Urteil des LSG Bayern vom 30.06.1999

LSG Bayern: ärztliches gutachten, taubheit, dystrophie, schwerhörigkeit, wahrscheinlichkeit, entstehung, anerkennung, subjektiv, bwk, mittelohrentzündung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 30.06.1999 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 16 V 96/89
Bayerisches Landessozialgericht L 18 V 111/93
i. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.1993 und der Bescheid vom
05.04.1989 aufgehoben. ii. Der Beklagte wird verpflichtet, beim Kläger als weitere Schädigungsfolgen eine an Taubheit
grenzende Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts und subjektiv störende Ohrgeräusche anzuerkennen und
Versorgungsleistungen ab 01.01.1984 nach einer MdE um 90 vH sowie ab 01.01.1997 nach eine MdE um 100 vH zu
gewähren. iii. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. iv. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob weitere Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzuerkennen sind und
Beschädigtenversorgung nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als 70 vH zu gewähren ist.
Der am 1926 geborene Kläger leistete ab 01.01.1944 Kriegsdienst. Vom 10.05.1945 bis 04.10.1947 befand er sich in
russischer Kriegsgefangenschaft. Der Beklagte anerkannte mit Umanerkennungsbescheid vom 19.04.1951 als
Schädigungsfolgen:
1. Lungentuberkulose links
2. Tbc des XII. Brustwirbels und des I. Lendenwirbels
3. durchgemachte Mittelohrentzündung links
4. abgeheilte Dystrophie,
und gewährte Versorgung nach einer MdE um 100 vH.
Zuletzt waren beim Kläger mit Bescheid vom 15.11.1983 als Schädigungsfolge mit einer MdE um 70 vH anerkannt:
1. Taubheit links bei Zustand nach Tympanoplastik links nach chronischer Mittelohreiterung (Einzel-MdE 15 vH)
2. inaktive Lungen-Tbc mit Rippelfellschwarte links (Einzel-MdE 30 vH)
3. Spanversteifung des XII. Brustwirbels und I. Lendenwirbels nach Wirbel-Tbc (Einzel-MdE 50 vH).
Einen Antrag auf Neufeststellung vom 09.08.1988 lehnte der Beklagte nach HNO-ärztlicher und orthopädischer
Begutachtung (Gutachten Dr. vom 03.03.1989 und Dr. vom 21.02.1989) mit Bescheid vom 05.04.1989 ab.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat der Kläger eine Rente nach einer MdE
um 100 vH begehrt. Er hat eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen geltend gemacht und als
weitere Schädigungsfolgen iS der Entstehung die Anerkennung eines "hochgradigen, progredienten Innenohrschadens
rechts, Gleichgewichtsstörung links, Tinnitus beidseits, Verkrampfung der Muskulatur im Bereich beider Beine,
spinale Stenose" sowie als Schädigungsfolge iS der Verschlimmerung "Degeneration der unteren Halswirbelsäulen-
Segmente" begehrt. Das SG hat Prof. Dr. (HNO-ärztliches Gutachten vom 25.07.1990/12.05.1993), Dr.
(orthopädisches Gutachten vom 05.10.1990), Dr. (internistisches Gutachten vom 22.01.1991), Dr. (orthopädisches
Gutachten vom 25.01.1993/08.03.1993) sowie gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Dr. (HNO-ärztliches
Gutachten vom 22.07.1991), Dr. (orthopädisches Gutachten vom 21.02.1992), Dr. (internistisches Gutachten vom
10.08.1992) gehört. Der Kläger hat bei der Untersuchung durch die HNO-Ärztin Dr. erstmals anamnestisch angegeben,
nach einer Luftminenexplosion 1944 Ohrenschmerzen und beidseitigen Hörverlust verspürt zu haben sowie während
der Kriegsgefangenschaft als Sprengmeistergehilfe über einen Zeitraum von ca einem dreiviertel Jahr Sprengungen
ohne Gehörschutz ausgesetzt gewesen zu sein. Bereits 1947 habe er eine beidseitige Hörverschlechterung und einen
beidseitigen Tinnitus festgestellt.
