Urteil des LG Stuttgart vom 29.07.2013

stille reserven, steuerberater, verkündung, aktie

LG Stuttgart Urteil vom 29.7.2013, 27 O 128/12
Steuerberaterhaftung: Unterlassener Hinweis auf eine anhängige
Verfassungsbeschwerde
Leitsätze
Die Parteien haben in der Berufungsinstanz einen Vergleich abgeschlossen.
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Ziff. 1 einen Betrag von 903.105,74 Euro
nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem
26.04.2012 zu bezahlen.
2. Der Beklagte wird ferner verurteilt, an den Kläger Ziff. 2 einen Betrag von
686.552,48 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 26.04.2012 zu bezahlen.
3. Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger 1/14 und der Beklagte 13/14.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden
Betrages vorläufig vollstreckbar.
Streitwert: 1.706.404,87 Euro
(davon 965.592 Euro für den Rechtsstreit des Klägers Ziff. 1, 740.812,87 Euro für den
Rechtsstreit des Klägers Ziff. 2)
Tatbestand
1 Die Kläger verlangen vom beklagten Steuerberater Schadenersatz wegen
unterbliebener Offenhaltung der Besteuerung fehlerhaft festgesetzter
Veräußerungsgewinne nach § 17 EStG für die Jahre 2004 bis 2006 bzw.
fehlenden Hinweises auf die mögliche Verfassungswidrigkeit der der Besteuerung
zugrunde gelegten Normen.
2 Der Beklagte ist seit mehr als 15 bzw. 20 Jahren Steuerberater der Kläger. Beide
Kläger waren Aktionäre einer G. AG und haben Teile ihrer Aktien in den Jahren
2004, 2005 und 2006 veräußert:
3 Die Kläger übernahmen am 01.08.1997 für einen Kaufpreis von 12.200,00 DM
jeweils einen Nennbetrag von 12.000,00 DM am Stammkapital der
Vorratsgesellschaft R. GmbH, dies entsprach zunächst jeweils 24 % des
Stammkapitals. Am selben Tag wurde die Firma in G. GmbH geändert, und es
wurden weitere Gesellschafter aufgenommen, so dass die Beteiligungsquote der
Kläger jeweils 18 % betrug. Im Oktober 1997 wurde das Stammkapital erneut
erhöht und die GmbH in die G. AG umgewandelt. Die Beteiligungsquote der Kläger
betrug danach jeweils 8,67 %, sie waren jeweils mit 48.000 Stückaktien am
Grundkapital beteiligt. Im Mai 1999 kam es zu einer erneuten Kapitalerhöhung, so
dass die Beteiligungsquote der Kläger auf jeweils 5,71 % sank. Die Investoren
zahlten einen Ausgabepreis von 39,88 Euro pro Aktie, der im März 1999 festgelegt
worden war. Nach dem anschließenden Aktiensplit im Verhältnis 1:10 entsprach
dies einem Wert pro Aktie von 3,98 Euro zum 12.05.1999. Ab März 2000 firmierte
die AG als G. AG. Durch zwei weitere Kapitalerhöhungen im März und Mai 2000
sank die Beteiligungsquote der Kläger auf jeweils 2,73 %, wobei infolge eines
Aktiensplits jeder Kläger 480.000 Aktien hielt.
4 Durch das am 31.03.1999 verkündete sogenannte Steuerentlastungsgesetz (BGBl
I S. 402, 409) senkte der Gesetzgeber die Beteiligungsgrenze des § 17 EStG von
25 % auf 10 %, bei deren Überschreiten innerhalb der letzten fünf Jahre
Veräußerungsgewinne aus im Privatvermögen gehaltenen Anteilen an einer
Kapitalgesellschaft einkommensteuerpflichtig sind. Eine weitere Absenkung auf 1
% erfolgte durch das am 26.10.2000 verkündete Steuersenkungsgesetz zum
01.01.2002 (BGBl I S. 1433, 1435).
5 Bei Verkündung des Steuersenkungsgesetzes notierte der Börsenkurs der Aktie
der G. AG bei über 50 Euro, während des gesamten Jahres 2000 lag der Kurs bei
mindestens 22,50 Euro. Die Kläger erwogen im Jahr 2001, Aktien zu verkaufen.
Am 15.11.2001 leitete der Kläger Ziff. 2 dem Beklagten eine E-Mail des Klägers
Ziff. 1 mit einem Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 06.10.2001
zur Rückwirkungsproblematik der Gesetzesänderung als Anhang weiter und fragte
nach der Meinung des Beklagten, ob er/sie ein paar Aktien noch 2001 veräußern
sollten, um eventuell steuerfrei zu sein (Anlage K2). In einer anschließenden
Besprechung erklärte der Beklagte dem Kläger Ziff. 2 gegenüber, er werde das
Thema für beide Kläger im Blick behalten.
6 Im Jahr 2005 entschied der Bundesfinanzhof in drei Urteilen, § 17 EStG sei
verfassungsgemäß (Urteile vom 01.03.2005 - VIII R 25/02 und VIII R 92/03 sowie
Urteil vom 10.08.2005 - VIII R 22/05). Die dort Unterlegenen legten daraufhin
Verfassungsbeschwerden ein.
7 Die Kläger verkauften in den Jahren 2004 bis 2006 einen Teil ihrer Aktien:
8 - der Kläger Ziff. 1
9
im Jahr 2004: 150.000 Aktien zum Preis von 11,22 Euro pro Aktie,
im Jahr 2005: 78.795 Aktien zum Preis von 11,02 Euro pro Aktie und
im Jahr 2006: 60.000 Aktien zum Preis von 13,30 Euro pro Aktie;
10 - der Kläger Ziff. 2
11 im Jahr 2004: 150.000 Aktien zum Preis von 11,22 Euro pro Aktie,
im Jahr 2005: 72.278 Aktien zu Preisen zwischen 11,26 und 10,83 Euro pro Aktie
und
im Jahr 2006: 23.722 Aktien zu Preisen zwischen 10,84 und 11,03 Euro pro Aktie.
12 Der Beklagte erstellte jeweils die Einkommensteuererklärungen für die Kläger und
zwar für den Kläger Ziff. 1 im Juni 2006 für den Veranlagungszeitraum 2004, im
September 2007 für den Veranlagungszeitraum 2005 und im Januar 2008 für den
Veranlagungszeitraum 2006, für den Kläger Ziff. 2 im Mai 2005 für den
Veranlagungszeitraum 2004, im April 2007 für den Veranlagungszeitraum 2005
und den Veranlagungszeitraum 2006. Die Steuererklärungen enthalten die
Veräußerungsgewinne aus den Aktienverkäufen jeweils in vollem Umfang.
