Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21.02.2017

zustellung, anschrift, auflage, aufenthalt

LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.2.2017, L 13 AS 3192/16 B
Leitsätze
Das Sozialgericht hat über einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 105 Abs. 2 S. 2 SGG auch dann
durch Urteil zu entscheiden, wenn es ihn für nicht fristgerecht erachtet (zum unstatthaften Antrag siehe
bereits Urteil des erkennenden Senats vom 28.8.2014, L 13 AS 3162/14, Juris).
Bevor ein Gericht eine öffentliche Zustellung an den Kläger vornimmt, muss es Nachforschungen anstellen, ob
dieser bei demselben Gericht weitere Verfahren betreibt und ob gegebenenfalls bei einem anderen Spruchkörper
Erkenntnisse über dessen Aufenthaltsort vorliegen.
Eine fehlerhafte öffentliche Zustellung löst den Lauf der einmonatigen Frist (Lüdtke/Berchtold, SGG; § 105 Rn.
15) zur Stellung des Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht aus (vgl. BSG, Beschluss
vom 24.3.2015, B 8 SO 73/14 B, Juris).
Dem Senat ist es verwehrt, in der (Haupt-) Sache zu entscheiden, wenn lediglich ein statthafter Antrag auf
Durchführung einer mündlichen Verhandlung streitbefangen ist.
Der Senat hat nicht nur den Beschluss des SG aufzuheben, sondern auch festzustellen, dass der
Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt, wenn der Antrag auf mündliche Verhandlung rechtzeitig gestellt ist,
auch wenn sich diese Rechtsfolge unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ergibt.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 9. August 2016
aufgehoben.
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. September 2015 gilt als nicht ergangen.
Tatbestand
1 Der Kläger wendet sich mit einer Beschwerde gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe (SG) vom
9. August 2016, mit dem der Antrag des Klägers vom 5. August 2016 auf Durchführung einer mündlichen
Verhandlung im Anschluss an den ergangenen Gerichtsbescheid vom 29. September 2015 verworfen
worden ist, weil der Antrag verfristet sei.
2 Der Kläger erhielt vom Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II); mit
Bescheid vom 16. Januar 2015 bewilligte er Leistungen vom 16. Dezember 2014 bis 31. Mai 2015 sowie mit
Bescheid vom 4. Mai 2015 Leistungen vom 1. Juni 2015 bis 31. Mai 2016. Mit Bescheid vom 19. Februar
2015 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers vom 10. Februar 2015 auf Gewährung eines Mehrbedarfs
für Ernährung für die Zeit vom 16. Dezember 2014 bis 31. Mai 2015 ab. Den am 12. März 2015 hiergegen
erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2015 zurück.
3 Am 2. Juni 2015 erhob der Kläger unter der Anschrift M.-Straße …, ... R., Klage. Mit gerichtlicher Verfügung
vom 3. Juni 2015 forderte das SG den Kläger auf, jede Änderung seiner Anschrift umgehend dem Gericht
mitzuteilen. Der zwischenzeitlich beauftragte Prozessbevollmächtigte beantragte, den Ablehnungsbescheid
vom 19. Februar 2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 4. Mai 2015 aufzuheben und den
Beklagten zu verpflichten, an den Kläger Leistungen für Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung
gemäß Anweisung des Gerichts zu bewilligen. Nachdem der Kläger seinen Bevollmächtigten das Mandat
entzogen hatte, bat der Kläger um Übersendung aller Mitteilungen an seine - eingangs genannte - Anschrift.