Mit Urteil vom 29.06.1993 hat das SG den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 05.04.1989 verurteilt,
die orthopädische Schädigungsfolge als "Schwerste Störung der Statik der Wirbelsäule nach Spanversteifung des XII.
Brustwirbels und I. Lendenwirbels nach Wirbelsäulen-Tbc" neu zu bezeichnen. Im übrigen hat es die Klage
abgewiesen und eine Verschlimmerung der orthopädischen Schädigungsfolge in Übereinstimmung mit dem
Sachverständigen Dr. und Dr. verneint. Auf HNO-ärztlichem Gebiet ist es dem Sachverständigen Prof. Dr. gefolgt, der
eine Verschlimmerung der Schädigungsfolge zu 1. verneint sowie die Schwerhörigkeit rechts für schädigungsfremd
gehalten hat. Der Auffassung der HNO-Ärztin Dr. die Hörstörung rechts sei durch die Lärmbelastung als Pilot im 2.
Weltkrieg, einer Bombenexplosion 1944, Lärmeinwirkungen während der Kriegsgefangenschaft durch Sprengungen in
Kohlestollen sowie durch die in der Kriegsgefangenschaft erlittene Dystrophie entstanden, hat es sich nicht
angeschlossen.
Gegen das Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und geltend gemacht, die anerkannte "Schwerste Störung der
Statik der Wirbelsäule" erfasse nicht den gesamten anatomischen Veränderungsumfang der Wirbelsäule. Ferner
bestehe auf internistischem Gebiet neben der abgeheilten Lungen-Tbc eine chronisch obstruktive
Atemwegserkrankung. Auch die Hörstörung rechts sei ursächlich auf Kriegseinflüsse zurückzuführen.
Der Senat hat zunächst von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. ein Gutachten vom 11.07.1995 eingeholt.
Dieser hat als mittelbare Schädigungsfolge der durchgeführten Versteifungsoperation eine Spinalkanalstenose in der
Etage Th 10/Th 11 festgestellt und die neurologische MdE mit 10 vH eingeschätzt. Der vom Senat anschließend
gehörte Orthopäde Dr. (Gutachten vom 01.09.1995 und kernspintomographische Untersuchung vom 02.05.1995) hat
die (Einzel)-MdE wegen aller an der Wirbelsäule bestehenden Schädigungsfolgen unter Einbezug der von Dr.
erhobenen neurologischen Befunde mit 60 vH ab Mai eingeschätzt. Die Schädigungsfolgen hat er iS der Entstehung
wie folgt bezeichnet: Spanversteifung der Wirbelsäule zwischen 11. BWK und 3. LWK; Keil-Blockwirbelbildung
zwischen 12. BWK und 1. LWK mit Gibbus-Bildung; sekundäre statisch bedingte Fehlstellung der Brust- und
Lendenwirbelsäule; Osteochondrose zwischen dem 1. und 2. LWK; ausgeprägte Wirbelbogengelenksveränderung
zwischen 10. und 11. BWK mit Spinalstenose; degenerative Veränderungen der unteren Halswirbelsäule und
Verschleißerscheinungen der Wirbelbogengelenke der unteren Lendenwirbelsäule, Schliffurchen an den Dornfortsätzen
der Lendenwirbelsäule; Narbe am linken Unterschenkel nach Knochenspanentnahme.
Der vom Senat gehörte Internist Dr. (Gutachten vom 22.07.1995) hat vorgeschlagen, die Schädigungsfolgen zu Ziffer
2 bei einer gleichbleibenden Einzel-MdE von 30 vH mit "narbige Lungenveränderungen und Rippenfell-
Zwerchfellverschwartung links mit Einschränkung der Lungenfunktion" zu bezeichnen. Für das orthopädisch-
neurologische Gebiet hat er zusammenfassend entsprechend dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. eine Teil-MdE
von 60 vH angenommen und die Gesamt-MdE ab Mai 1995 mit 80 vH eingeschätzt.
Der Beklagte hat sich bereit erklärt, als Schädigungsfolgen iSd Entstehung die von Dr. und Dr. benannten
Gesundheitsstörungen anzuerkennen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.