13 Für den Kläger Ziff. 1 erging der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2004 am
18.08.2006. Das Finanzamt berücksichtigte entsprechend der Steuererklärung
Einkünfte aus Veräußerungsgewinnen gemäß § 17 EStG in Höhe von 840.780,00
Euro (Anlage K3). Die Bestandskraft trat am 21.01.2008 ein.
14 Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2005 erging am 22.10.2007. Das
Finanzamt berücksichtigte entsprechend der Steuererklärung Einkünfte aus
Veräußerungsgewinnen gemäß § 17 EStG in Höhe von 433.706,00 Euro (Anlage
K4). Bestandskraft trat am 29.02.2008 ein.
15 Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2006 erging am 02.05.2008. Das
Finanzamt berücksichtigte entsprechend der Steuererklärung Einkünfte aus
Veräußerungsgewinnen gemäß § 17 EStG in Höhe von 398.681,00 Euro (Anlage
K5). Bestandskraft trat am 21.07.2008 ein.
16 Für den Kläger Ziff. 2 erging der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2004 am
14.07.2005, wurde mit Ablauf des 17.08.2005 bestandskräftig und nach § 175 AO
letztmals am 10.02.2012 geändert. Das Finanzamt berücksichtigte entsprechend
der Steuererklärung Einkünfte aus Veräußerungsgewinnen gemäß § 17 EStG in
Höhe von 840.855,00 Euro (Anlage K3 zu Az. 27 O 129/12).
17 Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2005 erging am 22.02.2008, wurde
mit Ablauf des 25.03.2008 bestandskräftig und nach § 175 AO letztmals am
10.02.2012 geändert. Das Finanzamt berücksichtigte entsprechend der
Steuererklärung Einkünfte aus Veräußerungsgewinnen gemäß § 17 EStG in Höhe
von 396.173,00 Euro (Anlage K 4 zu Az. 27 O 129/12).
18 Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2006 erging am 19.06.2008, wurde
mit Ablauf des 22.07.2008 bestandskräftig und nach § 175 AO letztmals am
10.02.2012 geändert. Das Finanzamt berücksichtigte entsprechend der
Steuererklärung Einkünfte aus Veräußerungsgewinnen gemäß § 17 EStG in Höhe
von 129.531,00 Euro (Anlage K5 zu Az. 27 O 129/12).
19 Gegen die Besteuerung der Veräußerungsgewinne bei den Klägern legte der
Beklagte weder Einspruch ein noch wies er die Kläger darauf hin, dass zur Frage
der Verfassungswidrigkeit der Steuernorm eine Verfassungsbeschwerde anhängig
war, das Einspruchsverfahren bis zur Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts nach § 363 Absatz 2 Satz 2 AO ruhen würde und bei
einer positiven Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Steuerbescheid
zu ihren Gunsten zu ändern sei.
20 Mit Beschluss vom 07.07.2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht § 17 Abs. 1
S. 4 i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
vom 24.03.1999 für verfassungswidrig, soweit als Veräußerungsgewinn
Wertsteigerungen der Besteuerung unterworfen werden, die bis zur Verkündung
des Gesetzes am 31.03.1999 bereits entstanden waren und nach der zuvor
geltenden Rechtslage sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum
Zeitpunkt der Veräußerung steuerfrei hätten realisiert werden können (Az. 2 BvR
748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05). Das Bundesverfassungsgericht hob damit
die Urteile des Bundesfinanzhofs aus dem Jahr 2005 auf.
21 Die Kläger tragen vor,
22 ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Veräußerungsgewinne aus den
Aktienverkäufen der Einkommensteuer unterlagen, sei auch im Vorfeld der ersten
Aktienverkäufe im Jahr 2004 und anlässlich der Erstellung der Steuererklärung
des Klägers Ziff. 1 für 2004 Gegenstand von Gesprächen zwischen ihnen und
dem Beklagten gewesen. Der Beklagte habe erklärt, der Veräußerungsgewinn sei
zunächst zu versteuern, die Frage aber noch nicht abschließend geklärt. Es habe
langjähriger Praxis entsprochen, dass der Beklagte über die Einlegung von
Rechtsbehelfen gegen Steuerbescheide eigenständig entschied und die
erforderlichen Maßnahmen im Namen der Kläger ergriff, weshalb sie davon
ausgegangen seien, der Beklagte werde dies auch im vorliegenden Fall tun, um
im Falle einer günstigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine
Steuererstattung geltend machen zu können. Der Beklagte habe in der
Vergangenheit für die Einlegung von Einsprüchen einen Stundensatz von 90,00
Euro berechnet.
23 Die Kläger beantragen zuletzt nach einer teilweisen Klagerücknahme,
24 1. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger Ziff. 1: 952.204,00 Euro nebst 5 %
Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, und
2. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger Ziff. 2: 723.284,87 Euro nebst 5 %
Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
25 Der Beklagte beantragt
26 Klagabweisung.
27 Der Beklagte meint,
28 es fehle an einer Pflichtverletzung. Er habe sich mit den Entscheidungen des
Bundesfinanzhofs aus 2005 auf die Verfassungskonformität des § 17 EStG
verlassen dürfen. Dass gegen die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs
Verfassungsbeschwerden eingelegt worden waren, sei dem Beklagten nicht
bekannt gewesen, solche Verfassungsbeschwerden gegen von fünf
Berufsrichtern gefällte Entscheidungen seien zudem selten erfolgreich. Die
Wertsteigerungen seien nach damaliger Kenntnis des Beklagten erst im
Zusammenhang mit dem Börsengang 2000 entstanden. Vorherige
Wertsteigerungen bestreitet der Beklagte mit Nichtwissen. Nach dem 31.03.1999
entstandene stille Reserven seien aber nicht steuerfrei, weil die neuen
Beteiligungsgrenzen jeweils auch im maßgeblichen Zeitraum von 5 Jahren vor der
Veräußerung eingehalten sein müssten. Steuerverstrickung sei daher bereits
1999 durch das Steuerentlastungsgesetz eingetreten, weil die Kläger 1997
zunächst mit 24 % beteiligt gewesen seien. Das Steuersenkungsgesetz habe
dann nur noch dazu geführt, dass die Kläger die Beteiligung nicht durch Abwarten
des Fünf-Jahreszeitraumes aus der steuerlichen Verstrickung herauswachsen
lassen konnten.
29 Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle der mündlichen
Verhandlungen vom 26.09.2012 und vom 26.06.2013 Bezug genommen. Die
Parteien sind in den mündlichen Verhandlungen persönlich angehört worden.
Entscheidungsgründe
30 Die Klagen sind zulässig und weitgehend begründet.
I.
