Urteil des LSG Bayern vom 22.08.2007

LSG Bayern: rücknahme der klage, vollmacht, falsches zeugnis, arglistige täuschung, klagerücknahme, prozesshandlung, hauptsache, drohung, einverständnis, arbeitsmarkt

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 22.08.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 13 R 1797/06
Bayerisches Landessozialgericht L 16 R 300/07
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 22. Februar 2007 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Feststellung, ob das Klageverfahren durch Rücknahme der Klage beendet wurde.
Der 1948 geborene Kläger ist serbischer Staatsangehöriger und hat nach Ausweisung aus der Bundesrepublik seit
November 2003 seinen Wohnsitz wieder in Serbien. Vom 08.08.2000 bis 02.08.2001 war er zur stationären
Behandlung im Bezirkskrankenhaus H. untergebracht, anschließend verbüßte er seine Strafe in der JVA B ...
Mit Schreiben vom 16.12.2001 und dem späteren Formblattantrag vom 16.07.2002 beantragte der Kläger bei der
Beklagten Rente aus der deutschen Versicherung. Er gab an, keinen Beruf erlernt zu haben und bei verschiedenen
Firmen als Elektriker beschäftigt gewesen zu sein. Außerdem habe er von 1970 bis 1972 in Frankreich gearbeitet.
In der deutschen Versicherung hat der Kläger Beitragszeiten ab März 1973 bis Juni 2001 zurückgelegt, insgesamt 352
Monate Pflichtbeiträge und seit 1997 Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe bzw.
Sozialleistungen. Der letzte Beitrag wurde im Juni 2001 geleistet. Zwischen 01.03.2001 und 11.03.2001 sind keine
Versicherungszeiten zurückgelegt worden.
Die Beklagte wertete den Arztbrief der JVA aus, in dem über massiven Alkoholgenuss bis zur Inhaftierung berichtet
wurde, und lehnte mit Bescheid vom 07.10. 2002 den Rentenantrag ab mit der Begründung, es liege weder volle noch
teilweise Erwerbsminderung und auch keine Berufsunfähigkeit vor, da noch ein zeitliches Leistungsvermögen von
mindestens sechs Stunden täglich für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe. Die 3/5-Belegung
sei zum 16.07.2002 erfüllt.
Seinen mit Schreiben vom 4.11.2002 eingelegten Widerspruch begründete der Kläger mit seinen starken Schmerzen
an den Gelenken. Er fügte einen Abhilfebescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung über die
Feststellung eines GdB von 70 bei.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.11.2002 zurück, erneut mit der Begründung,
dass weder teilweise noch volle Erwerbsminderung vorliege.
Dagegen richtet sich die mit Schreiben vom 02.01.2003 zum Sozialgericht München erhobene Klage, die mit
gesundheitlichen Störungen des Klägers auf orthopädischem, internistischem, vor allem aber psychischem
Fachgebiet begründet wurde. Aufgrund der Alkoholkrankheit neige der Kläger zu Aggressivität und Gewalttätigkeit und
könne daher auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr gewinnbringend tätig sein. Der Bevollmächtigte legte mit
dem Klageschriftsatz eine vom Kläger selbst unterzeichnete Vollmacht vor. Dem in der Klageschrift gestellten Antrag
auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt B. entsprach das Sozialgericht im
Beschluss vom 11.09.2003.
Das Sozialgericht zog die Behandlungsunterlagen des Bezirkskrankenhauses H. über die mehrfachen stationären
Behandlungen des Klägers, insbesondere die Behandlung im Rahmen der Unterbringung 2000/2001, bei. Nachdem es
nicht gelungen war, ein Gutachten mit Untersuchung des Klägers während seines Aufenthalts in der JVA zu erstellen,
da der Kläger im November 2003 nach Serbien abgeschoben wurde, beauftragte das Sozialgericht Dr. P. mit der
Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage.
Dr. P. diagnostizierte im Gutachten vom 10.03.2005 beim Kläger eine langjährige Alkoholabhängigkeit, ohne dass sich
aus dem Gesamtverlauf Anhaltspunkte für eine alltagsrelevante hirnorganische Einschränkung gefunden hätten.
