Urteil des LG Stuttgart vom 02.12.2015

materielle rechtskraft, abgrenzung, sicherheitsleistung, vollstreckung

LG Stuttgart Urteil vom 2.12.2015, 13 S 132/15
Genügt es für die zur Zulässigkeit der Klage und der materiellen Rechtskraft
eines Urteils erforderliche Individualisierbarkeit einer Kaufpreisforderung, wenn
der Kläger (Verkäufer) weder in der Klageschrift noch auf Hinweis des Gerichts
mitteilt, welcher Gegenstand verkauft wurde, sondern sich lediglich darauf
beruft, es gebe unter einer bestimmten Nummer eine Rechnung, die er aber nicht
vorlegen wolle?
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom
26.08.2015, Az. 4 C 1056/15, wird
zurückgewiesen
.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die vorläufige Vollstreckung
des Beklagten abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des
vollstreckbaren Betrages, es sei denn, dass der Beklagte vor Vollstreckung Sicherheit
in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet. Das in Ziffer 1 genannte
Urteil des Amtsgerichts Böblingen ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis zu 4.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Klägerin begehrt Kaufpreiszahlung nebst Zinsen sowie die Feststellung, dass
der Rechtsgrund der vorsätzlich begangen unerlaubten Handlung vorliegt.
1.
2 Der Beklagte bezog im Februar 2015 von der Klägerin Waren. Über diese
Warenlieferungen erstellte die Beklagte am 23.02.15 die Rechnung Nr. x... in Höhe
von 120,65 Euro und am 24.02.15 die Rechnung Nr. y… in Höhe von 3.481,25
Euro, nach dem unstreitig gebliebenen Vortrag der Klägerin jeweils unter Angabe
des Lieferdatums, der einzelnen gelieferten Artikel und der vereinbarten Preise.
3 Der Beklagte bezahlte die Rechnungen trotz Mahnung nicht.
4 Der Beklagte bezog die Waren unter der Vorspiegelung, er könne den Gegenwert
fristgerecht bezahlen, obwohl er damit zum Zeitpunkt der Bestellung schon nicht
mehr rechnen konnte, was er billigend in Kauf nahm.
5 Die Klägerin beantragt,
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1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.977,14 Euro nebst Zinsen in
Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 3.601,90 Euro ab dem
21.05.2015 und aus weiteren 347,60 Euro ab Klagzustellung zu bezahlen.
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2. Es wird festgestellt, dass auch der Rechtsgrund der vorsätzlich begangenen
unerlaubten Handlung vorliegt.
8 Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
9 Die Klägerin hat die bezeichneten Rechnungen - auch auf Anforderung des
Amtsgerichts - nicht vorgelegt.
2.
10 Das Amtsgericht hat die Klage durch unechtes Versäumnisurteil abgewiesen. Die
Klage sei nicht hinreichend substantiiert begründet worden. Weder sei in der Klage
dargelegt worden, welcher Kaufgegenstand zu welchem Preis verkauft worden
war, noch seien Rechnungen vorgelegt worden.
3.
11 Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung. Sie macht geltend, für die
Schlüssigkeit der Klage sei eine Vorlage der Rechnungen nicht erforderlich.
Solange der Vortrag unstreitig bleibe, genüge die Behauptung, dass die Urkunde
einen bestimmten Inhalt habe. Die in der Rechnung enthaltenen
Detailinformationen würden zur weiteren Aufklärung nichts beitragen. Es handle
sich dabei lediglich um die Angabe von Artikelnummern. Das Amtsgericht
überziehe die Anforderungen an die Substantiierung. Zur Untermauerung ihres
Vorbringens bezieht sich die Klägerin auf einen Hinweis des OLG Stuttgart in der
mündlichen Verhandlung vom 12.02.15 (Bl. 21, Anlage zum Protokoll vom 12.2.15,
dort unter 1 a)). Außerdem habe eine Vielzahl von Gerichten aufgrund
vergleichbaren Vortrags Versäumnisurteile ohne Bedenken erlassen.
12 Die Klägerin beantragt die Abänderung des Urteils des Amtsgerichts und im
Übrigen wie in erster Instanz.