31 Der Kläger Ziff. 1 hat gegen den Beklagten aus §§ 280 Abs. 1, 611, 675 BGB
Anspruch auf Schadenersatz in Höhe von 903.105,74 Euro.
32 Die Voraussetzungen für einen Schadenersatzanspruch des Klägers Ziff. 1 sind
ein Steuerberatungsvertrag zwischen den Parteien, aus dem sich eine bestimmte
Pflichtenlage ergibt, die Verletzung dieser Pflichtenlage seitens des
Steuerberaters, die Ursächlichkeit dieser Pflichtverletzung für eine
schadenträchtige Vermögensdisposition bzw. die Unterlassung einer gebotenen
Vermögensdisposition und letztlich der Eintritt eines Schadens.
1.
33 Zwischen den Parteien bestand unstreitig ein Steuerberatungsvertrag, der
Beklagte war mit Erstellung der Einkommensteuererklärungen für die Jahre 2004
bis 2006 und der Prüfung der entsprechenden Steuerbescheide beauftragt.
2.
34 Aus dem zwischen den Parteien bestehenden Vertragsverhältnis war der Beklagte
verpflichtet, den Kläger Ziff. 1 auf die Möglichkeit hinzuweisen, Einspruch gegen
die Einkommensteuerbescheide für 2004 bis 2006 einzulegen und dabei
hinzuweisen auf § 363 Abs. 2 Satz 2 AO und die Anhängigkeit der Frage beim
Bundesverfassungsgericht, ob die durch Änderung des § 17 EStG für
Veräußerungsgewinne angeordnete Besteuerung der Wertsteigerungen
verfassungswidrig ist, die bei Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes am
31.03.1999 bereits entstanden waren und bei Fortgeltung der alten
Beteiligungsgrenze von über 25 % durch Veräußerung hätten steuerfrei realisiert
werden können. Er hätte dem Kläger Ziff. 1, der diese Beteiligungsgrenze nie
überschritten hat, mitteilen müssen, dass auf diese kostengünstige Weise die
Beurteilung der in den Bescheiden vorgenommene Besteuerung der
Veräußerungsgewinne aus den Aktienverkäufen an der G. AG für den Fall offen
gehalten werden könne, dass das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift
insofern für verfassungswidrig erkläre.
35 a) Zwar hat sich der Steuerberater wie ein Rechtsanwalt wegen der
richtungweisenden Bedeutung, die höchstrichterlichen Entscheidungen für die
Rechtswirklichkeit zukommt, bei der Wahrnehmung seines Mandats grundsätzlich
an der Rechtsprechung der Bundesgerichte auszurichten (BGH, Urteil vom
30.09.1993 - IX ZR 211/92, juris Rn. 18 ff.). Auch darf ein Steuerberater
grundsätzlich auf die Verfassungsmäßigkeit des von der Steuerverwaltung
angewendeten Steuergesetzes vertrauen. Allerdings hat der Steuerberater
gleichwohl in Ausnahmefällen auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit eines
bislang als verfassungsmäßig behandelten Steuergesetzes hinzuweisen.
36 b) Einen solchen Ausnahmefall nimmt der Bundesgerichtshof etwa dann an, wenn
ein Gericht einen Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht nach Artikel
100 Absatz 1 GG gefasst und der Berater hiervon Kenntnis erlangt hat. In diesen
Fällen kann einer möglichen neuen Rechtsentwicklung mit geringem Aufwand
Rechnung getragen werden (BGH, Urteil vom 06.11.2008 - IX ZR 140/07, juris Rn.
15).
37 Im vorliegenden Fall kann mit dieser Fallgruppe eine Hinweispflicht schon deshalb
nicht begründet werden, weil das Bundesverfassungsgericht nicht in einem
konkreten Normenkontrollverfahren, sondern in einem
Verfassungsbeschwerdeverfahren mit der Frage der Verfassungswidrigkeit der
Steuernorm befasst war. Im Gegensatz zu einem gerichtlichen Vorlagebeschluss
nach Artikel 100 Absatz 1 GG steht eine Verfassungsbeschwerde wertungsmäßig
einer vereinzelten Auffassung in der rechtswissenschaftlichen Literatur gleich, die
jedoch für sich genommen noch keinen Anlass für ein Rechtsgespräch mit dem
Mandanten begründet (BGH a.a.O., juris Rn. 16). Demgegenüber hat der
Bundesfinanzhof von einem konkreten Normenkontrollverfahren abgesehen, weil
er in den angegriffenen Entscheidungen die anzuwendende Steuernorm mit der
Verfassung für vereinbar angesehen hat.
38 c) Eine Pflicht zu einem Hinweis auf das anhängige Verfahren beim
Bundesverfassungsgericht ergibt sich allerdings nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs auch dann, wenn der Steuerberater einen konkreten Anlass
für das Beratungsgespräch hat (Urteil vom 06.11.2008 - IX ZR 140/07, juris Rn.
16).
39 Ein entsprechend konkreter Anlass für das Beratungsgespräch bestand im
vorliegend zu beurteilenden Einzelfall.
40 aa) Die Frage, ob die Gewinne aus den Aktienverkäufen zu versteuern sind und
die zugrundeliegende Steuernorm mit der Verfassung zu vereinbaren ist, war
mehrmals Thema zwischen den Parteien:
41 (1) Zum ersten Mal wurde die Frage vom Kläger Ziff. 2 mit E-Mail vom 15.11.2001
(Anlage K 2) unter Bezugnahme auf einen Zeitungsbericht betreffend den
Beschluss des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 08.12.2000 (Az. 9 V
85/00) angesprochen. Mit diesem Beschluss nahm das Finanzgericht eine
verfassungskonforme Auslegung des § 17 EStG vor. In dem Zeitungsartikel
(Anlage K 2) wurde thematisiert, ob der Argumentation zu folgen sei, dass die
Beteiligungsgrenzen für jeden in den vergangenen fünf Jahren abgeschlossenen
Veranlagungszeitraum nach den während dieses Veranlagungszeitraums
geltenden Vorschriften heranzuziehen seien, und ob es im Hinblick darauf bei
einer Beteiligung zwischen 10 und 25 % eventuell sinnvoll sei, vor Inkrafttreten des
Steuersenkungsgesetzes mit einer weiteren Absenkung auf 1 % Anteile zu
veräußern. Der Kläger Ziff. 2 nahm den Zeitungsartikel zum Anlass, den Beklagten
zu fragen, ob aus steuerlichen Gründen ein Aktienverkauf im Jahr 2001 ratsam sei.