Mit Beschluss vom 4. August 2015 lehnte das SG die beantragte Prozesskostenhilfe ab. In der
diesbezüglichen Postzustellungsurkunde war ausgeführt, dass der Kläger unbekannt verzogen sei. Das SG
veranlasste noch eine Behördenauskunft, wonach der Kläger in die R. Föderation verzogen sei. Das SG
informierte die Beteiligten über seine Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Dieses
Hinweisschreiben wurde dem Kläger öffentlich zugestellt. Mit Beschluss vom 25. August 2015 wurde die
öffentliche Zustellung bewilligt und am selben Tag eine Benachrichtigung an der Gerichtstafel ausgehängt
(siehe Blatt 109 der SG-Akten). Mit Gerichtsbescheid vom 29. Dezember 2015 wies das SG die Klage auf
Gewährung eines monatlichen Mehrbedarfs wegen einer kostenaufwendigen Ernährung für die Zeit von
Dezember 2014 bis Mai 2015 als unbegründet ab. In Folge der fehlenden näheren Darlegung des
Ausgabeverhaltens des Klägers sei auch nicht erkennbar, inwieweit in der streitigen Zeit ein Mehrbedarf
vorliege, welcher den Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in Höhe von 750 EUR
überschreite, weshalb den Beteiligten entweder die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung
oder der Antrag auf mündliche Verhandlung zustehe; wegen der weiteren Einzelheiten der
Rechtsmittelbelehrung wird auf Blatt 112 der SG-Akte verwiesen. Mit Beschluss des SG vom 30. September
2015 wurde die öffentliche Zustellung bewilligt. Die Benachrichtigung über eine öffentliche Zustellung
(siehe Blatt 116 der SG-Akten) wurde am 1. Oktober 2015 an der Gerichtstafel ausgehängt und am 2.
November 2015 wieder abgenommen.
4 Unter der Anschrift D.-Straße …, ... W. hat sich der Kläger am 25. Juli 2016 an das SG gewandt und um eine
Antwort gebeten. Mit Schreiben vom 27. Juli 2016 hat das SG den Kläger darauf hingewiesen, dass das
Verfahren mit Gerichtsbescheid vom 29. September 2015 beendet worden sei und als erledigt gelte. Der
Gerichtsbescheid wurde in Kopie als Anlage übersandt.
5 Am 9. August 2016 hat der Kläger Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt und geltend gemacht, dass
ihm ein Mehrbedarf zustünde. Er habe wegen seiner Rückkehr nach R. rechtzeitig das Sozialgericht, wie
auch die 14. Kammer, darüber informiert. Mit Beschluss vom 9. August 2016, dem Kläger am 11. August
2016 zugestellt (siehe Postzustellungsurkunde Blatt 142 der SG-Akte), hat das SG den Antrag auf
Durchführung der mündlichen Verhandlung abgelehnt, da er nicht rechtzeitig innerhalb eines Monats nach
Zustellung des Gerichtsbescheids gestellt worden sei. Der Gerichtsbescheid sei mittels eines am 30.
September 2015 erfolgen Aushanges am 30. Oktober 2015 öffentliche zugestellt worden, weshalb der am 9.
August 2016 gestellte Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung außerhalb der maßgeblichen
Monatsfrist (30. November 2015) gestellt worden sei. Die öffentliche Zustellung habe erfolgen dürfen,
nachdem dem Gericht der Aufenthaltsort des Klägers unbekannt gewesen sei. Entgegen seinem Vorbringen
habe er auch der erkennenden Kammer die neue Anschrift nicht mitgeteilt. Gründe für eine
Wiedereinsetzung seien nicht ersichtlich, da die Fristversäumnis allein auf den Umstand beruhe, dass der
Kläger seine neue Anschrift nicht mitgeteilt habe, obwohl er in der Eingangsverfügung auf die Notwendigkeit
hingewiesen worden sei.
6 Am 17. August 2016 hat der Kläger Beschwerde zum SG erhoben und vorgetragen, die Frist könne erst mit
Eingang des Schreibens des SG beginnen, mit dem der Gerichtsbescheid übersandt worden sei, nämlich am
29. Juli 2016. Er habe die Kammer über die neue Anschrift informiert, auch hätten verschiedene Behörden
wie auch sein damaliger Rechtsanwalt seine Anschrift in R. gekannt.
7 Der Kläger beantragt sinngemäß,
8
den Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 9. August 2016 aufzuheben sowie festzustellen, dass der
Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. September 2015 als nicht ergangen gilt.
9 Der Beklagte beantragt,
10 die Beschwerde zurückzuweisen.