Auf HNO-ärztlichem Gebiet hat der Senat die Professoren Dr. (Gutachten vom 27.01.1997/05.06.1997) und Dr.
(Gutachten vom 15.05.1998/24.07.1998/24.11.1998/ 22.04.1999) gehört. Beide Sachverständigen haben die an
Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts mit Wahrscheinlichkeit auf Einflüsse des Kriegseinsatzes, der
Arbeitsbedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft sowie auf die alimentäre Dystrophie und die Tuberkulose
zurückgeführt. Daran haben die Sachverständigen trotz der entgegenstehenden Stellungnahmen des HNO-Arztes Dr.
vom Ärztlichen Dienst des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg vom 24.02.1997, 23.07.1997,
01.07.1998, 17.09.1998 und 17.12.1998 festgehalten. Prof. Dr. hat die bereits 1978 auf dem rechten Ohr bestehende
hochgradige, bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit iVm der vollständigen Taubheit des linken Ohres mit einer
Einzel-MdE von 60 vH und die Gesamt-MdE mit 80 vH bewertet. Ab August 1988 hat er die Einzel-MdE auf HNO-
ärztlichem Gebiet mit 80 vH und die Gesamt-MdE mit 100 vH eingeschätzt.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.1993 und des Bescheides vom
05.04.1989 zu verurteilen, eine an Taubheit grenzende Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts und subjektiv
störende Ohrgeräusche als Schädigungsfolge iS der Entstehung anzuerkennen und Versorgungsleistungen ab
01.01.1984 nach einer MdE von 90 vH sowie ab 01.01.1997 um 100 vH zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.1993 zurückzuweisen.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Beschädigtenakten und orthopädischen Beiakten des Beklagten sowie die
Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Kläger hat
Anspruch auf Feststellung der weiteren Schädigungsfolgen iS der Entstehung "Schallempfindungsschwerhörigkeit
rechts, subjektiv störende Ohrgeräusche" und Gewährung von Versorgungsbezügen nach einer MdE von 90 vH ab
01.01.1984 und um 100 vH ab 01.01.1997.
Nach § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann
aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlaß des Verwaltungsaktes vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung der Verhältnisse im gesundheitlichen
Bereich liegt insbesondere dann vor, wenn sich eine bereits anerkannte Schädigungsfolge verschlimmert hat oder eine
weitere Gesundheitsstörung aufgetreten ist, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf ein schädigendes Ereignis iS
des BVG oder die bereits anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen ist. Für die Anerkennung einer weiteren
Schädigungsfolge ist es erforderlich, daß ein schädigendes Ereignis eine gesundheitliche Schädigung hervorgerufen
und diese eine zum Zeitpunkt der Antragstellung noch vorhandene Gesundheitsstörung verursacht hat. Schädigendes
Ereignis, gesundheitliche Schädigung und Gesundheitsstörung müssen dabei jeweils für sich nachgewiesen sein.
Lediglich für die Anerkennungsfähigkeit der Gesundheitsstörung genügt gemäß § 1 Abs 3 Satz 1 BVG die
Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs mit der gesundheitlichen Schädigung. Wahrscheinlichkeit iS
dieser Vorschrift bedeutet, daß mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht.
Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den Verhältnissen im
Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung der Leistung und dem Zustand
zum Zeitpunkt der Neufeststellung. Soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht
unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb
zu Unrecht Sozialleistungen nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen und über die begehrten Sozialleistungen neu zu entscheiden (§ 44 Abs 1, 4 Zehntes Buch
Sozialgesetzbuch - SGB X -).
Der Senat wertet den Antrag des Klägers vom 09.08.1988 auf "Überprüfung der MdE" auch als einen solchen nach §
44 SGB X. Der Beklagte ist bei Erlaß des Bescheides vom 15.11.1983 von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich
als unrichtig erweist. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. im Gutachten vom 15.05.1998 war der
symmetrische Innenohrhörverlust bereits im Jahre 1964 deutlich ausgeprägt. Bereits 1978 bestand auf dem rechten
Ohr ein prozentualer Hörverlust von 80 %, was einer hochgradigen, bis an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit
entsprach. Diese Schwerhörigkeit rechts ist nach den Feststellungen der Professoren Dr. und Dr. - denen der Senat
folgt - mit Wahrscheinlichkeit auf Einflüsse des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen.