Unstreitig hat der Beklagte geantwortet, er werde die Angelegenheit für beide
Kläger im Auge behalten. Nach Inkrafttreten des Steuersenkungsgesetzes hatte
sich diese Frage eines Aktienverkaufs allerdings zunächst nicht mehr gestellt.
42 (2) Anlässlich der ersten Aktienverkäufe 2004 haben beide Kläger den Beklagten
kontaktiert und erfragt, ob die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung
der Veräußerungserlöse mittlerweile geklärt sei, was der Beklagte verneinte. Der
Beklagte erklärte, die Gewinne seien daher vorerst zu versteuern, bis eine
endgültige Klärung der Frage erfolgt sei.
43 Diese streitige Behauptung der Kläger ist erwiesen. Zum einen ist die Schilderung
des Klägers Ziff. 2 in seinen Anhörungen glaubhaft. Es ist nachvollziehbar, dass er
diese Frage mit seinem Steuerberater erörtert hat, weil er durch den Zeitungsartikel
für das Thema sensibilisiert war und hohe Steuerzahlungen von der Frage der
Verfassungsmäßigkeit des § 17 EStG abhingen. Der Beklagte hat in seiner
persönlichen Anhörung angegeben, an das Gespräch im Jahr 2004 keine
Erinnerung mehr zu haben. Auch wenn die Beratung schon eine lange Zeit - etwa
neun Jahre - zurücklag, reichen Erinnerungslücken bei einem Steuerberater für ein
substantiiertes Bestreiten des Gesprächsverlaufs nicht aus. Der Steuerberater
kann sich nicht damit begnügen, eine Pflichtverletzung zu bestreiten oder ganz
allgemein zu behaupten, er habe den Mandanten ausreichend unterrichtet.
Vielmehr muss er den Gang der Besprechung im einzelnen schildern,
insbesondere konkrete Angaben darüber machen, welche Belehrungen und
Ratschläge er erteilt und wie darauf der Mandant reagiert hat (BGH, Urteil vom
05.02.1987 - IX ZR 65/86, juris Rn. 17). Der Steuerberater wird durch diese
Vortragslast nicht unzumutbar belastet; er hat die Möglichkeit, den Inhalt des
Beratungsgesprächs durch einen Aktenvermerk festzuhalten und sich so zur
Wahrung seiner eigenen Interessen geeignetes Material zur Auffrischung seiner
Erinnerung zu verschaffen (Zugehör, Handbuch der Anwaltshaftung, Rn. 1067).
Die Behauptungen der Kläger über den Gesprächsverlauf sind mithin auch
prozessual als zugestanden anzusehen, weil sie nicht ausreichend bestritten
wurden (§ 138 Absatz 3 ZPO).
44 (3) Schließlich hat der Kläger Ziff. 1 mit dem Beklagten auch im Jahr 2006
anlässlich der Erstellung der Steuererklärung für das Jahr 2004 ein Gespräch zur
Besteuerung der Einkünfte aus den Aktienverkäufen geführt. Nach der
Überzeugung der Kammer hat der Beklagte in diesem Gespräch mitgeteilt, dass
die Veräußerungsgewinne nach dem damaligen Stand des Steuerrechts zu
versteuern seien und man sich die Steuern zurückholen könne, wenn sich die
Rechtslage ändere. Der Beklagte konnte sich in seiner persönlichen Anhörung
daran nicht erinnern, wollte diesen Gesprächsverlauf aber auch nicht
ausschließen. Die Kammer hält die Darstellung des Klägers Ziff. 1 für
überzeugend: Das Thema der Besteuerung wurde bereits zuvor in dem
Beratungsverhältnis angesprochen und war für die Kläger von wirtschaftlicher
Bedeutung. Die Kläger selbst zählten nach den Angaben des Beklagten zu den 20
seiner wichtigsten Mandanten. Die Frage der Besteuerung wird bei der Erstellung
der Steuererklärung virulent. Es lag nahe, dass dieses Thema gerade zu jenem
Zeitpunkt nochmals angesprochen wird. Zudem hat der Beklagte den
Gesprächsverlauf auch nicht abgestritten, sondern Erinnerungslücken
vorgegeben. Für das substantiierte Bestreiten wären auch diesbezüglich konkrete
Angaben darüber erforderlich gewesen, welche Belehrungen und Ratschläge der
Steuerberater erteilt und wie darauf der Mandant reagiert hat.
45 (4) Da die Kläger die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Absenkung wiederholt
gegenüber dem Beklagten angesprochen hatten, nämlich erneut nach der bereits
im Jahr 2001 - wenngleich verbunden mit einer anderen Fragestellung - erfolgten
Anfrage, und er sich auf die Frage eingelassen hatte, musste der Beklagte
erkennen, dass die Frage für die Kläger von besonderer Bedeutung war und sie
davon ausgehen würden, dass der Beklagte die Frage bei Bearbeitung der
Einkommensteuerbescheide, für die die Veräußerungsgewinne eine Rolle spielen
konnten, berücksichtigen werde.
46 bb) Aus den Gründen der Urteile des Bundesfinanzhofs vom 01.03.2005 - VIII R
25/02 und VIII R 92/03 sowie des Urteils vom 10.08.2005 - Az. VIII R 22/05 war die
verfassungsrechtliche Kontroverse erkennbar. Der Beklagte musste in Betracht
ziehen, dass die unterlegene Partei gegen dieses Urteil des Bundesfinanzhofs
Verfassungsbeschwerde einlegen könnte und damit die Möglichkeit einer
gegenteiligen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht bestand.
47 Da der Beklagte seine Beratung an der höchstrichterlichen Rechtsprechung
auszurichten hatte (BGH, Urteil vom 30.09.1993 - IX ZR 211/92, juris Rn. 18 ff.),
gab das Mandat Anlass, sich mit diesem Urteil und den Urteilsgründen vertraut zu
machen. Dabei wäre ihm bewusst geworden, dass die zu beurteilende
Rechtsfrage nicht abschließend geklärt war. Denn der Bundesfinanzhof setzte sich
in dem angeführten Urteil ausführlich mit der Frage der Verfassungswidrigkeit des
§ 17 EStG und den in der rechtswissenschaftlichen Literatur ausgetauschten
Argumenten auseinander (vgl. Urteil vom 01.03.2005 - VIII R 92/03, juris Rn. 24 ff.).
Auch als Steuerberater musste der Beklagte wissen, dass der Bundesfinanzhof in
Fragen der Verfassungsmäßigkeit nicht abschließend entscheiden kann, sondern
das Bundesverfassungsgericht mit der Frage befasst werden kann.