11 Die Beteiligten wurden darauf hingewiesen, dass der Senat zwar der Auffassung ist, dass das SG hätte
durch Urteil entscheiden müssen, dass die Beschwerde aber dennoch zulässig sei. Dennoch habe der Senat
durch Urteil zu entscheiden.
12 Der Senat hat durch Beiziehung der Akten des SG S 14 R 228/15 ermittelt, dass der Kläger am 5. August
2015 dem SG zu diesem Az die neue Anschrift in R. mitgeteilt hat (Blatt 96 dieser SG-Akten).
Entscheidungsgründe
13 Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des SG vom 9. August 2016 ist zulässig und begründet.
14 Die Beschwerde ist fristgerecht, und auch im Übrigen zulässig. Bedenken gegen die Statthaftigkeit der
Beschwerde bestehen nicht, obwohl das SG über den Antrag auf mündliche Verhandlung durch Urteil hätte
entscheiden müssen.
15 Gem. § 105 Abs. 1 SGG kann das Gericht (im Folgenden ist nur der Regelfall, das SG, gemeint) durch
Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten aufweist und die
Beteiligten gehört wurden. Nach § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG kann (anschließend) mündliche Verhandlung
beantragt werden, wenn die Berufung nicht gegeben ist. Nach § 105 Abs. 3 SGG wirkt der Gerichtsbescheid
als Urteil und gilt als nicht ergangen, wenn rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt wird. Nach § 105
Abs. 4 SGG kann das SG in dem Urteil von einer weiteren Darstellung absehen, soweit es der Begründung
des Gerichtsbescheides folgt und dies feststellt.
16 Zwar wird vertreten, dass das SG durch Beschluss entscheiden könne, da es dem mit dem Gerichtsbescheid
intendierten Entlastungszweck widerspräche, wollte man die Entscheidung in der Hauptsache durch
Gerichtsbescheid zulassen, demgegenüber aber bei unzulässigem Antrag auf Durchführung einer
mündlichen Verhandlung eine solche mündliche Verhandlung verlangen (vgl. Bienert, SGB 2014, 365, 372
m.w.N.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage, § 105 Rdnr. 24f;
Lüdtke/Berchtold, Kommentar zum SGG, 5. Auflage, § 105 Rdnr. 18; Breitkreuz/Fichte, Kommentar zum
SGG, 2. Auflage, § 105 Rdnr. 6; Hinz/Lowe, § 105 Rdnr. 25; Roos/Wahrendorf, § 105 SGG Rdnr. 43;
Landesozialgericht für das Land Niedersachsen, Beschluss vom 27. Dezember 1961, L 10 S 49/61, Juris;
Beschluss des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 1. Dezember 1997, Bs IV 135/97, Juris;
Landessozialgericht Berlin, Beschluss vom 19. März 2001, laut dem Urteil vom 25. Januar 2002, L 10 AL
299/99 W 00, Juris). Der Senat kann sich dieser Auffassung jedoch nicht anschließen, so dass das SG die
Ablehnung des Antrags auf mündliche Verhandlung bzw. die Feststellung, dass der ergangene
Gerichtsbescheid rechtskräftig ist, durch Urteil hätte aussprechen müssen (so auch Bundesfinanzhof, Urteil
vom 12. August 1981, I B 72/80, Juris; Hennig, § 105 SGG Rdnr. 117; Zeihe § 105 SGG Rdnr. 20b und 15f;
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2016, L 9 AS 1782/14 B; Juris; insoweit
zustimmend Schütz, jurisPR-SozR 20/2016 Anm. 4; Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 17. Auflage, § 84
Rdnr. 39; Schoch/Schneider/Bier, Kommentar zur VwGO, § 84 Rdnr. 43; erkennender Senat, Urteil vom 28.
August 2014, L 13 AS 3162/14 [ zu einem unstatthaften Antrag], Juris).
