Urteil des LG Wiesbaden vom 15.04.2010

LG Wiesbaden: unerlaubte handlung, strafrechtliche verantwortlichkeit, zivilrechtliche verantwortlichkeit, körperverletzung, schmerzensgeld, amputation, schuldfähigkeit, deliktsfähigkeit, entstehung

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Gericht:
LG Wiesbaden 9.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 O 189/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 823 Abs 1 BGB, § 823 Abs 2
BGB, § 249 BGB, § 253 BGB
Schmerzensgeldanspruch bei vorsätzlich begangener
unerlaubter Handlung
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger als Schmerzensgeld 40.000,00 EUR
nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus
jährlich seit dem 03.12.2009 zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche
materiellen und immateriellen Schäden aus dem Angriff vom 25.07.2006 auf der
E. Straße in W. zu ersetzen, soweit entsprechende Ansprüche nicht auf Dritte
übergehen.
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von elf Zehnteln des jeweils zu
vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger nimmt den Beklagten wegen einer von diesem vorsätzlich begangenen
unerlaubten Handlung auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von
40.000,00 EUR in Anspruch; des weiteren begehrt er die Feststellung, daß der
Beklagte ihm, dem Kläger, gegenüber zum Ersatz weiterer materieller und
immaterieller Schäden verpflichtet sei.
Der Beklagte, Jahrgang 1972, war zur Tatzeit seit vielen Jahren drogenabhängig.
Am 25.07.2006 verletzte er den Kläger, den er zuvor verfolgt hatte, durch einen
tiefen, mit großer Wucht geführten Stich mit einem Finn-Messer mit einer
Klingenlänge von gut 15 cm in die Rückseite des linken Oberschenkels vorsätzlich.
Zudem beleidigte er den Kläger. Tatort war die E. Straße in W. Den Hintergrund der
Tat bildete die Eifersucht des Beklagten; dieser ertrug es nicht, daß der Kläger zu
seiner, des Beklagten, ehemaligen Lebensgefährtin eine intime Beziehung
unterhielt. Die 6. Große Strafkammer des Landgerichts Wiesbaden verurteilte den
Beklagten dieserhalb unter dem 06.12.2007 wegen schwerer Körperverletzung zu
einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Das Urteil ist rechtskräftig. Nach den
Feststellungen der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Wiesbaden war der
Beklagte, der unter einer dissozialen Persönlichkeitsstörung leidet und zudem zur
Tatzeit unter dem Einfluß hochgradig sedierender Medikamente stand, im
Zeitpunkt der Tat vermindert schuldfähig im Sinne von § 21 StGB. Wegen weiterer
Einzelheiten wird auf das in Ablichtung zu den Gerichtsakten gelangte Strafurteil
vom 06.12.2007 zu 4444 Js 26621/06 verwiesen. Der 1985 geborene Kläger war
zur Tatzeit ebenfalls drogenabhängig und ohne festen Wohnsitz. Er litt unter
anderem an Hepatitis C. Ebenfalls bereits zur Tatzeit hatte er an der linken Ferse
offene entzündliche Stellen, die unter anderem auf Injektionen von Drogen
zurückzuführen waren. Durch die Messerattacke erlitt der Kläger erhebliche
Verletzungen. Auch verlor er sehr viel Blut. Die notfallmäßige operative
Versorgung des Klägers brachte eine vollständige Durchtrennung des Nervus
ischiadikus zutage, die von einem Nervenarzt versorgt werden mußte. Der
ebenfalls durchtrennte Muskulus bizeps femoris wurde schichtweise rekonstruiert.
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ebenfalls durchtrennte Muskulus bizeps femoris wurde schichtweise rekonstruiert.