48 cc) Der Beklagte hatte somit auf Grund der Beratungsgespräche einen konkreten
Anlass, nach Erlass der Steuerbescheide auf die Möglichkeit eines Einspruchs
unter Hinweis auf die anhängigen Verfahren hinzuweisen. Das Verfahren hätte
nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO im Falle eines darauf gestützten Einspruchs geruht.
Es hätte also mit einfachen Mitteln und minimalem Aufwand die Möglichkeit
gesichert werden können, aus einer späteren Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zu einer kontroversen Frage Nutzen zu ziehen. Einer
näheren Begründung des Einspruchs hätte es dazu nicht bedurft.
49 Der Beklagte war deshalb und wegen der vorherigen Thematisierung der Frage
der Verfassungsmäßigkeit mit den Klägern im vorliegenden Fall auch dann
verpflichtet, den Kläger Ziff. 1 auf diese Möglichkeit hinzuweisen, wenn er selbst
die Erfolgsaussichten der eingelegten Verfassungsbeschwerden für gering hielt.
50 Einen Hinweis auf die anhängige Verfassungsbeschwerde hätte der Beklagte etwa
in Standardwerken wie dem Kommentar von Schmidt zum EStG in der 25. Auflage
(2006) zu § 17 EStG unter Randnummer 35 gefunden. Zielführend wäre aber auch
eine Nachfrage beim Bundesverfassungsgericht oder eine Recherche in
juristischen Datenbanken gewesen.
51 dd) Keine abweichende Beurteilung der Pflichtenlage ergibt sich aus dem Vortrag
des Beklagten, er sei zum Zeitpunkt der jeweiligen Beratung - im Nachhinein
fälschlich - davon ausgegangen, dass etwaige Wertsteigerungen erst im
Zusammenhang mit dem Börsengang im Jahr 2000 entstanden seien. Der
Beklagte hat weder behauptet, die zeitliche Entstehung der im
Veräußerungsgewinn realisierten stillen Reserven mit dem Kläger Ziff. 1
thematisiert bzw. im Einzelnen ermittelt zu haben, noch hat er dazu vorgetragen,
aufgrund welcher Tatsachen er davon habe ausgehen dürfen, dass stille Reserven
erstmals im Zusammenhang des Börsengangs entstanden seien. Nach dem
Gebot des sichersten Weges hätte der Beklagte einen Hinweis auf die
Einspruchsmöglichkeit nur unterlassen dürfen, wenn er die vorherige Entstehung
stiller Reserven hätte ausschließen können. Nachdem zwischen dem Erwerb der
Anteile am 01.08.1997 mit den Nennwert von 12.000,00 DM nur geringfügig
übersteigenden Anschaffungskosten von 12.200,00 DM und dem maßgeblichen
Stichtag 31.03.1999 zwanzig Monate liegen, in denen es unstreitig zu
Kapitalerhöhungen kam, und der Beklagte keine Ermittlung seinerseits vorträgt,
war dies nicht der Fall.
52 d) Die anlässlich der Prüfung der streitgegenständlichen Steuerbescheide
bestehende Hinweispflicht hat der Beklagte gegenüber dem Kläger Ziff. 1 verletzt.
3.
53 Die schadenträchtige Vermögensdisposition des Klägers Ziff. 1 liegt darin, keinen
Einspruch gegen die jeweiligen Steuerbescheide eingelegt zu haben. Die
Steuerbescheide wären später zu Gunsten der Kläger geändert worden. § 17 Abs.
1 Satz 4 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/ 2002
wurde durch das Bundesverfassungsgericht - erst nach Eintritt der Bestandskraft
der streitgegenständlichen Steuerbescheide - mit Beschluss vom 07.07.2010 für
nichtig erklärt soweit durch die Absenkung der Beteiligungsgrenze von 25 % auf 10
% bei der Besteuerung privater Veräußerungen von Kapitalanteilen im
Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen erfasst und besteuert werden, die bei
Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 am 31.03.1999
bereits entstanden waren und die nach der zuvor geltenden Rechtslage sowohl
am 31.03.1999 als auch zum tatsächlichen Veräußerungszeitpunkt steuerfrei
hätten realisiert werden können (BVerfG, Urteile vom 07.07.2010 - 2 BvR 748/05, 2
BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BGBl. I 2010, 1296).
54 Wie sich der Mandant bei ordnungsgemäßer Beratung verhalten hätte, ist eine
Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, für deren Nachweis nach dem
Maßstab des § 287 ZPO eine überwiegende, freilich auf gesicherter Grundlage
beruhende Wahrscheinlichkeit genügt (BGH, Urteil vom 30.03.2000 - IX ZR 53/99).
Dass der Kläger Ziff. 1 sich nach ordnungsgemäßem Hinweis entschieden hätte,
unter Bezugnahme auf die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren
Einspruch gegen die Besteuerung der Veräußerungsgewinne in den
streitgegenständlichen Steuerbescheiden einzulegen, ist hinreichend
wahrscheinlich.
55 a) Im Falle des Misserfolges hätte kein nennenswertes finanzielles Risiko
bestanden. Hätte der Kläger Ziff. 1 die Einsprüche selbst eingelegt, wären nur
Portokosten entstanden. Selbst wenn er - was näher liegt - den Beklagten mit der
Einspruchseinlegung beauftragt hätte, wären relativ geringe Zeitgebühren
angefallen. Dies entsprach der Abrechnungspraxis des Beklagten für die
Einlegung von Einsprüchen (vgl. Anlage K 11). Es ist deshalb nicht anzunehmen,
dass der Beklagte ausgerechnet für diesen Fall nach der
Steuerberatervergütungsverordnung Geschäftsgebühren über etwa 7.300,00 Euro
abgerechnet hätte.
56 b) Dem geringfügigen Kostenrisiko im Fall des Misserfolgs standen erhebliche
Chancen im Fall des Erfolges der Verfassungsbeschwerde gegenüber, weil
Veräußerungsgewinne jeweils in beträchtlichem Umfang der Besteuerung
unterworfen waren.
57 Dies gilt auch mit Rücksicht darauf, dass das Normenkontrollverfahren beim
Bundesverfassungsgericht einzig das Steuerentlastungsgesetz 1999 zum
Gegenstand hatte, mit dem der Maßstab einer wesentlichen Beteiligung von 25 %
auf 10 % abgesenkt worden war. Das darauffolgende Steuersenkungsgesetz, mit
dem diese Beteiligungsquote weiter auf 1 % abgesenkt wurde, war demgegenüber
nicht Gegenstand der Normenkontrolle. Insofern standen in dem
verfassungsgerichtlichen Verfahren lediglich die Wertsteigerungen zur
Überprüfung, die bis März 1999 bereits entstanden waren.
