Urteil des LSG Bayern vom 01.08.2001

LSG Bayern: angina pectoris, rente, berufsunfähigkeit, versorgung, arbeitsmarkt, erwerbsfähigkeit, sanierung, angestellter, ausbildung, krankheit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 01.08.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 31 RJ 1182/96
Bayerisches Landessozialgericht L 16 RJ 410/99
I. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 02.06.1999 und der Bescheid der Beklagten vom 02.02.1996 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.06.1996 werden abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab
01.01. 1999 Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren. II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte erstattet dem Kläger ein Drittel der außergerichtlichen Kosten. IV. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Streitgegenstand ist die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab 01.04.1996.
Der am 1940 geborene Kläger ist österreichischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in seinem Heimatland. In
Deutschland war er im erlernten Beruf als Konditorgeselle von April 1962 bis Juni 1963 versicherungspflichtig
beschäftigt. Nach Ablegung der Meisterprüfung war er in Österreich weiterhin bis 1974 als Konditor tätig. Von April
1974 bis September 1993 übte er eine Tätigkeit als Lohn- und Gehaltsverrechner bei Buchprüfungs- und
Steuerberatungsgesellschaften aus und war als Angestellter in Österreich pflichtversichert. Seit 01.04.1996 erhält er
von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten (PVA) in Wien entsprechendem Vergleich vom 21.05.1997 vor
dem Arbeits- und Sozialgericht Wien vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit.
Die Beklagte hat seinen Rentenantrag vom 29.03.1995 am 02.02. 1996 mit der Begründung abgelehnt, er sei weder
erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Sie stützte sich dabei auf die Auswertung internistischen und orthopädischen
Gutachten und hielt zwar Tätigkeiten als Bäcker und sonstige qualifizierte Tätigkeiten für nicht mehr zumutbar, leichte
Arbeiten teilweise im Sitzen aber für vollschichtig zumutbar.
Der Widerspruch wurde unter Berücksichtigung der vom Arbeits- und Sozialgericht Wien eingeholten internistischen,
lungen- ärztlichen und orthopädischen Gutachten am 10.06.1996 mit der Begründung abgelehnt, auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt könne der Kläger noch leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen vollschichtig ausüben.
Dagegen erhob der Kläger am 05.08.1996 Klage und machte geltend, längeres Sitzen sei ihm ohne Schmerzen nicht
möglich und seine nervliche Belastbarkeit sei eingeschränkt. Der vom Arbeits- und Sozialgericht Wien hinzugezogene
Orthopäde Dr.Z. bejahte in seinem Ergänzungsgutachten vom 21.02. 1997 eine wesentliche Verschlimmerung seit
April 1996 infolge zerstörender Veränderungen an den Hüftgelenken mit operativer Sanierung rechts und der
Notwendigkeit der Sanierung links. Seines Erachtens ist mit längeren Krankenständen zu rechnen und eine normale
Beschäftigung nicht zumutbar. Angesichts des daraufhin in Wien geschlossenen Vergleichs beauftragte das
Sozialgericht München Dr.S. , ständig beeideter gerichtlicher Sachverständiger für Orthopädie in Wien, mit der
Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung. Der Sachverständige hielt in seinem Gutachten vom
14.04.1998 leichte Arbeiten im Sitzen mit maximaler Geh- und Stehbelastung während der Arbeit über ca. 40 Minuten
für zumutbar. Ausgeschlossen seien Arbeiten in gebückter Haltung, im Stehen, Kälte- und Nässeexposition, Arbeiten
im Freien bei ungünstiger Witterung und Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten. Gestützt hierauf wies das Sozialgericht
München die Klage am 02.06.1999 mit der Begründung ab, der Kläger könne als Lohn- und Gehaltsverrechner
vollschichtig tätig sein. Gegenstand der Akten war auch ein berufskundliches Sachverständigengutachten des
Arbeitsmarkt- und Berufsforschers Dr.E. vom 15.12.1996, das im Auftrag des Arbeits- und Sozialgerichts Wien erstellt
worden ist. Danach erfordert die Ausübung der Gehalts- und Lohnverrechnertätigkeit grundsätzlich eine sitzende
Körperhaltung, nur ganz kurzzeitig Stehen und Gehen.
Gegen das am 30.07.1999 übersandte Urteil legte der Kläger am 25.08.1999 Berufung ein und machte geltend, eine
Ende 1998 festgestellte Herzkrankheit sei ebenso wenig berücksichtigt worden wie die Hüftoperation vom 26.05.1999.