Der Schutz der Nervennaht machte eine Immobilisierung des Klägers vermittels
einer Becken-Bein-Ortthese für die Dauer von drei Wochen erforderlich. Zudem
erhielt der Kläger eine Peronaeus-Schiene. Nach dem stationären
Krankenhausaufenthalt in der Zeit vom 25.07.2006 bis zum 17.08.2006 begab sich
der Kläger in eine sechs Wochen dauernde stationäre Rehabilitationsbehandlung.
Diese umfaßte unter anderem Massagen und Elektrostimulation. Dennoch
entwickelte sich an der linken Ferse des Klägers ein Dekubitus. Dieser heilte erst
im Juni des Jahres 2007 ab. Das linke Bein des Klägers blieb gelähmt. Ab dem Knie
abwärts war es taub. In der Folgezeit verschlimmerten sich die ohnehin
bestehenden entzündlichen Veränderungen an der linken Ferse des Klägers.
Letzteres auch deshalb, weil der Kläger deren Folgen wegen der durch die
Stichverletzung bewirkten Gefühllosigkeit nicht wahrnahm. Ab dem 18.10.2007
wurde dieserhalb ein weiterer stationärer Krankenhausaufenthalt des Klägers
erforderlich, bei welchem die entzündlichen Wunden des Klägers operativ revidiert
wurden. Die dem Kläger im Januar 2007 überlassenen Gehhilfen waren irgendwann
„durchgelaufen"; der nicht krankenversicherte Kläger konnte sich indes keine
neuen besorgen, so daß er sich seitdem in Socken oder barfuß hinkend
fortbewegen mußte. Bei einem weiteren stationären Krankenhausaufenthalt vom
26.06.2009 bis zum 01.07.2009 wurde bei dem Kläger eine persistierende
chronische Osteomyelitis Kalkaneus diagnostiziert. Deswegen wurde im Juli 2009
bei dem Kläger linksseitig eine Unterschenkelamputation durchgeführt. Am
17.09.2009 erfolgte eine Nachamputation. Der Kläger beziffert die Höhe des von
ihm geforderten Schmerzensgeldes mit 40.000,00 EUR.
Der Kläger behauptet und ist der Auffassung, das von ihm geforderte
Schmerzensgeld sei dem Grunde und der Höhe nach gerechtfertigt, weil der
Beklagte durch die von ihm zu seinen, des Klägers, Lasten begangene vorsätzliche
Körperverletzung eine adäquat-kausale Ursache für den Verlust des
Unterschenkels gesetzt habe. Deswegen könne er, der Beklagte, auch nicht damit
gehört werden, daß sein, des Klägers, Bein bereits vorgeschädigt gewesen sei oder
er, der Beklagte, Im Zeitpunkt der Tat nur vermindert schuldfähig gewesen sei.
Letzteres betreffe nur die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beklagten, ändere
aber nichts an dessen Deliktsfähigkeit im Sinne des Zivilrechts. Da er, der Kläger,
infolge der Tat ein Leben lang mit dem Beinstumpf werde leben müssen, sei auch
an der Höhe des geforderten Schmerzensgeldes nicht zu zweifeln. Das
Feststellungsbegehren rechtfertige sich aber daraus, daß noch nicht alle Folgen
der Tat derzeit abzusehen seien
Der Kläger beantragt:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein angemessenes
Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 40.000,00 EUR nebst fünf
Prozentpunkten Zinsen hieraus über dem jeweiligen Basiszinssatz seit
Rechtshängigkeit zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger
sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem Angriff vom
25.07.2006 auf der E. Straße in W. zu zahlen, soweit entsprechende
Ansprüche nicht auf Dritte übergehen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er behauptet und ist der Ansicht, der Kläger habe seine Gesundheit jahrelang
selbst vernachlässigt und ruiniert. Da die Infektionen an der linken Ferse des
Klägers jedenfalls nicht auf die Stichverletzung zurückzuführen seien, sei er, der
Beklagte, hierfür und für die weiteren Folgen, namentlich die Amputation, nicht
verantwortlich zu machen. Auch habe er die Tat im Zustand verminderter
Schuldfähigkeit begangen, was nicht nur wegen der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit von Bedeutung sei, sondern auch in dem hier interessierenden
zivilrechtlichen Zusammenhang berücksichtigt werden müsse. Ohnehin sei er
mittellos.