17 Nach § 125 SGG wird über die Klage durch Urteil entschieden, soweit nichts anderes bestimmt ist. Der
Antrag auf mündliche Verhandlung ist ein Rechtsbehelf, der dazu führt, dass das Gericht, das den
Gerichtsbescheid erlassen hat, nochmals mit der Klage befasst ist, so dass § 125 SGG Anwendung findet.
Eine gesetzlich geregelte Ausnahme liegt nicht vor, insbesondere ist nicht § 158 Satz 2 SGG einschlägig,
wonach eine unzulässige Berufung durch Beschluss des Rechtsmittelgerichts verworfen werden kann. Auch
verbietet sich eine analoge Anwendung des § 158 Satz 2 SGG.
18 Eine analoge Anwendung setzt generell voraus, dass das Gesetz eine planwidrige Lücke enthält und der zu
beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der
Gesetzgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, er wäre im Zuge einer Interessenabwägung zu
dem gleichen Ergebnis gekommen (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juli 2014, B 12 P 1/12 R, m.w.N., Juris).
19 Es handelt sich nicht um einen vergleichbaren Sachverhalt. Der Antrag auf Durchführung einer mündlichen
Verhandlung stellt nicht -wie die Berufung- ein Rechtsmittel, sondern nur einen Rechtsbehelf dar, der dazu
führen soll, dass dasselbe Gericht nochmals entscheidet. Der Antrag auf mündliche Verhandlung ersetzt
auch nicht „funktionell“ die Verhandlung im Rahmen eines gar nicht statthaften Rechtsmittels (so aber
Roos/Wahrendorf, a.a.O.), sondern soll eine mündliche Verhandlung beim SG erwirken. Der Gesetzgeber
wollte sicherstellen, dass der Beteiligte mit dem Antrag eine mündliche Verhandlung gerade beim SG
erzwingen kann, um Art. 6 Abs. 1 EMRK zu genügen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 105 Rdnr. 2,
m.w.N.). Eine mündliche Verhandlung im Beschluss- und Beschwerdeverfahren hat er hingegen nicht
gewährleistet (§ 124 Abs. 3 SGG; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 176 SGG Rdnr. 2).
20 Schließlich fehlt es auch an einer Lücke. Denn § 105 Abs. 4 SGG regelt, dass das SG in dem Urteil von einer
weiteren Darstellung absehen kann, soweit es dem Gerichtsbescheid folgt. Damit hat der Gesetzgeber nicht
nur eine Bezugnahme auf den Gerichtsbescheid ermöglicht, sondern auch das Urteil als Entscheidungsform
ausdrücklich erwähnt. Damit ist jedenfalls klar, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass durch Urteil zu
entscheiden ist, was im Übrigen der Regel des § 125 SGG entspricht. Die Auffassung, dies sei auf den Fall zu
reduzieren, dass der Antrag auf mündliche Verhandlung zulässig ist (Bienert, a.a.O.), ist abzulehnen, weil sie
ihrerseits nicht den Voraussetzungen für eine abändernde Auslegung der nach dem Wortlaut einschlägigen
Norm entspricht und lediglich erfolgt, um eine Lücke zu konstruieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die
Lücke dann so ausgefüllt wird, dass der Antrag auf mündliche Verhandlung eine solche nicht herbeiführt.
21 Nicht tragfähig ist der Hinweis der Gegenauffassung auf § 105 Abs. 3 SGG. Hiernach muss der Antrag
natürlich rechtzeitig gestellt sein, damit der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt; eine solche Regelung
findet sich aber gerade nicht in § 105 Abs. 4 SGG. Nicht überzeugend ist der Einwand, § 105 SGG wolle eine
mündliche Verhandlung vermeiden; denn dies betrifft das Verfahren bis zum Erlass des Gerichtsbescheides
und gerade nicht auch das Verfahren nach Stellung eines Antrages auf mündliche Verhandlung. Vermieden
wird damit auch die die eigentümliche Situation, dass der Berufsrichter eine mündliche Verhandlung
anberaumt, weil er von der Zulässigkeit des Antrages ausgeht, der Spruchkörper aber dann nach
Verhandlung durch Beschluss wegen der Unzulässigkeit des Antrages entscheidet, dass die -gerade
stattgefundene- Verhandlung abgelehnt wird (so aber Bienert, a.a.O.).