58 Unerheblich ist der Einwand des Beklagten, dass aus Sicht der damaligen
Beratung im März 1999 noch keine stillen Reserven entstanden gewesen seien,
weil diese sich erst mit der Börseneinführung gebildet haben sollen. Im März 1999
wurde bereits der Ausgabepreis der Aktien von 39,88 Euro festgelegt, ferner der
Aktiensplit von 1:10 und der Wert der Aktie von 3,98 pro Stück. Dies indizierte
durchaus eine erhebliche Wertsteigerung, die im Falle einer Steuerfreiheit zu
einem Steuervorteil von mehr als 100.000,00 Euro geführt hätte (vgl. im Einzelnen
die Berechnung auf Bl. 16f. der Akten).
59 c) Selbst wenn der Kläger Ziff. 1 die Erfolgschancen als recht gering eingeschätzt
hätte, wäre die Einlegung des Einspruchs gegen den die streitgegenständlichen
Steuerbescheide daher vernünftig und deshalb hinreichend wahrscheinlich
gewesen.
4.
60 Die Höhe des ersatzfähigen, aufgrund eines Gesamtvermögensvergleichs
ermittelten Schadens des Klägers Ziff. 1 beläuft sich auf 903.105,74 Euro.
61
a) reiner Steuerschaden:
767.948,00 Euro
b) Zinsschaden:
135.657,74 Euro
c) abzgl. Kosten des Einspruchs: ./. 500,00 Euro
Schadensersatz:
903.105,74 Euro
62 a) Der reine Steuerschaden des Klägers Ziff. 1 beträgt 767.948,00 Euro.
63 Der kausale Schaden ist insofern entgegen der Ansicht des Beklagten nicht auf
den Anteil der Besteuerung des Veräußerungsgewinns aus den Jahren 2004,
2005 und 2006 beschränkt, der auf die bis zum 31.03.1999 entstandenen stillen
Reserven entfällt. Vielmehr hätte der bei pflichtgemäßem Hinweis vom Kläger Ziff.
1 jeweils eingelegte Einspruch nach Überzeugung der Kammer richtigerweise
dazu geführt, dass die Veräußerungsgewinne insgesamt nicht besteuert worden
wären. Der Wert der Anteile zum 31.03.1999 ist daher unerheblich für den
Schaden. Für den haftungsausfüllenden Ursachenzusammenhang zwischen
steuerberaterlicher Pflichtverletzung und Schaden ist nach § 287 ZPO
festzustellen, wie die Steuerfrage bei ordnungsgemäßem Handeln zugunsten des
Mandanten insofern richtig hätte entschieden werden müssen
(Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 4. Aufl., Rn. 632 und 635 mit
zahlreichen Nachweisen). Kommt es darauf an, welchen Ausgang ein Rechtsstreit
genommen hätte, wenn ein Rechtsbehelf ordnungsgemäß eingelegt und
begründet worden wäre, ist grundsätzlich entscheidend, wie das betreffende
Verfahren ohne den dem Berater zur Last fallenden Fehler nach Auffassung des
Regressgerichts richtigerweise hätte ausgehen müssen (BGH, Urteil vom
09.09.1999 - IX ZR 334/97, juris Rn. 19; BGH, Urteil vom 15.11.2007 - IX ZR 34/04,
juris Rn. 16).
64 aa) Der vom Kläger Ziff. 1 geltend gemachte Steuerschaden ist äquivalent und
adäquat kausal. Die Einsprüche gegen die Steuerbescheide für 2004, 2005 und
2006 hätten die Besteuerung der jeweiligen Veräußerungsgewinne in voller Höhe
offengehalten. Die Einspruchsverfahren hätten nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO bis
zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.07.2010 zu den
verbundenen Az. 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05 geruht. Denn die
Steuerbescheide waren insoweit nicht nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 oder Nr. 4
AO vorläufig ergangen. Richtigerweise hätte das Finanzamt anschließend die
Veräußerungsgewinne insgesamt steuerfrei gestellt:
65 (1) Hinsichtlich des auf die Besteuerung der bis zum 31.03.1999 entstandenen
stillen Reserven entfallenden Betrages ergibt sich dies bereits aufgrund der vom
Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Teilnichtigkeit des § 17 EStG in der
Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002. Denn bei Fortgeltung
der zuvor geltenden Beteiligungsquote von 25 % hätte der Kläger Ziff. 1 weder am
31.03.1999 noch bei der jeweiligen Veräußerung die Beteiligungsgrenze in den
jeweils vorangegangenen fünf Jahren überschritten.
66 (2) Richtigerweise wäre aber auch der darüberhinausgehende
Veräußerungsgewinn steuerfrei gestellt worden. Infolge der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zu den bis zur Absenkung der Beteiligungsgrenze auf
10 % durch das Steuerentlastungsgesetz entstandenen stillen Reserven sind auch
solche stillen Reserven steuerfrei zu stellen, die bis zur weiteren Absenkung auf
nur noch 1 % durch das Steuersenkungsgesetz zum 26.10.2000 entstanden
waren und bei Fortgeltung der vorherigen Rechtslage im Zeitpunkt der Verkündung
des Steuersenkungsgesetzes und im Veräußerungszeitpunkt steuerfrei hätten
realisiert werden können. Unstreitig waren die in den Veräußerungsgewinnen
realisierten Wertsteigerungen bereits im Zusammenhang mit der Börseneinführung
im Mai des Jahres 2000 und damit vor Verkündung des Steuersenkungsgesetzes
entstanden. Diese stillen Reserven waren entgegen der Ansicht des Beklagten bei
ihrer Entstehung nicht steuerverstrickt, sondern hätten bei Fortgeltung der zuvor
geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert werden können.
67 Denn nach der insofern maßgeblichen Beurteilung der Kammer als Regressgericht
zur Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einspruch wäre für die
wesentlichen Beteiligung in den letzten fünf Jahren im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz
1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes nicht einheitlich auf die
Beteiligungsgrenze nach der im Jahr der Veräußerung geltenden
Wesentlichkeitsgrenze gemäß § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG in der Fassung des
Steuerentlastungsgesetzes abzustellen, sondern für jeden Veranlagungszeitraum
gesondert auf die jeweils in diesem gültige Beteiligungsgrenze. Nach der
Übergangsvorschrift des § 52 Abs. 1 EStG ist das Gesetz in der Fassung des
Steuerentlastungsgesetzes und damit auch die auf 10 % herabgesetzte
Wesentlichkeitsgrenze erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999, nicht aber für
frühere Veranlagungszeiträume anwendbar. Für solche Veranlagungszeiträume
bleibt die Wesentlichkeitsgrenze von über 25 % maßgeblich. Die Kammer schließt
sich insofern der überzeugenden Wortlautargumentation des Bundesfinanzhofs im
Urteil vom 11.12.2012 - IX R 7/12 zur Auslegung des einfachen Rechts an.