Der Senat hält die schädigenden Ereignisse - Luftminenexplosion 1944 und Sprengungen als Sprengmeistergehilfe im
Kohlebergbau in russischer Kriegsgefangenschaft - für glaubhaft iS des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren
der Kriegsopferversorgung (VfG-KOV). Danach sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der
Schädigung in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu
beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, der
Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Der
Versorgungsberechtigte soll in der Kriegsopferversorgung nicht darunter leiden, daß beweiskräftige Unterlagen nicht
beschafft werden können. Daher bestimmt das Gesetz die Glaubhaftmachung von Tatsachen durch den Antragsteller
als ausreichende Entscheidungsgrundlage (Rohr/Strässer, BVG, Kommentar, § 15 VfG-KOV-K 1). Diese Vorschrift
gilt nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im Gerichtsverfahren. Sie enthält materielles Beweisrecht
(BSGE 65, 123). Die Beweiserleichterung erfaßt a u c h alle Tatsachen, aus denen sich ergibt, daß es zu einer
gesundheitlichen Schädigung gekommen ist (Rohr/Strässer aaO).
Im Falle eines "Beweisnotstandes", dh in Fällen, in denen für die Feststellung anspruchsbegründender Tatsachen
besondere Schwierigkeiten bestehen, kann die Beweiserleichterung dergestalt gewährt werden, daß an die Bildung der
richterlichen Überzeugung weniger hohe Anforderungen gestellt werden (vgl BSG SozR 3-1750 § 444 Nr 1). Ein
Anspruch des Klägers ist vorliegend nicht deswegen ausgeschlossen, weil er vor seinem erstmaligen Antrag auf
Anerkennung einer Hörschädigung rechts im Klageschriftsatz vom 05.05.1989 Jahrzehnte hat verstreichen lassen und
es Beweiserleichterungen nur für kriegsbedingte Beweisnot gibt (vgl BSG SozR 3-3100 § 5 Nr 2). Denn die
bestehende Beweisnot geht nicht zu Lasten des Klägers. Ein Rücknahmeantrag gemäß § 44 SGB X hätte mit
Aussicht auf Erfolg nicht früher gestellt werden können. Erstmals im nunmehrigen Berufungsverfahren hat der
Sachverständige Prof. Dr. nämlich festgestellt, daß bereits im Jahr 1964 anläßlich einer versorgungsärztlichen
Begutachtung ein symmetrischer Innenohrhörverlust deutlich ausgeprägt war und der spätere Hörverlust rechts
schädigungsbedingt ist. Vor dem Jahr 1964 erfolgten durch den Beklagten trotz der anerkannten Hörstörung links
keine ohrenärztlichen Begutachtungen und bei den HNO-ärztlichen Untersuchungen/Stellungnahmen des Beklagten in
den Jahren 1964, 1974, 1975, 1978, 1983 und 1989 wegen Hörgeräteverordnungen sind kausale Betrachtungen wegen
der Hörstörung rechts vom Beklagten nicht angestellt worden. Der Senat teilt die Auffassung des Sachverständigen
Prof. Dr. daß direkt nach der Entlassung aus der Gefangenschaft für den Kläger die tuberkulöse Erkrankung der
Lunge und der Wirbelsäule ganz im Vordergrund gestanden haben. Es ist für den Senat nachvollziehbar, daß
hinsichtlich des Hörvermögens die Aufmerksamkeit des Klägers ganz auf das linke Ohr gerichtet war, das durch die
tuberkulöse Mittelohrentzündung wesentlich schlechter hörte als das rechte. Prof. Dr. weist daher zu Recht darauf hin,
daß bei einer solchen einseitig betonten Schwerhörigkeit es für den Kläger kaum möglich war zu erkennen, ob auf
dem anderen, noch besser hörenden Ohr sich ebenfalls eine Hörstörung ankündigte, da sich die komplexe akustische
Wahrnehmung verändert hatte und diese Veränderung naturgemäß zunächst nur als Folge der einseitig stärkeren
Hörstörung gesehen wurde.