22 Schließlich steht zudem § 125 SGG einer analogen Anwendung entgegen. Denn der Gesetzgeber hat sich
damit ein Bestimmungsrecht für Ausnahmen vom Grundsatz, dass Gerichte durch Urteil entscheiden
müssen, selbst vorbehalten (vgl. Sodan/Ziekow, Kommentar zur VwGO, 4. Auflage, § 107 VwGO Rdnr. 8); es
ist hier daher erst recht ausgeschlossen, eine zusätzliche Ausnahme durch Analogieschluss anzunehmen.
23 Damit hat das SG nicht anders als bei einer Vergleichsanfechtung oder bei einem entstandenen Streit über
die Wirksamkeit einer Klagerücknahme auch im Falle eines Antrages auf mündliche Verhandlung immer
durch Urteil zu entscheiden.
24 Hat das SG im Streitfall eine der Art nach falsche Entscheidung getroffen, darf dem Kläger kein Nachteil
dadurch erwachsen, dass er von dem Rechtsmittel Gebrauch gemacht hat, auf das er durch das Gericht
hingewiesen worden ist und das der Art der Entscheidung entspricht. Nach dem Grundsatz der sogenannten
Meistbegünstigung ist sowohl das Rechtsmittel zulässig, das gegen die gewählte Entscheidungsform zulässig
wäre, als auch das Rechtsmittel, das gegen die richtige Entscheidungsform zulässig gewesen wäre (BFH
a.a.O.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer vor § 143 SGG Rdnr. 14 m.w.N.). Hiernach ist die eingelegte
Beschwerde statthaft.
25 Der erkennende Senat entscheidet in korrekter Form, also durch Urteil, auch wenn zu Unrecht ein Beschluss
ergangen ist (vgl. BFH, a.a.O.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer vor § 143 SGG Rdnr. 14a m.w.N.).
Demzufolge hat der Senat auf mündliche Verhandlung durch Urteil über die Beschwerde zu entscheiden.
26 Die Beschwerde ist auch begründet. Der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung war
statthaft und auch fristgerecht. Der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim SG ist
statthaft, wenn ein Gerichtsbescheid ergangen ist, der nicht mit der Berufung anfechtbar ist (§ 105 Abs. 2
Satz 2 SGG). Das SG hat die Berufung nicht zugelassen; auch übersteigt der Wert des
Beschwerdegegenstandes nicht 750 EUR, da lediglich für fünfeinhalb Monate die Gewährung eines
Mehrbedarfes geltend gemacht worden ist, ohne dass ein solcher von mehr als 135 EUR monatlich im Ansatz
erkennbar wäre. Auch sind nicht Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen (vgl. § 144 Abs. 1 SGG), weshalb
der Antrag statthaft ist. Der Antrag war auch fristgerecht. Gemäß § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG können die
Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das
zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Diese Frist gilt nach allgemeiner Meinung
auch für den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. nur Lüdtke/Berchtold, a.a.O., §
105 Rdnr. 15). Der Gerichtsbescheid des SG vom 29. September 2015 ist dem Kläger -entgegen der
Auffassung des SG- am 1. November 2015 öffentlich zugestellt worden, da der Aushang (§ 188 Satz 1 ZPO)
erst am 1. Oktober 2015 erfolgt ist. Der Antrag ist erst am 9. August 2016 gestellt worden, weshalb er
nicht binnen eines Monats gestellt worden ist. Eine fehlerhafte öffentliche Zustellung löst den Lauf der Frist
aber nicht aus (BSG, Beschluss vom 24. März 2015, B 8 SO 73/14 B, Juris). Die Zustellung durfte nicht
öffentlich gemäß § 185 ZPO erfolgen, da der Aufenthaltsort des Klägers nicht unbekannt war. Nach der
höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG, a.a.O., BGH NJW 2012, 3582) ist der Aufenthalt einer Person nur
unbekannt, wenn nicht nur das „Gericht“, sondern die Allgemeinheit den Aufenthalt nicht kennt (vgl. auch
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 63 SGG Rdnr. 17b m.w.N.). Das Gericht muss daher alle der Sache
nach geeigneten und zumutbaren Nachforschungen anstellen, um den Aufenthaltsort zu ermitteln (BGH,
a.a.O.).
