch
erfolgreich sein, so hätte die Klägerin keinen Rentenanspruch, sondern wäre erwerbsfähig. Eine
Rückforderungsmöglichkeit hinge somit, da dann die Ausübung einer zumindest 6-stündigen täglichen
Erwerbstätigkeit in Betracht käme, davon ab, welches Einkommen die Klägerin erzielen könnte. Hierzu sind jedoch
keinerlei Erkenntnisse vorhanden bzw. Angaben möglich. Zudem erlangt die Höhe des derzeitigen Rentenanspruches
der Klägerin keine Bedeutung, denn zur Prüfung der Möglichkeit zur Rückzahlung sind die gesamten Einkommens-
und Vermögensverhältnisse der Klägerin und auch ihres Ehegatten darzutun. Daran fehlt es vorliegend ebenfalls.
Mangels Darlegung und Glaubhaftmachung eines Nachteils im o.g. Sinne ist das Vorliegen eines überwiegenden
Interesses des Vollstreckungsgläubigers nicht weiter zu prüfen. Von einem Ausnahmefall ist damit nicht auszugehen,
der Antrag ist abzulehnen. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG), er kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs 2 Satz 3 SGG).