Der Senat holte Krankenhausentlassungsberichte und einen Befundbericht des behandelnden Internisten ein und hielt
ambulante Untersuchungen für notwendig. Zu zwei Untersuchungsterminen von Sachverständigen in Wien erschien
der Kläger ohne Angabe von Gründen nicht. Daraufhin erfolgte nach Unterrichtung des Klägers eine Begutachtung
nach Aktenlage. Die Internistin und Kardiologin Dr.R. führte in ihrem Gutachten vom 15.03.2001 aus, seit Dezember
1998 sei durch Hinzutreten einer coronaren Herzkrankheit eine Verschlimmerung eingetreten. Seither könnten leichte
bis kurzzeitig mittelschwere Tätigkeiten ganztags im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen überwiegend in
geschlossenen Räumen vollschichtig verrichtet werden, sofern die Tätigkeiten nicht unter Zeitdruck, nicht im Akkord,
nicht in Wechselschicht und ohne Nachtarbeiten zu erbringen seien. Der Orthopäde Dr.T. schrieb in seinem Gutachten
vom 09.05.2001, trotz mäßiger bis mittelgradiger Beeinträchtigung der Geh- und Stehfähigkeit seien bis 26.05.1999
leichte Arbeiten ohne höhere Geh- und Stehbelastung in geschlossenen Räumen zumutbar gewesen, sofern Heben
und Tragen von schwereren Lasten, Knien, häufiges Treppensteigen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, stärkere
Temperaturschwankungen, Kälte- und Zugluftexposition ausgeschlossen waren. Ein Anmarschweg von 500 m am
Stück viermal täglich sei in einem Zeitraum von ca. 10 Minuten zu bewältigen gewesen. Nach der zweiten
Hüftoperation habe sich das qualitative Leistungsbild auf leichte bis auch teilweise mittelschwere Tätigkeiten in
wechselnder Körperhaltung verbessert. Seither Arbeitspausen seien ab März 1995 nicht erforderlich gewesen.
Beigezogen wurden berufskundliche Unterlagen zum Fachgehilfen in steuer- und wirtschaftsberatenden Berufen und
der Kollektivvertrag der Wirtschaftstreuhänder in Österreich.
In der mündlichen Verhandlung am 01.08.2001, zu der der Kläger nicht erschien, erklärte sich die Beklagte bereit,
dem Kläger ab 01.01.1999 Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 02.06.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids
vom 02.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.06.1996 zu verurteilen, ab 1. April 1996 Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt
die Zurückweisung der Berufung, soweit sie über das Teilanerkenntnis hinausgeht.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Akten des Sozialgerichts München sowie der
Berufungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und teilweise begründet. Das Urteil des
Sozialgerichts München vom 02.06.1999 ist ebenso abzuändern wie der Bescheid der Beklagten vom 02.02.1996 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.06.1996. Der Kläger hat Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit
ab 01.01.1999. Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.
Dass dem Kläger ab 01.01.1999 Berufsunfähigkeitsrente zusteht, hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung am
01.08.2001 anerkannt. Weitere Ausführungen hierzu erübrigen sich daher. Für die Zeit davor hat der Kläger weder
Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente noch auf Erwerbsunfähigkeitsrente.
Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte
derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen
Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von
Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter
Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen
Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 43 Abs.2 Satz 1 und 2 SGB VI).
Unstreitig kann der Kläger als Lohn- und Gehaltsverrechner nicht auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, weil er
zur Gruppe der Ausgebildeten zählt. Als ausgebildeter Angestellter kann der Kläger erst ab 01.01. 1999 nicht mehr
tätig sein.
Bei der Beurteilung des Restleistungsvermögens stützt sich der Senat auf die überzeugenden und ausführlichen
Gutachten der Dres.T. und R. , die angesichts der fehlenden Bereitschaft des Klägers zu einer ambulanten
Untersuchung in Wien lediglich ein Aktenlagegutachten erstellen konnten. Sie befinden sich im Ergebnis in
Übereinstimmung mit Dr.S. , der im Auftrag des Sozialgerichts ein Gutachten erstellt hat, sowie mit den Ärzten, die
von der Beklagten und vom Sozialgericht Wien gehört worden sind. Wenn demgegenüber Dr.Z. in seiner ergänzenden
Stellungnahme vom 21.02.1997 eine wesentliche Verschlimmerung gegenüber den Vorgutachtern bejaht hat, so ist
dem entgegenzuhalten, dass er sich lediglich auf einen sehr knappen Befund stützen konnte und er lange
Arbeitsunfähigkeitszeiten im Zusammenhang mit den Hüftgelenksoperationen unterstellt hat, die nicht belegt sind.