Außerdem seien leichte degenerative HWS-Veränderungen zu beobachten sowie leichtere degenerative
Veränderungen des rechten Knies, die überwiegend körperlich schwere Tätigkeiten, verbunden mit ständigem Knien
und Hocken oder auch Tätigkeiten in ununterbrochener Zwangshaltung im HWS-Bereich ausschließen würden. Die
Alkoholkrankheit bedinge keine dauerhafte Leistungsminderung, da keine ausgeprägten Folgeschäden aufgetreten
seien. Gemieden werden müssten Tätigkeiten, aus denen sich im Zusammenhang mit Alkoholkonsum Gefährdungen
ergäben, wie Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten, mit Absturzgefahr, am Fließband und an laufenden Maschinen.
Eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens sei zu verneinen, der Kläger sei auch in der Lage öffentliche
Verkehrsmittel zu benutzen.
In mehreren Schreiben hat das Sozialgericht den Klägerbevollmächtigten darauf hingewiesen, dass die
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nur bis 31.07.2002 erfüllt seien, so dass vorgelegte medizinische
Unterlagen aus späteren Jahren für die Entscheidung ohne Belang seien. Ab diesem Zeitpunkt müsste durchgehend
eine rentenrechtlich relevante Leistungsminderung vorgelegen haben, was nach dem Gutachten von Dr. P. jedoch
nicht der Fall sei. Zur mündlichen Verhandlung bevollmächtigte der Kläger seine Tochter, die mit Rechtsanwalt B. an
der mündlichen Verhandlung vom 23.06.2006 vor dem Sozialgericht München teilgenommen hat. Nach eingehender
Erörterung der Sach- und Rechtslage nahm Rechtsanwalt B. im Einverständnis mit der bevollmächtigten Tochter die
Klage zurück.
Mit einem am 3. Juli 2006 beim Sozialgericht München eingegangenen Schreiben widerrief der Kläger die
Entscheidung seines Anwalts B. , die Klage zurückzunehmen. Dieser habe ohne seine Zustimmung die Klage gegen
die LVA zurückgenommen, er verlange, dass der Prozess weiterlaufe.
Während die Beklagte einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zustimmte,
beantragte der Kläger eine mündliche Verhandlung, denn er könne dem Gutachten von Dr. P. nicht zustimmen. Da
keine Untersuchung erfolgt sei, zeige das Gutachten nicht das Bild seines damaligen Gesundheitszustands.
Rechtsanwalt B. habe ohne seine Zustimmung die Klage zurückgezogen. Es sei auch in Betracht zu ziehen, dass
sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe.
Mit Gerichtsbescheid vom 22.02.2007 stellte das Sozialgericht fest, dass das Klageverfahren S 13 R 5/03 durch die
Klagerücknahme im Termin vom 23.06.2006 erledigt sei. Der Kläger sei durch Rechtsanwalt B. wirksam vertreten
gewesen, da er diesem eine schriftliche Vollmacht erteilt habe. Kraft dieser Vollmacht sei der Rechtsanwalt befugt
gewesen, wirksam Erklärungen wie z.B. die Klagerücknahme abzugeben. Auf Weisungen im Innenverhältnis komme
es in diesem Zusammenhang nicht an, da die gegenüber dem Gericht erklärten Prozesshandlungen unabhängig von
internen Weisungen gültig sein. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 23.06. 2006 habe
der Bevollmächtigte im Einverständnis mit der ebenfalls bevollmächtigten Tochter die Erklärung abgegeben. Diese
eindeutige Erklärung sei protokolliert, vorgelesen und genehmigt worden. Diese Erklärung der Klagerücknahme stelle
eine Prozesshandlung dar und könne weder widerrufen noch angefochten werden.
Der Gerichtsbescheid wurde dem Kläger am 07.03.2007 zugestellt.