Wegen weiterer Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten
Schriftsätze und die zugehörigen Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger kann von dem Beklagten wegen der von diesem begangenen
unerlaubten Handlung ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 EUR verlangen,
ein Anspruch auf die begehrte Feststellung steht dem Kläger ebenfalls zu. Im
einzelnen:
Der Kläger kann von dem Beklagten gemäß den Vorschriften der §§ 823 Abs. 1
und 2, 249, 253 BGB die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in
Höhe von 40.000,00 EUR verlangen. Der Beklagte hat am 25.07.2006 die
Gesundheit des Klägers vorsätzlich und rechtswidrig verletzt, indem er mit einer
gut 15 cm langen Messerklinge von hinten kommend tief in den linken
Oberschenkel des Klägers einstach und dadurch Muskeln und Nervenfasern
durchtrennte. Dies stellt nicht nur nach strafrechtlichen, sondern auch nach
zivilrechtlichen Maßstäben unzweifelhaft eine tatbestandsmäßige Körperverletzung
dar. Der Beklagte kann hier auch nicht damit gehört werden, im Zeitpunkt der Tat
vermindert schuldfähig gewesen zu sein, weshalb die 6. Große Strafkammer des
Landgerichts Wiesbaden mit Recht die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht
habe. Für die zur Rede stehende zivilrechtliche Einstandspflicht des Beklagten,
namentlich seine Deliktsfähigkeit, ist dies ohne Belang. In § 21 StGB findet sich
anerkanntermaßen ein Schuldmilderungsgrund und eine Strafbemessungsregel
normiert. Dies ist nur von strafrechtlicher Relevanz. Eine dem § 21 StGB
vergleichbare Regelung findet sich im Zivilrecht gerade nicht. Die zivilrechtliche
Verantwortlichkeit vermag § 827 BGB zufolge im Falle der verschuldensabhängigen
Haftung nur eine Zurechnungsunfähigkeit im Sinne einer Bewußtlosigkeit oder
eines Ausschlusses einer freien Willensbestimmung zu beseitigen. Nicht
ausreichend ist insoweit eine bloße Minderung der Geistes- und Willenskraft oder
der Einsichts- beziehungsweise Hemmfähigkeit. Der insoweit darlegungs- und
beweispflichtige Beklagte vermag indessen nichts vorzutragen, was auf das
Vorliegen fehlender Zurechnungsfähigkeit im Zeitpunkt der Tat schließen ließe.
Der Beklagte haftet auch für alle adäquat-kausalen Folgen der von ihm zu Lasten
des Klägers begangenen Körperverletzung. Ausgeschlossen ist seine Haftung nur
für diejenigen Folgen, die ihm, dem Beklagten, billigerweise nicht mehr
zugerechnet werden können. Zur Abgrenzung ist insoweit darauf abzustellen, ob
das Schadensereignis dazu geeignet war, die Möglichkeit eines Erfolges der
eingetretenen Art generell nicht unerheblich zu erhöhen. Nicht erforderlich ist
hingegen, daß das Schadensereignis die überwiegende oder die wesentliche
Ursache darstellt. Ausreichend ist in diesem Zusammenhang bloße
Mitursächlichkeit. Hiernach haftet der Beklagte – entgegen seiner Einschätzung –
für sämtliche der bei dem Kläger eingetretenen primären Gesundheitsfolgen, als
da wären starker Blutverlust, Durchtrennung der Muskel- und Nervenfasern,
Notwendigkeit der operativen Versorgung und der Rehabilitation, Todesangst des
Klägers und komplikationsbelasteter weiterer Verlauf, Entstehung eines
Druckgeschwürs, dauerhafte Teillähmung und Taubheit des linken Beins,
Entstehung einer Osteomyelitis und Amputation des linken Unterschenkels.