27 Der Senat lässt offen, ob die höchstrichterliche Rechtsprechung auf die Kenntnis des Gerichts als Ganzes
abstellt, so dass dem SG der Aufenthalt des Klägers bekannt war, da der Kläger den Umzug nach R. der 14.
Kammer des SG mitgeteilt hat oder ob auf den jeweiligen Spruchkörper abzustellen ist. Denn es ist der 6.
Kammer jedenfalls vor einer öffentlichen Zustellung zumutbar gewesen zu ermitteln, ob der Kläger noch
andere Verfahren beim selben Gericht betreibt -der Kläger hat immerhin auf eine Rentenangelegenheit
hingewiesen (s. Blatt 92 der SG-Akten)- und ggfs. ob dort Erkenntnisse über den Aufenthaltsort vorliegen,
was hier der Fall gewesen ist. Auch steht dem der Datenschutz nicht entgegen. Entweder erteilt die
Gerichtsverwaltung bzw. die ersuchte Kammer die Auskunft bzw. erteilt Akteneinsicht -wie im Übrigen der
11. Senat dem hier erkennenden Senat auf Ersuchen die Akten zur Einsicht gegeben hat, nachdem auch
hier der Aufenthalt des Klägers unbekannt war- oder sie kann beim Kläger nachfragen, ob er mit der
Weitergabe seines Aufenthaltsortes an den ersuchenden Spruchkörper einverstanden ist.
28 Ob auch noch weitere Ermittlungen geeignet und zumutbar waren, brauchte hiernach nicht entschieden zu
werden.
29 Der Antrag auf mündliche Verhandlung kann auch nicht in eine Nichtzulassungsbeschwerde umgedeutet
werden. Die unterschiedliche Zielrichtung und die verschiedene Zuständigkeit, über den Rechtsbehelf/das
Rechtsmittel zu entscheiden, verbietet eine Umdeutung (Peters/Sauter/Wolf, § 105 SGG Rdnr. 75 mit
weiterem Nachweis). Der Kläger hat auch ausdrücklich einen Antrag auf Durchführung der mündlichen
Verhandlung beim SG gestellt und nicht die in der Rechtsbehelfsbelehrung auch genannte
Nichtzulassungsbeschwerde.
30 Da nur ein statthafter Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim SG und nicht eine
statthafte Berufung beim Landessozialgericht streitbefangen ist, ist es dem Senat von vorneherein
verwehrt, in der (Haupt-) Sache zu entscheiden (vgl. Bienert, a.a.O.), obwohl er durch Urteil entscheidet
(s.o.). Der Gesetzgeber hat eine inhaltliche Entscheidung eines Rechtsmittelgerichtes nur vorgesehen, wenn
die Berufung wegen eines besonderen Grundes (§ 144 Abs. 2 SGG) zugelassen worden ist, was hier nicht
erfolgte.
31 Da der Antrag auf mündliche Verhandlung entgegen der Auffassung des SG rechtzeitig gestellt worden ist,
war nicht nur der Beschluss des SG aufzuheben, sondern auch auf die Rechtsfolge des § 105 Abs. 3 Halbsatz
2 SGG zu erkennen. Mit der Aufhebung des Beschlusses allein wäre das Verfahren wieder in das Stadium
des gestellten Antrages auf Verhandlung zurückversetzt, ohne dass zum Ausdruck käme, dass der
Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt. Hierauf kann auch nicht verzichtet werden, nur weil sich die
Rechtsfolge unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ergibt (so auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg,
Beschluss vom 27. August 2012, L 34 AS 1737/12 B, Juris; a.A. Bienert, a.a.O.). An der klarstellenden
Entscheidung besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis, weil der Gerichtsbescheid in der Welt ist.
32 Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.
33 Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.