Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 06.03.2017

eigene mittel, eltern, hauptsache, therapie

LSG Baden-Württemberg Beschluß vom 6.3.2017, L 7 SO 420/17 ER-B
Leitsätze
1. Ein Anordnungsgrund besteht nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel oder
zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann, etwa zur Vorfinanzierung. Zumutbare Hilfe Dritter kann auch in
der Beschaffung eines Darlehens zum Zwecke der Vorfinanzierung bestehen.
2. Bei der Frage des Anordnungsgrundes können auch Mittel Berücksichtigung finden, die bei der materiellen
Frage der Hilfebedürftigkeit außen vor bleiben müssen, weil es sich um Schonvermögen oder nicht zu
berücksichtigendes Einkommen handelt oder weil es sich generell nicht um eine bedarfsabhängige Leistung
handelt.
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 20. Januar 2017 wird
zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
1 1. Die Beschwerde der Antragstellerin ist gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft sowie
form- und fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.
2 2. Die Beschwerde der 2011 geborenen und insbesondere unter einer frühkindlichen Autismusstörung und
unter kombinierten Entwicklungsstörungen leidenden Antragstellerin, mit der sie die Verpflichtung des
Antragsgegners begehrt, vorläufig Eingliederungshilfe in Form der autismusspezifischen Therapie „nach ABA“
(angewandte Verhaltensanalyse) beim Anbieter Bautismus zu gewähren, ist aber unbegründet. Das SG hat
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
3 a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem
Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss
(Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich
erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren
nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre
(Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs.
2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das
Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei
dürfen sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der
Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss des Ersten Senats vom 13. April
2010 – 1 BvR 216/07 – juris Rdnr. 64; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August
2014 – 1 BvR 1453/12 – juris Rdnr. 9). Eine Folgenabwägung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn eine
Prüfung der materiellen Rechtslage nicht möglich ist (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats
vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 – juris Rdnr. 20).
4 Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine
Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender
Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und
umgekehrt (vgl. Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L
15 AS 365/13 B ER – juris Rdnr. 18; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 – L 7 SO
5672/06 ER-B – juris Rdnr. 2). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so
ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich
abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss
vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris Rdnr. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar
2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris Rdnr. 4). Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet,
so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Auch dann kann aber nicht gänzlich auf
einen Anordnungsgrund verzichtet werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013
– L 15 AS 365/13 B ER – juris Rdnr. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER
– juris Rdnr. 4).
5 b) Es kann dahinstehen, ob ein Anordnungsanspruch besteht. Ein solcher ist jedenfalls nicht überwiegend
wahrscheinlich. Gegen das Bestehen eines Anordnungsanspruchs spricht insbesondere die Stellungnahme
der Dr. K. vom M.-P. D. des K. J. und S. Baden-Württemberg vom 12. September 2016, wonach in einer ABA-
Therapie keine notwendige Hilfe zur angemessenen Schulbildung der Antragstellerin erkannt werden könne.
Für die Antragstellerin seien Formen der Förderung unabdingbar, die ihrem individuellen und spezifischen
Förderbedarf entsprechen, nicht aber eine operante Konditionierung wie es das Konzept der ABA-Therapie
vorsehe. Die hochstrukturierte Einzelförderung nach dem ABA-Konzept widerspreche den
sonderpädagogischen Ansätzen einer ganzheitlichen Förderung.
6 Ob dieser Einschätzung in einem Hauptsacheverfahren zu folgen ist, muss hier nicht entschieden werden.
Jedenfalls steht sie der Annahme entgegen, dass ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist.
7 Entscheidend ist indes, dass jedenfalls ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht ist. Hinsichtlich des
Anordnungsgrundes muss der Antragsteller darlegen, welche Nachteile zu erwarten sind, wenn er auf den
Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen wird (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21. September
2015 – L 7 SB 48/14 B ER – juris Rdnr. 21).
8 aa) Ein Anordnungsgrund besteht nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel
oder zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4. September
2014 – L 5 KR 147/14 B ER – juris Rdnr. 17; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28. März 2011 – L 5 KR
20/11 B ER – juris Rdnr. 10), etwa zur Vorfinanzierung (LSG Thüringen, Beschluss vom 26. November 2015
– L 6 KR 1266/15 B ER – juris Rdnr. 14 f.; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4. September 2014 – L 5
KR 147/14 B ER – juris Rdnr. 17). Dies ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG,
Beschluss vom 21. September 2016 – 1 BvR 1825/16 – juris Rdnr. 4; BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1
BvR 1241/16 – juris Rdnr. 7). Zumutbare Hilfe Dritter kann auch in der Beschaffung eines Darlehens zum
Zwecke der Vorfinanzierung bestehen.
9 Bei der Frage des Anordnungsgrundes können auch Mittel Berücksichtigung finden, die bei der materiellen
Frage der Hilfebedürftigkeit außen vor bleiben müssen, weil es sich um Schonvermögen (§ 60a, § 90 Abs. 2
SGB XII) oder nicht zu berücksichtigendes Einkommen (§§ 85 ff. SGB XII) handelt (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 – n.v.) oder weil es sich (etwa gemäß § 92 Abs. 2 SGB XII) generell nicht
um eine bedarfsabhängige Leistung handelt.