68 (3) Im Ergebnis zu Unrecht macht der Beklagte geltend, diese Auslegung dürfe die
Kammer ihrer Beurteilung nicht zugrundelegen, weil die im Zeitpunkt der fiktiven
Einspruchsentscheidung geltende höchstrichterliche Rechtsprechung
einzubeziehen sei und der Bundesfinanzhof den veranlagungszeitraumbezogenen
Beteiligungsbegriff mit Urteil vom 01.03.2005 verworfen und dies insbesondere mit
nicht durch das Bundesverfassungsgericht aufgehobenen Urteilen vom
29.05.2008 - IX R 62/05 und vom 09.10.2008 - IX R 73/06 bestätigt habe.
69 Zwar ist die zum maßgeblichen Zeitpunkt geltende gefestigte höchstrichterliche
Rechtsprechung bei der schadensrechtlichen Betrachtung des Regressgerichts
einzubeziehen (BGH, Urteil vom 28.09.2000 - IX ZR 6/99). An einer solchen fehlt
es im vorliegenden Fall im Zeitpunkt der fiktiven Einspruchsentscheidung aber: Die
Urteile des Bundesfinanzhofs vom 01.03.2005 - VIII R 25/02, VIII R 92/03, in denen
er sich gegen einen veranlagungszeitraumbezogenen Beteiligungsbegriff und mit
ausführlicher Argumentation für die rückwirkende Anwendung der im Jahr der
Veräußerung geltende Beteiligungsgrenze ausgesprochen hatte, hat das
Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 07.07.2010 aufgehoben.
70 Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 29.05.2008 - IX R 62/05 bestätigt
entgegen der Behauptung des Beklagten nicht ausdrücklich die Entscheidungen
vom 01.03.2005; sie betrifft gerade nicht § 17 Abs. 1 EStG, sondern § 17 Abs. 2
Satz 4 EStG. Der Bundesfinanzhof stellt insofern auf eine
veranlagungszeitraumbezogene Betrachtungsweise ab und nimmt lediglich eine
Abgrenzung zur Entscheidung vom 01.03.2005 vor. In der Entscheidung des
Bundesfinanzhofs vom 09.10.2008 - IX R 73/06 ging es um Verträge über eine
Anteilsveräußerung vom Dezember 1998 wegen eines erst in 1999 erfolgten
Übergangs des wirtschaftlichen Eigentums. Der Bundesfinanzhof hat die
Maßgeblichkeit der im Zeitpunkt der Veräußerung geltenden Beteiligungsgrenze
bestätigt, ohne dies ausführlich zu begründen oder stille Reserven von der
Besteuerung auszunehmen. Zu berücksichtigen ist, dass auch gegen dieses Urteil
bis zum 20.04.2011 eine (dann eingestellte) Verfassungsbeschwerde (Az. 2 BvR
68/09) anhängig war. Die Einspruchsentscheidung wäre nach Überzeugung der
Kammer vor dem 20.04.2011 erfolgt. Aufgrund des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts vom 07.07.2010 wäre im Zeitpunkt der fiktiven
Einspruchsentscheidungen von einer Aufhebung auch der Entscheidung des
Bundesfinanzhofs vom 09.10.2008 auszugehen gewesen. Gefestigte
höchstrichterliche Rechtsprechung lag nicht vor.
71 (4) Nach dem veranlagungszeitraumbezogenen Beteiligungsbegriff hat der Kläger
Ziff. 1 die maßgeblichen Beteiligungsgrenzen nach der vor Verkündung des
Steuersenkungsgesetzes maßgeblichen Rechtslage nicht erreicht: Er war bis
einschließlich 1998 nicht mit über 25 % beteiligt und ab 01.01.1999 bis zur
jeweiligen Veräußerung mit unter 10 %. Folglich waren die maßgeblichen Grenzen
weder im Fünfjahreszeitraum vor Verkündung des Steuersenkungsgesetzes noch
im Fünfjahreszeitraum vor der jeweiligen Veräußerung unterschritten.
72 (5) Zur Schadensberechnung hat der Beklagte nicht bestritten, dass für die
Berechnung der auf die Veräußerungsgewinne entfallenden Steuer beim Kläger
Ziff. 1 aufgrund der Gesamthöhe der Einkünfte jeweils der Spitzensteuersatz von
45 % bzw. 42 % zugrundezulegen ist. Bei Berechnung unter Berücksichtigung des
maßgeblichen Spitzensteuersatzes und des Solidaritätszuschlages von 5,5 % der
festgesetzten Einkommensteuer ergeben sich keine geringeren Werte als vom
Kläger Ziff. 1 geltend gemacht: Er hätte
73 - bei Wegfall der nach dem Halbeinkünfteverfahren ermittelten
Veräußerungsgewinne von 840.780,00 Euro für das Jahr 2004 wegen des
Spitzensteuersatzes von 45 % 399.118,00 Euro weniger Steuern und
Solidaritätszuschlag bezahlen müssen,
74 - bei Wegfall der nach dem Halbeinkünfteverfahren ermittelten
Veräußerungsgewinne von 433.706,00 Euro für das Jahr 2005 wegen des
Spitzensteuersatzes von 42 % 192.175,00 Euro weniger Steuern und
Solidaritätszuschlag und
75 - bei Wegfall der nach dem Halbeinkünfteverfahren ermittelten
Veräußerungsgewinne von 398.681,00 Euro für das Jahr 2006 wegen des
Spitzensteuersatzes von 42 % 176.655,00 Euro weniger Steuern und
Solidaritätszuschlag.
76 Die Addition ergibt einen Steuerschaden von 767.948,00 Euro.
77 bb) Der ersatzfähige Schaden wird nicht durch die Vermögenslage begrenzt, die
sich für den Kläger Ziff. 1 aus dem Wegfall der Besteuerung der bis zum
Inkrafttreten des Steuerentlastungsgesetzes entstandenen stillen Reserven
ergeben hätte. Wegen der Unsicherheit über die Höhe der stillen Reserven liegt die
Offenhaltung der Besteuerung der gesamten Veräußerungsgewinne ebenso wenig
außerhalb des Schutzzwecks der Pflicht des Steuerberaters wie die daraus
resultierende Möglichkeit, dass der Mandant auch hinsichtlich nicht auf stille
Reserven entfallender Teile des Veräußerungsgewinns von
Rechtsprechungsänderungen während des Einspruchsverfahrens profitiert.
b)
78 Ferner ist dem Kläger Ziff. 1 ein Zinsschaden in Höhe von 135.657,74 Euro
entstanden.