Die erste zementfreie totalendoprothetische Versorgung erfolgte am 05.09.1996, die zweite am 10.06.1999. Beide
postoperative Verlaufsangaben des Orthopädischen Spitals in Wien führen eine Komplikationslosigkeit mit guter
Mobilisierungsphase an. Es ist demnach davon auszugehen, dass die perioperativen Arbeitsunfähigkeitszeiten auf ca.
jeweils drei Monate zu begrenzen sind. Neben der totalendoprothetischen Versorgung beider Hüftgelenke nach
Hüftkopfnekrosen liegen altersentsprechende degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit
Beweglichkeitseinschränkung und eine Dupytren sche Kontraktur am 4. Fingerstrahl rechts ohne funktionelle
Bedeutung vor.
Vom Zeitpunkt der Rentenantragstellung bis zum Abschluss der totalendoprothetischen Versorgung im Sommer 1999
war die Geh- und Stehfähigkeit des Klägers erheblich beeinträchtigt. Dem Kläger waren daher nur noch leichte
Arbeiten ohne höhere Geh- und Stehbelastung, in geschlossenen Räumen, überwiegend im Sitzen ohne Heben und
Tragen von schwereren Lasten, ohne Tätigkeiten im Knien, ohne viel Treppensteigen, ohne Arbeiten auf Leitern und
Gerüsten, nicht mit stärkeren Temperaturschwankungen vollschichtig zumutbar. Ab Sommer 1999 verbesserte sich
das qualitative Leistungsbild, so dass leichte, bis auch teilweise mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder
Körperhaltung vollschichtig zumutbar waren. Entscheidend ist, dass der Kläger auch in dem Zeitraum bis Sommer
1999 in der Lage war, viermal täglich jeweils 500 m zu Fuß in einem Zeitraum von ca. 10 Minuten zurückzulegen.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung war der Kläger also nicht gehindert, einen Arbeitsplatz aufzusuchen (BSG
SozR 3-2200 § 1247 Nr.10).
Das durch die orthopädischen Gesundheitsstörungen eingeschränkte Leistungsvermögen war bis Ende 1998 nicht
durch weitere internistische Gesundheitsstörungen eingeschränkt. Zwar geht aus der Vorgeschichte ein Goodpasture-
Syndrom und eine tiefe Beinvenenthrombose hervor, diese 1989 aufgetretenen Gesundheitsstörungen haben sich
jedoch in der Folgezeit befriedigend stabilisiert. Ende 1998 trat dann eine instabile Angina pectoris auf, die mittels
coronarer Angiographie als coronare Eingefäßerkrankung diagnostiziert worden ist. Bei einer Kontroll-
Coronarangiographie im April 1999 wurde eine erneute Verengung an der mittels Ballondilatation ausgedehnten Stelle
gefunden. Angesichts der sehr guten Belastbarkeit bis 175 Watt ist davon auszugehen, dass der Kläger noch leichte
bis kurzzeitig mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig verrichten kann. Als Einschränkungen sind ab Ende 1998 die
Notwendigkeit wechselnder Körperhaltung und der Ausschluss von Tätigkeiten unter Zeitdruck, im Akkord, in
Wechselschicht und des nachts zu nennen. Wegen der letztgenannten Einschränkungen ist dem Kläger ab 12/98 die
Tätigkeit als Lohn- und Gehaltsverrechner nicht mehr zumutbar. Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts waren und
sind dem Kläger jedoch ohne Gefährdung seiner Restgesundheit möglich.
Weil das Leistungsvermögen noch dafür ausreichte, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts vollschichtig zu
verrichten, ist der Kläger nicht erwerbsunfähig. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder
Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben
oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt (§ 44
Abs.2 SGB VI in der bis 31.12.2000 maßgebenden Fassung). Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine Tätigkeit
vollschichtig ausüben kann (§ 44 Abs.2 Satz 2 Ziffer 2 SGB VI). Im Hinblick auf die qualitativen
Leistungseinschränkungen ist die Beklagte auch nicht gehalten, dem Kläger eine konkrete Verweisungstätigkeit zu
benennen. Der Kläger ist nicht nur auf leichte, sondern auch auf teilweise mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen
Arbeitsmarkts verweisbar, so dass eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen von vornherein nicht
in Betracht kommt. Weil aber die Bezeichnungspflicht von Anzahl, Art und Umfang der beim Versicherten
bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen abhängt (BSGE vom 11.05.1999 in SozR 3-2600 § 43 Nr.21 mit
weiteren Nachweisen), muss es bei der Pauschalverweisung des Klägers auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, der
vielfältigste Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, verbleiben.
Das aktuelle Krankheitsbild konnte mangels Mitwirkung des Klägers nicht weiter abgeklärt werden; nach den
Grundsätzen der objektiven Beweislast geht dies zu seinen Lasten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.