Insoweit vermag den Beklagten auch nicht der bereits zur Tatzeit angegriffene
Gesundheitszustand des Klägers, insbesondere die Vorerkrankung an der Ferse
des Klägers, zu entlasten. Als Täter einer vorsätzlich begangenen schweren
Körperverletzung kann der Beklagte nicht verlangen, so gestellt und behandelt zu
werden, als habe er einen völlig gesunden Menschen ohne Vorerkrankungen
verletzt. Im übrigen läßt der Beklagte geflissentlich außer acht, daß der
unzweifelhaft dem Beklagten anzulastende Nervenschaden bei dem Kläger gerade
eine Gefühllosigkeit an dem linken Bein hervorgebracht hat, in deren Folge der
Kläger fortdauernde oder sich ausweitende Infektionen an seiner linken Ferse und
an dem linken Unterschenkel als solche gar nicht als solche bemerken konnte.
Dies alles rechtfertigt es, ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 EUR als
angemessen zu erachten. Die verminderte Schuldfähigkeit des Beklagten als ein
besonderes persönliches Merkmal ist hierbei bereits berücksichtigt. Angesichts der
für den Kläger gravierenden Folgen der Tat wäre ohne die verminderte
Schuldfähigkeit des Beklagten ein höheres Schmerzensgeld zuzusprechen
gewesen. Der Beklagte macht hier auch vergeblich geltend, derzeit und auf
absehbare Zeit mittellos zu sein. Als Opfer einer vorsätzlich begangenen
unerlaubten Handlung, die in einer schweren Körperverletzung besteht, hat der
Kläger ein ohne weiteres nachvollziehbares und billigenswertes Interesse an der
Titulierung seines Schadensersatzanspruchs. Als Täter der vorsätzlich begangenen
unerlaubten Handlung wird sich der Beklagte aber selbst durch ein
Insolvenzverfahren seiner Verantwortlichkeit für die zu Lasten des Klägers
begangene unerlaubte Handlung nicht entziehen können. Fehlende
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begangene unerlaubte Handlung nicht entziehen können. Fehlende
Leistungsfähigkeit des Schädigers darf anerkanntermaßen gerade bei
Vorsatztaten nicht dazu führen, daß dem Verletzten keine oder aber nur eine
äußerst bescheidene Kompensation zugesprochen wird. Das Gegenteil ist der Fall.
Ebenso wie der Kläger für den Rest seines Lebens durch die Amputation entstellt
und erheblich beeinträchtigt sein wird, wird sich der Beklagte unter Umständen
ebenfalls lebenslänglich um Befriedigung des dem Kläger zustehenden
Schadensersatzanspruchs zu bemühen haben. Auswirkungen auf die
zuzusprechende Höhe in dem von dem Beklagten geforderten Sinne hat dies
nicht.
Das Feststellungsbegehren ist ebenfalls begründet. Wie die Nachamputation
eindrucksvoll zeigt, sind die Folgen der von dem Beklagten begangenen Tat alles
andere als absehbar abgeschlossen. Zur Überzeugung des erkennenden Gerichts
hat der Kläger ein billigenswertes Interesse daran, den Beklagten wegen derzeit
noch nicht bekannter, aber künftig auftretender Folgen in Anspruch nehmen zu
können, soweit eine Zurechnung im Sinne einer Adäquanzkausalität nur bejaht
werden kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Als unterlegene Partei hat der
Beklagte die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu tragen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den Vorschriften
des § 709 Satz 1 und 2 ZPO.
Der Streitwert wird auf 50.000,00 EUR festgesetzt. Hiervon entfallen auf den
bezifferten Klageantrag 40.000,00 EUR; den Feststellungsantrag taxiert das
Gericht gemäß § 3 ZPO auf 10.000,00 EUR.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.