Die Hörstörung rechts ist, entgegen der Annahme des HNO-Arztes Dr. nicht auf einen Hörsturz zurückzuführen. Unter
einem Hörsturz ist eine plötzliche - auch schubweise - Hörminderung zu verstehen, die beim Kläger nicht
dokumentiert ist. Das Hörvermögen des Klägers hat sich vielmehr auf dem rechten Ohr ganz allmählich
verschlechtert.
Die erlittenen Knalltraumen waren geeignet, einen Innenohrschaden herbeizuführen. Nach den Anhaltspunkten für die
ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 RdNr 86
Abs 2 kann schon ein einzelnes Knall- oder Explosionstrauma zu bleibenden Innenohrschäden führen. Zwar ist ein
Fortschreiten des Innenohrschadens nach einem solchen Trauma selten und kann eine Progredienz nach Wegfall der
Exposition nur dann als Schädigungsfolge angesehen werden, wenn auf eine erhebliche primäre Hörschädigung
geschlossen werden kann. Dabei ist zu beachten, ob andere Noxen (zB Degeneration, Alterung) als wesentliche
Bedingung der Progredienz in Betracht kommen (aaO). Eine Progredienz kann aber auch bei Latenzzeiten von
mehreren Jahren vorkommen. Eine Degeneration scheidet beim Kläger aus, da der Innenohrschaden bereits 1964 im
Alter von 38 Jahren aufgetreten ist. Auch eine erbliche Belastung liegt bei ihm nicht vor. Die Annahme, die
progrediente beiderseitige Innenohrschwerhörigkeit habe sich als Folge eines chronischen Tubenkatarrhs entwickelt -
wovon die HNO-Ärzte Dr. und Dr. ausgehen - ist medizinisch nicht haltbar. Prof. Dr. weist darauf hin, daß die
Untersuchung durch Prof. Dr. ergeben hat, daß beide Mittelohren normal belüftet sind und das rechte Trommelfell eine
völlig normale Beweglichkeit aufweist. Ein jahrelang bestehender chronischer Tubenmittelohrkatarrh würde sich aber
durch starke Verwachsungen zwischen Trommelfell und medialer Paukenhöhlenwand zeigen und einen sogenannten
Adhäsiv-Prozeß auslösen, bei dem praktisch ein lufthaltiges Mittelohr nicht mehr vorhanden ist. Abgesehen davon,
daß ein derartiger Befund nicht vorliegt, würde er auch nicht zu einer progredienten Innenohrschwerhörigkeit führen,
wie sie beim Kläger vorliegt.
Explosionstraumen scheiden als Ursache für die Gehörstörung nicht deshalb aus, weil die Hörverschlechterung erst
15 Jahre nach dem schädigenden Ereignis erstmals festgestellt wurde. Zum einen fehlen HNO-ärztliche
Begutachtungen aus der Zeit vor 1964, die die Annahme des erstmaligen Auftretens einer Hörstörung 1964 stützen
würden, zum anderen belegt die 1947 von der Universitätsklinik und Poliklinik für HNO-Kranke, Erlangen,
durchgeführte Hörweitenprüfung ebenfalls nicht, daß damals ein wesentlicher Hörschaden nicht vorgelegen hat. So
schließt nach den Feststellungen des Prof. Dr. ein Hörbefund, bei dem mit 6 Meter Entfernung die maximale Hörweite
für Flüstersprache erreicht wird, einen Hörverlust von etwa 20 db im gesamten Frequenzbereich nicht aus. Hinzu
kommt, daß der Kläger im Berufungsverfahren nunmehr glaubhaft vorgetragen hat, daß er Anfang April 1947 auch auf
dem rechten Ohr ein Ohrensaußen und Klopfen bemerkt habe.