Mit Schreiben vom 28.03.2007 hat der Kläger gegen den Gerichtsbescheid Berufung eingelegt und erneut vorgetragen,
dass ohne seine Zustimmung vom damaligen Anwalt die Klage zurückgenommen wurde. Er verlange, dass der
Gerichtsbescheid vom 28.02.2007 annulliert werde. Seiner Begründung der Berufung hat er sein Schreiben an
Rechtsanwalt B. vom 07.12.2005 beigefügt, worin er die gesundheitlichen Einschränkungen während seiner Haft
schildert und erklärt, dass er ein neues Gutachten erstellt haben wolle. Vor diesem Gutachten könne und wolle er die
Klage nicht zurücknehmen.
Mit Schreiben vom 11.06.2007 hat der Senat den Kläger darüber aufgeklärt, dass Rechtsanwalt B. zusammen mit der
ebenfalls bevollmächtigten Tochter eine aussichtslose Klage zurückgenommen habe und diese Rücknahme aufgrund
der uneingeschränkt geltenden Vollmacht weder angefochten noch zurückgenommen werden könne. Da die Berufung
keine Aussicht auf Erfolg habe, werde die Rücknahme der Berufung empfohlen. Der Kläger hat mit Schreiben vom
02.07.2007 mitgeteilt, dass er die Berufung nicht zurückziehen wolle.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 22.02.2007 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten
vom 07.10.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2002 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antrag zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass die Berufung unbegründet sei.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten des Sozialgerichts München S 13 RJ 5/03
und S 13 R 1797/06 sowie des Bayerischen Landessozialgerichts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG-), erweist
sich jedoch als unbegründet. Das Sozialgericht München hat im angefochtenen Gerichtsbescheid vom 22.02.2007 zu
Recht festgestellt, dass das Klageverfahren S 13 RJ 5/03 durch die Rücknahme der Klage am 23.06.2006 beendet
wurde.
Nach § 102 SGG kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Die Rücknahme erledigt
den Rechtsstreit in der Hauptsache. Diese Rücknahme der Klage hat der Bevollmächtigte des Klägers in der
mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht erklärt. Diese Prozesshandlung des Bevollmächtigten, der eine
schriftliche Vollmacht des Klägers vorgelegt hatte, ist wirksam. Damit ist der Rechtsstreit gemäß § 102 SGG erledigt.
Wenn der Kläger nun erklärt, er habe die Rücknahme nicht gewollt, so ist dies unbeachtlich, denn der von ihm
Bevollmächtigte hat, wie sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 23.06.2006
ergibt, unmissverständlich die Rücknahme der Klage erklärt. Diese Erklärung ist ihm ausweislich des Protokolls auch
vorgelesen und von ihm genehmigt worden und erfolgte in ausdrücklichem Einvernehmen mit der ebenfalls
bevollmächtigten Tochter des Klägers. Die von dem Bevollmächtigten des Klägers, dem Rechtsanwalt B. , vorgelegte
Vollmacht umfasst jede Art von Erklärungen, denn sie war nach ihrem Wortlaut nicht beschränkt erteilt worden. Nach
§ 73 SGG können sich die Beteiligten in jeder Lage des Verfahrens durch prozessfähige Bevollmächtigte vertreten
lassen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Vollmacht ist schriftlich bis zur Verkündung der Entscheidung einzureichen und
zu den Akten zu nehmen (Abs. 2 Satz 1). Diese Formalien wurden beachtet. Gemäß § 73 Abs. 2 Satz 2 SGG muss
der Beteiligte die Prozessführung des Bevollmächtigten gegen sich gelten lassen (§ 73 Abs. 2 Satz 2 SGG, § 85 Abs.
1 ZPO). Nach den gemäß § 73 Abs. 4 SGG für den Umfang und die Wirkung der Vollmacht geltenden Vorschriften der
Zivilprozessordnung (§§ 81,84 bis 86 ZPO) ermächtigt die Vollmacht zu allen den Rechtsstreit betreffenden
Prozesshandlungen, einschließlich von Erklärungen zur Beseitigung des Rechtsstreits durch Vergleich, oder andere
Verfügungen über den Streitgegenstand (§ 81 ZPO).
Die Niederschrift wurde vom Vorsitzenden und der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet (§ 163 ZPO).