13 Der Beklagte stellt keinen Antrag.
14 Nachdem die Kammer mit Hinweis vom 15.09.15 (Bl. 50 d. A.) auf ihre vorläufige
Ansicht hingewiesen hatte, sie halte den Streitgegenstand für hinreichend
bestimmt, hat sie in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.15 darauf
hingewiesen, dass sie nach Abschluss der Vorberatung Zweifel habe, ob der
klägerische Vortrag den Streitgegenstand individualisierbar beschreibt (Bl. 55 d.
A.), und der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.
15 Wegen der Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen des
angefochtenen Urteils gem. § 540 Abs. 1 ZPO ergänzend Bezug genommen.
Wegen der Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf die vorgelegten
Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
II.
16 Der form- und fristgerecht eingelegten und mit einer Begründung versehenen
Berufung der Klägerin bleibt der Erfolg versagt. Im Ergebnis zu Recht hat das
Amtsgericht die Klage im Wege eines unechten Versäumnisurteils abgewiesen.
1)
17 Die Klage ist unzulässig. Es fehlt an der bestimmten Angabe des Gegenstands
des erhobenen Anspruchs gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
a)
18 Für die bestimmte Angabe des Streitgegenstands kommt es grundsätzlich nicht
darauf an, ob der maßgebende Lebenssachverhalt bereits in der Klageschrift
vollständig beschrieben oder der Klageanspruch schlüssig und substantiiert
dargelegt worden ist; vielmehr ist es - entsprechend dem Zweck der
Klageerhebung, dem Schuldner den Willen des Gläubigers zur Durchsetzung
seiner Forderung zu verdeutlichen - im Allgemeinen ausreichend, wenn der
Anspruch als solcher identifizierbar ist (BGH, Urt. v. 11.02.2004, VIII ZR 127/03,
Rn. 6, Urt. v. 17.07.2003, I ZR 295/00, Rn.16, juris; Urt. v. 18.07.2000, X ZR 62/98,
Rn.17, juris).
b)
19 Der unstreitig gebliebene Vortrag der Klägerin genügt diesen Anforderungen nicht.
Der mit der Klage geltend gemachte Anspruch ist nicht identifizierbar.
20 Identifizierbar ist ein Anspruch, wenn der geltend gemachte Anspruch von anderen
Ansprüchen gleicher Art unterschieden werden kann. Der Prozessgegenstand
muss vom Gegenstand eines anderen Prozesses abgrenzbar sein (Roth in
Stein/Jonas, ZPO, 22.Aufl., 2008, § 253 Rn. 52; Foerste in Musielak/Voit, ZPO, 12.
Aufl., 2015, § 253 Rn. 26). Zweck der Zulässigkeitsvoraussetzung gem. § 253 Abs.
2 Nr. 2 ZPO ist es, sowohl für das Gericht als auch für den Schuldner klarzustellen,
welche Streitsache anhängig ist (Roth, a. a. O, § 253 Rn. 52). Dies ist nur dann der
Fall, wenn der Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis gem. § 308 ZPO
erkennbar abgegrenzt wird und sowohl Inhalt als auch Umfang der materiellen
Rechtskraft der Entscheidung gem. § 322 ZPO erkennbar sind (BGH, Urt. v.
14.10.1982, III ZR 126/81, Rn. 3, juris). Entgegen der Ansicht der Klägerin darf
diese Prüfung auch nicht auf einen möglichen Zweitprozess über denselben
Anspruch verlagert werden.
21 Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Die Klägerin gibt lediglich
an, dass der Beklagte von der Klägerin im Februar 2015 Waren gekauft und die
Klägerin dafür bestimmte Rechnungen gestellt habe. Diese Rechnungen legt die
Klägerin bewusst nicht vor, obwohl ihr das ohne Weiteres möglich wäre. Durch die
genannten Angaben wird der Anspruch nicht identifiziert, von anderen Ansprüchen
gleicher Art ist dieser nicht zu unterscheiden. Der Begriff der „Waren“ ist zu
unspezifisch und weit, als dass eine Abgrenzung von anderen Kaufgegenständen
gelingen könnte, auch die Angabe des Zeitraums „Februar 2015“ ist zu ungenau,
als dass eine Abgrenzung von anderen Einkäufen möglich wäre.