Die Innenohrschwerhörigkeit rechts ist auch mit Wahrscheinlichkeit auf die in der Kriegsgefangenschaft erlittene
alimentäre Dystrophie zurückzuführen. Prof. Dr. läßt keinen Zweifel daran, daß die Lungen-Tuberkulose iVm der
Dystrophie zu Flüssigkeitsverschiebungen im Innenohr geführt hat. Im Innenohr befinden sich zwei Kompartimente,
die mit unterschiedlicher Flüssigkeit, der Endolymphe und Perilymphe gefüllt und nur durch ein zartes Membran
getrennt sind. Dieses System reagiert außerordentlich empfindlich auf Veränderungen des osmotischen bzw
onkotischen Druckes, der durch den Eiweißgehalt des Blutes bestimmt wird. Hierin ist nach Prof. Dr. die
wahrscheinliche Ursache darin zu sehen, daß es in Verbindung mit einer Dystrophie zu Hörstörungen kommen kann.
Der gleichzeitige Nachweis anderer neurologischer Symptome ist nach den Feststellungen des Prof. Dr. entgegen der
Auffassung der Professoren Dr. und des Dr. nicht erforderlich. Zwar kann nur in Einzelfällen eine Dystrophie als
Ursache einer fortschreitenden Hörstörung angesehen werden. Der Senat bejaht die Wahrscheinlichkeit der
Verursachung hier jedoch insbesondere deshalb, weil der Kläger neben der Dystrophie auch Explosions- bzw
Knalltraumen erlitten hat.
Der Senat hatte nach alledem keine Bedenken, den Gutachten der Sachverständigen, Professoren Dr. und Dr. zu
folgen und die Innenohrhörstörung rechts auf die im Krieg erlittenen Explosionstraumen und die durchgemachte
Dystrophie zurückzuführen. Ausgehend von den bei einer versorgungsärztlichen Untersuchung 1978 festgestellten
Hörverlusten hat Prof. Dr. die Höhe der Einzel-MdE auf HNO-ärztlichem Gebiet entsprechend den AHP 1983 mit 60
vH zutreffend eingeschätzt. Nach den bis 31.12.1996 geltenden AHP 1983 war eine hochgradige, bis an Taubheit
grenzende Schwerhörigkeit eines Ohres iVm einer vollständigen Taubheit des anderen Ohres mit einer MdE von 60
vH zu bewerten. Prof. Dr. schätzt die im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 15.11.1983 zugrundezulegende
Gesamt-MdE auf 80 bis 90 vH. Eine weitere Verschlechte- rung des Hörvermögens nach 1983 ist nicht
nachgewiesen. Auch die bei einer versorgungsärztlichen Begutachtung 1989 erhobenen Werte lassen nach den
Feststellungen des Prof. Dr. keinen sicheren Schluß auf eine weitere Verschlechterung des Hörvermögens rechts zu.
Die bei der Begutachtung durch Prof. Dr. 1996 ermittelten Hörwerte rechts ergaben einen Gesamthörverlust von 98 %,
so daß Prof. Dr. zu Recht davon ausgeht, daß die Schwere der pankochleären Schwerhörigkeit rechts einer
praktischen Taubheit nahekommt. Der Senat hält es daher für gerechtfertigt, für die Zeit ab 01.01.1984 eine Gesamt-
MdE von 90 vH anzunehmen. Eine MdE von 100 vH kann entgegen der Auffassung des Prof. Dr. nicht ab August
1988, sondern erst ab 01.01.1997, dem Zeitpunkt der Änderung der AHP gewährt werden. Nach der ab 01.01.1997
geltenden Tabelle der AHP 1996 ist eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit des einen Ohres iVm einer Taubheit
des anderen Ohres nunmehr mit einer Einzel-MdE um 70 vH zu bewerten. Änderungen der AHP wirken wie
Änderungen der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 SGB X (BSG SozR-3870 § 3 Nr 5). Unter Berücksichtigung
dieser erhöhten Einzel-MdE von 70 vH war der Beklagte - insoweit in Übereinstimmung mit Prof. Dr. - zur Festsetzung
einer MdE von 100 vH ab 01.01.1997 zu verurteilen.
Die erhöhte Rente ist gemäß § 44 Abs 4 SGB X ab 01.01.1984 zu zahlen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.