10 Ein Antragsteller muss substantiiert und plausibel vortragen, dass ihm solche Möglichkeiten nicht offen
stehen. Trägt der Antragsteller zu seiner eigenen Einkommens- und Vermögenssituation nichts vor, ist ein
Anordnungsgrund bereits deswegen nicht glaubhaft gemacht (vgl. LSG Thüringen, Beschluss vom 20. Juni
2014 – L 6 R 512/14 B ER – juris Rdnr. 26). Ein Minderjähriger kann sich nicht darauf beschränken, auf seine
eigene Vermögenslosigkeit hinzuweisen; er muss vielmehr glaubhaft machen, dass auch Einkommen oder
Vermögen der unterhaltspflichtigen Personen nicht hinreichend vorhanden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom
21. September 2016 – 1 BvR 1825/16 – juris Rn. 5; BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 1241/16 –
juris Rdnr. 8).
11 bb) Nach diesen Maßstäben ist ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Die anwaltlich vertretene
Antragstellerin hat hinsichtlich vorhandenen Vermögens trotz entsprechenden Hinweises des Senats weder
zu ihren eigenen Verhältnissen noch zu denjenigen ihrer unterhaltspflichtigen Eltern Angaben gemacht,
sondern hat zuletzt lediglich Lohnnachweise ihrer Eltern für Januar 2017 vorgelegt, aus denen sich ein
Auszahlungsbetrag von 4.032,67 Euro für ihren Vater und von 386,12 Euro für ihre Mutter ergibt. Die
Antragstellerin hat damit nicht dargelegt, dass ihr die Vorfinanzierung – ggf. auch durch Kreditaufnahme –
der begehrten Leistung nicht zumindest bis zum Abschluss des Vorverfahrens oder eines erstinstanzlichen
Hauptsacheverfahrens möglich wäre.
12 Auch aus der Akte des Antragsgegners lassen sich Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der
Antragstellerin und ihrer unterhaltsverpflichteten Eltern nicht entnehmen, wohl weil gemäß § 92 Abs. 2
Satz 1 Nr. 3, Satz 2 SGB XII eine Einkommens- und Vermögensberücksichtigung bei der Bewilligung der
bislang gewährten Eingliederungsleistungen nicht in Betracht kam. Dies steht aber – siehe oben – der
Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen im Rahmen der Prüfung, ob ein Anordnungsgrund vorliegt,
nicht entgegen. Deswegen kann die Antragstellerin nicht mit Erfolg darauf verweisen, dass eine
„umfängliche Privilegierung der Kosten“ der begehrten Leistung besteht.
13 Es ist auch mit Blick auf die begehrte Leistung nicht von vorneherein ausgeschlossen oder auch nur
fernliegend, dass der Antragstellerin bzw. ihren unterhaltspflichtigen Eltern eine Vorfinanzierung zumindest
für einen gewissen Zeitraum möglich ist. Nach dem von der Antragstellerin erstinstanzlich vorgelegten
Schreiben des Gesellschafters der B.-Gesellschaft, Herrn H., vom 7. Juni 2016 betragen die Kosten für
Bautismus monatlich 1.350,00 EUR (elf Abrechnungsmonate pro Jahr) zuzüglich Fahrtkosten (ab 50 km
Entfernung) sowie Kosten für die Tutoren (je nach Ausbildungsgrad), insgesamt nach dem Vortrag der
Antragstellerin monatlich ca. 2.000,00 EUR. Hierbei handelt es sich um einen Betrag, der bei
entsprechenden Einkommens- und Vermögensverhältnissen der unterhaltspflichtigen Eltern jedenfalls
vorübergehend aufzubringen zumutbar ist. Dies kann durch die allein vorgelegten Lohnnachweise der Eltern
schon deswegen nicht entkräftet werden, weil sich daraus hinsichtlich des Vermögens nichts ergibt.
14 Ob der Verweis auf die vorübergehende Finanzierung aus eigenen Mitteln dann nicht in Betracht kommt,
wenn die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes reduziert sind, weil das
Vorliegen des materiellen Anspruchs feststeht, kann hier dahinstehen, da das Vorliegen des materiellen
Anspruch gerade nicht feststeht und auch nicht – siehe oben – überwiegend wahrscheinlich ist.
15 Die Antragstellerin trüge im Übrigen selbst dann das Risiko, die Kosten der ABA-Therapie letztendlich zu
tragen, wenn zu ihren Gunsten eine einstweilige Anordnung erginge. Denn würde sich die einstweilige
Anordnung im Hauptsacheverfahren nicht bestätigen, stünde dem Antragsgegner ein
Rückerstattungsanspruch gegen die Antragstellerin zu (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR
1/16 R – juris Rdnr. 8). Die Antragstellerin könnte daher auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht
argumentieren, Rechtssicherheit hinsichtlich des Kostenrisikos erlangen zu wollen. Denn dieses Kostenrisiko
würde ihr durch eine Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gerade nicht
abgenommen.
16 3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4
SGG.
17 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).