79 Aufgrund der erfolgreichen Einsprüche gegen die streitgegenständlichen
Einkommensteuerbescheide wären die dem Kläger Ziff. 1 zustehenden
Erstattungsbeträge für die Jahre 2004 bis 2006 jeweils nach § 233a Absatz 3, §
238 AO verzinst worden. Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des
Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Absatz 2 AO). Die
Verzinsung endet mit dem Tag, an dem die Finanzverwaltung die
Einkommensteuerbescheide geändert hätte. Gemäß § 287 ZPO wird
angenommen, dass dies frühestens am 31.03.2011 gewesen wäre.
80 Zur Berechnung der Zinsen wird auf den insoweit unbestritten gebliebenen
Schriftsatz vom 25.01.2013 verwiesen. Demnach hätte der Kläger Ziff. 1 folgende
Zinsansprüche erworben:
81
- Für das Jahr 2004: 113.067,00 Euro
- Für das Jahr 2005:
41.056,00 Euro
- Für das Jahr 2006:
30.132,00 Euro
Insgesamt:
184.255,00 Euro
82 Auf diese Zinsen ist ein fiktiver Steuerabzug gemäß § 20 Absatz 1 Nr. 7 Satz 3
EStG in Verbindung mit § 52a Absatz 8 Satz 2 EStG vorzunehmen. Die
entgegenstehende Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 15.06.2010 - VIII R
33/07 ist durch die gesetzliche Neuregelung überholt (vgl. FG Münster, Urteil vom
16.12.2010 - 5 K 3626/03; Revision beim Bundesfinanzhof anhängig unter Az. VIII
R 1/11). Die Zinsen unterlagen im fiktiven Auszahlungszeitraum (Jahr 2011)
gemäß § 43 Absatz 1 Nr. 7, § 43a Absatz 1 Nr. 1 EStG einer Kapitalertragssteuer
von 25 % zzgl. 5,5 % Solidaritätszuschlag auf die anzusetzende Steuer (§ 4
Solidaritätszuschlaggesetz), insgesamt 26,375 % der Zinserträge. Dies ergibt
einen fiktiven Steuerabzug von 48.597,26 Euro.
83 Der Zinsschaden beträgt im Saldo 135.657,74 Euro.
c)
84 Im Rahmen des erforderlichen Gesamtvermögensvermögensvergleichs sind die
fiktiven Kosten für die Einlegung der Einsprüche abzuziehen. Nachdem die bis
dahin eingelegten Rechtsbehelfe nicht nach den Rahmengebühren, sondern nach
Zeitgebühren abgerechnet wurden, geht die Kammer gem. § 287 ZPO davon aus,
dass diese Abrechnungspraxis auch in diesem Fall fortgeführt worden wäre. Bei
einem Stundenhonorar von 90,00 Euro wären einschließlich Auslagen und
Mehrwertsteuer geschätzt Gebühren in Höhe von 500,00 Euro angefallen.
II.
85 Für den Kläger Ziff. 2 ist ein Anspruch auf Schadenersatz aus §§ 280 Abs. 1, 675,
611 BGB in Höhe von 686.552,48 Euro gegeben.
1.
86 Hinsichtlich Vertrag, Pflichtenlage und Pflichtverletzung ist die Ausgangslage
dieselbe wie beim Kläger Ziff. 1.
87 Auch für den Kläger Ziff. 2 wären das mit einer Einspruchseinlegung jeweils
verbundene Kostenrisiko im Misserfolgsfall gegenüber den Chancen im Erfolgsfall
so geringfügig gewesen, dass die Einlegung der Einsprüche selbst bei nicht allzu
hohen Erfolgsaussichten sinnvoll gewesen wäre und daher nach § 287 ZPO
festgestellt werden kann, dass schadenträchtige Vermögensdispositionen
vorlagen.
2.
88 Der Schaden des Klägers Ziff. 2 ist in Höhe von 686.552,48 Euro festzustellen. Er
setzt sich zusammen aus einem Steuerschaden in Höhe von 585.910,87 Euro,
einem fiktiven Zinsschaden in Höhe von 101.141,61 Euro abzüglich fiktiver Kosten
für das Einspruchsverfahren in Höhe von 500,00 Euro.
a)
89 Der reine Steuerschaden beträgt 585.910,87 Euro. Die bis zur Verkündung des
Steuersenkungsgesetzes vom 26.10.2000 eingetretenen Wertzuwächse waren
nicht steuerpflichtig. Der erzielte Verkaufspreis lag stets unter den Aktienkursen
des Jahres 2000, so dass die Wertzuwächse bereits bis dahin eingetreten waren.
90 Der Kläger Ziff. 2 hätte für das Jahr 2004 eine Steuerentlastung in Höhe von
22.924,43 Euro gehabt. Der Verlustrücktrag im Veranlagungszeitraum 2003 hätte
sich erhöht, so dass die veranlagte Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag in
Höhe von 136.538,85 Euro nicht angefallen wäre. Für den Veranlagungszeitraum
2005 hätte sich die Steuerlast um 369.045,15 Euro ermäßigt, für den
Veranlagungszeitraum 2006 um 57.402,44 Euro (wegen Einzelheiten wird auf die
insoweit unbestritten gebliebene Darstellung der Klage vom 30.03.2012, Seite 21
ff. verwiesen).
b)
91 Der Kläger Ziff. 2 hätte gemäß § 233a Absatz 3, § 238 AO entsprechend den
unbestritten gebliebenen Berechnungen im Schriftsatz vom 25.01.2013 wie folgt
Zinsen ziehen können:
92
- Für das Jahr 2003: 38.820,00 Euro
- Für das Jahr 2004:
6.510,00 Euro
- Für das Jahr 2005:
82.252,00 Euro
- Für das Jahr 2006:
9.792,00 Euro
Insgesamt:
137.374,00 Euro
93 Auf diese Zinsen ist ein fiktiver Steuerabzug gemäß § 20 Absatz 1 Nr. 7 Satz 3
EStG in Verbindung mit § 52a Absatz 8 Satz 2 EStG, § 4
Solidaritätszuschlaggesetz in Höhe von 26,375 % vorzunehmen. Dies entspricht
36.232,39 Euro.
94 Der Zinsschaden ergibt im Saldo 101.141,61 Euro.
c)
95 Abzuziehen sind ferner auch beim Kläger Ziff. 2 die fiktiven Kosten für die
Einlegung des Einspruchs, die ebenfalls gem. § 287 ZPO auf 500,00 Euro
geschätzt werden.
III.
96 Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Absatz 1 ZPO, die Entscheidung zur
vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 709 Satz 1 ZPO.