22 Auch die bloße Angabe von Rechnungen und deren Nummern hilft der Klägerin
nicht. Zu Unrecht verweist die Klägerin insoweit darauf, dass ihr Vortrag
unbestritten blieb. Die ordnungsgemäße Klagerhebung ist eine unverzichtbare
Prozessvoraussetzung und von Amts wegen zu prüfen. Die Kammer verkennt
nicht, dass die Prüfung von Amts wegen von der Amtsermittlung zu unterscheiden
ist. Die Prüfung von Amts wegen beschränkt sich auf den dem Gericht
vorliegenden und offenkundigen Prozessstoff. Bestehen aufgrund dessen
Bedenken, so hat das Gericht gem. § 139 ZPO darauf aufmerksam zu machen
und die Parteien aufzufordern, diese Bedenken zu entkräften (BGH Urt. v.
05.11.1975, VIII ZR 73/75). Bereits das Amtsgericht und auch die Kammer haben
darauf hingewiesen, dass sie angesichts des Akteninhalts die Individualisierbarkeit
des Anspruchs für fraglich halten und deshalb entweder ein konkreter Vortrag oder
zumindest die Vorlage der Rechnungen erforderlich sei. Denn die gem. § 253 Abs.
2 Nr. 2 ZPO gebotene Individualisierung der Ansprüche hätte grundsätzlich auch
durch die konkrete Bezugnahme auf Schriftstücke erfolgen können (BGH, Urt. v.
11.02.2004, VIII ZR 127/03 Rn. 6, juris; Urt. v. 17.07.2003, I ZR 295/00 Rn. 16,
juris). Wären in den Rechnungen, wie von der Klägerin behauptet, die einzelnen
Artikel - auch nur mit Artikelnummer - aufgeführt, hätte dem Erfordernis der
Individualisierbarkeit genügt werden können. Der Klägervertreter, der die
streitgegenständlichen Rechnungen in der mündlichen Verhandlung bei sich
führte, sah sich allerdings aus grundsätzlichen Erwägungen nicht in der Lage,
diesem Hinweis zu entsprechen.
23 Die Kammer will die Anforderungen an die Individualisierbarkeit des Anspruchs als
Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage nicht überspannen. Insbesondere im
Hinblick auf die materielle Rechtskraft eines Urteils ist eine gewisse
Individualisierung aber unabdingbar. Hier verschweigt die Klägerin dem Gericht -
ohne jede nachvollziehbare Begründung - den Vertragsgegenstand und ist nicht
einmal ansatzweise zu einer Konkretisierung bereit. Die Klägerin ist ersichtlich
(Schriftsatz vom 18.11.2015) der Ansicht, die wenigstens rudimentäre
Beschreibung des Kaufgegenstands oder ersatzweise Vorlage der Rechnungen
sei für sie in hohem Maße aufwendig und deswegen unzumutbar. Art und Umfang
des Aufwands legt sie jedoch nicht dar. Die Notwendigkeit der Festlegung der
Grenzen der materiellen Rechtskraft eines Urteils ist eine Wesentlichkeit des
Prozessrechts, auf die nicht leichtfertig verzichtet werden darf. Im vorliegenden
Rechtsstreit wäre eine wenigstens ansatzweise Individualisierung leicht möglich,
sie scheitert allein an der Mitwirkungsbereitschaft der Klägerin. Ihre statt dessen
gehaltenen umfangreichen Ausführungen zur Erforderlichkeit der Individualisierung
gehen weitgehend an der Rechtslage und den tatsächlichen Gegebenheiten des
Falles vorbei. Die von der Klägerin als überspannt bezeichneten Anforderungen an
die Individualisierung sind gerade nicht die der Kammer.
2)
24 Auch der Feststellungsantrag ist unzulässig gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Da die
Klägerin bereits die Forderung nicht hinreichend bestimmt bezeichnet (siehe dazu
unter 1.), ist auch der damit korrespondierende Feststellungsantrag, dass diese
Forderung auf dem Rechtsgrund der vorsätzlich begangene unerlaubten Handlung
beruhen solle, nicht bestimmt genug. Auf die Frage des Feststellungsinteresses
kommt es daher nicht an.
III.
25 Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
26 Die Revision wird zugelassen. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat in einem Fall
mit vergleichbarem Sachverhalt (19 U 173/14) laut Hinweisen in der mündlichen
Verhandlung vom 12.02.15 die Klage für zulässig erachtet. Außerdem trägt der
Klägervertreter vor, in einer Vielzahl von vergleichbaren Fällen, seien
Versäumnisurteile bereits erlassen worden. Zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts daher erforderlich.