Das Protokoll wurde unter Beachtung aller Vorschriften (§ 122 SGG i.V.m. §§ 160, 162, 163 ZPO) erstellt und beweist
somit die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten (§ 165 ZPO). Der Vermerk
im Protokoll "gelesen und genehmigt" beweist, dass die protokollierte Rücknahmeerklärung abgegeben wurde.
Deshalb ist nach § 165 Abs. 2 ZPO gegen einen die Förmlichkeit betreffenden Inhalt nur der Nachweis der Fälschung
zulässig. Der Kläger bestreitet jedoch die Rücknahmeerklärung durch Rechtsanwalt B. nicht.
Das durch die Rücknahme rechtskräftig beendete Verfahren kann auch nicht entsprechend den Bestimmungen des
Vierten Buches der ZPO (§ 179 SGG, §§ 578 bis 580 ZPO) wieder aufgenommen werden (vgl. BSG vom 24.04.1980,
Az.: 9 RV 16/79). Hierunter fallen beispielsweise eine falsche eidliche Aussage des gegnerischen
Prozessbevollmächtigten, eine Urkundenfälschung, ein falsches Zeugnis oder Gutachten von Zeugen oder
Sachverständigen, die strafbare Amtspflichtverletzung eines Richters oder die Auffindung einer bisher unbekannten
Urkunde. Dabei kommt eine Reihe der in §§ 579, 580 ZPO genannten Wiederaufnahmegründe schon deshalb nicht in
Betracht, weil der Rechtsstreit nicht durch gerichtliche Entscheidung, sondern durch Rücknahme beendet wurde.
Als Prozesshandlung kann die Rücknahme auch weder frei widerrufen noch entsprechend den bürgerlich-rechtlichen
Vorschriften wegen Irrtums oder Drohung (§§ 119, 123 BGB) angefochten werden (BSG, Urteil vom 20.04.1980, Az.: 9
RV 16/79 m.w.N.). Es lassen sich aus dem Vorbringen des Klägers auch keinerlei Anhaltspunkte dafür entnehmen,
dass der Bevollmächtigte bei der Abgabe der Erklärung sich in einem Irrtum im Sinne des § 119 BGB befunden hat
oder gar zur Rücknahmeerklärung durch arglistige Täuschung oder Drohung im Sinne des § 123 BGB bestimmt
worden ist. Da die Rücknahme der Klage den endgültigen Verlust des Rechtsmittels bewirkt und den Rechtsstreit in
der Hauptsache erledigt (§ 102 SGG), ist eine Sachentscheidung nicht mehr zulässig.Dies hat das Sozialgericht mit
zutreffenden Gründen im angefochtenen Gerichtsbescheid vom 23.02.2007 entschieden. Diese Entscheidung ist nicht
zu beanstanden, so dass die Berufung zurückzuweisen ist.
Zur Erläuterung für den Kläger sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Klage zum Zeitpunkt der Rücknahme keine
Aussicht auf Erfolg hatte, da zum einen nicht nachgewiesen war, dass auf Dauer eine Leistungsminderung
entsprechend einer teilweisen oder vollen Erwerbsminderung im Sinne der §§ 43, 240 SGB VI beim Kläger
durchgehend ab Antragstellung bzw. spätestens ab Juli 2002 vorlag, noch erfüllte er für den Eintritt eines nach Juli
2002 eingetretenen Versicherungsfalls die Voraussetzungen der 3/5-Belegung, da er die von März 2000 bis März 2001
bestehende Beitragslücke bereits bei Rentenantragstellung im Dezember 2001 nicht mehr schließen konnte. Daher
hat das Sozialgericht den Bevollmächtigten des Klägers zu Recht darauf hingewiesen, dass letztmals im Juni 2002
die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die für den Rentenbezug neben der Erwerbsminderung erforderlich
sind, vom Kläger erfüllt wurden. Wäre die Rücknahme der Klage nicht erfolgt, hätte die Klage als unbegründet
abgewiesen werden müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den Erwägungen, dass der Kläger mit der Berufung keinen Erfolg hat (§§ 183,193
SGG).
Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.