Urteil des LG Stuttgart vom 11.12.2002

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LG Stuttgart Urteil vom 11.12.2002, 13 S 86/02
Neufestsetzung des Rückkaufswertes für eine Kapitallebensversicherung: Klauselersetzung nach Kündigung des Versicherungsvertrages
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Schorndorf vom 15.04.2002 (1 C 1279/01) wird
zurückgewiesen.
2. Der Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Berufungswert: 999,22 Euro
Tatbestand
1 Entfällt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Entscheidungsgründe
I.
2
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten bleibt in der Sache ohne Erfolg.
3
Der Beklagte ist aus Bereicherungsrecht verpflichtet, der Klägerin den Betrag von 999,22 Euro zu erstatten, nachdem ihm im Rahmen der 1996
geschlossenen und zum 30.06.2000 gekündigten Lebensversicherung die Prämie für Juli 2000 zurückgezahlt worden war, obwohl er dem
Lastschrifteinzug bereits widersprochen hatte. Dieser Sachverhalt ist unstreitig.
II.
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Die vom Beklagten hiergegen gerichtete Aufrechnung mit Gegenforderungen aus beendeter Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung ist
nicht begründet. Die Klägerin schuldet dem Beklagten über den mit 26.825,13 DM zur Auszahlung gebrachten Betrag hinaus keine weitere
Rückerstattung der auf die vorstehend genannte Versicherung geleisteten Prämien von insgesamt 74.726,60 DM.
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Die Berechnung des Rückkaufswerts der vom Beklagten gekündigten Versicherung ist nicht zu beanstanden, auch wenn sich die Parteien nicht
über die von der Klägerin hierzu herangezogenen Tabellenwerte ausdrücklich geeinigt haben. Das dem Beklagten zusammen mit dem
Versicherungsschein übersandte Informationsblatt "Garantiewerte", das auf die wirtschaftliche Nachteile eine frühzeitigen Kündigung hinweist
und die Rückkaufswerte in einer Tabelle darstellt, wurde nicht Vertragsbestandteil, denn die Klägerin hat weder im Versicherungsschein selbst
noch in den Allgemeinen Bedingungen für die Kapital-Lebensversicherung hierauf Bezug genommen. § 6 Ziff. 3 dieser Bedingungen enthält nur
die Feststellung, dass die Klägerin bei Kündigung der Versicherung gem. § 176 VVG den Rückkaufswert zu berechnen hat. Dieser Vorschrift
gemäß ist der Rückkaufswert nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik für den Schluss der laufenden Versicherungsperiode
als Zeitwert zu bestimmen. Zu konkreten Rückkaufswerten hingegen besagt die Klausel nichts.
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Ob die vorstehend wiedergegebene Vertragsbestimmung, die sich an der gesetzlichen Regelung orientiert, mangels Transparenz unwirksam ist
(vgl. dazu Urteil des Bundesgerichtshofs vom 09.05.2001 - Az.: IV ZR 121/00), spielt für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit keine Rolle.
Denn selbst wenn auch die von der Klägerin verwendete Klausel unwirksam sein sollte, hätte das nicht die Gesamtunwirksamkeit des Vertrags
gem. § 6 Abs. 3 AGBG zur Folge, sondern es wären gemäß Absatz 2 dieser Bestimmung zur Berechnung des Rückkaufswerts die gesetzlichen
Vorschriften und damit § 176 Abs. 3 und 4 VVG heranzuziehen, so wie es die beanstandete Klausel vorsieht.
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Die Abrechnung der Klägerin hält sich im Rahmen und in der Bandbreite der anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik. Den ihr mit
diesem unbestimmten Rechtsbegriff eröffneten Spielraum hat die Klägerin ausgefüllt und die insoweit bestehende Vertragslücke dadurch
geschlossen, dass sie im Dezember 2001 - der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 09.05.2001 folgend - im Wege des über § 172 Abs. 2
VVG eröffneten Treuhänderverfahrens § 6 ihrer Vertragsbedingungen geändert und transparenter gestaltet sowie zur Höhe des Rückkaufswertes
auf die dem Versicherungsschein beigefügte Tabelle verwiesen hat. Die Versicherungsnehmer wurden hierüber mit Schreiben vom 10.12.2001
informiert. Ob auch der Beklagte eine solche Änderungsmitteilung erhalten hat, was wegen der Kündigung des Vertrages zum 30.06.2000 eher
unwahrscheinlich ist, kann dahingestellt bleiben, da der Beklagte im vorliegenden Rechtsstreit durch Schriftsatz der Klägerin vom 26.08.2002 in
das Treuhänderverfahren einbezogen wurde.
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Die Klägerin hat entsprechend der geänderten Vertragsbedingungen den Rückkaufswert durch Verrechnung der Abschlusskosten im sog.
Zillmerverfahren zutreffend bestimmt. Entgegen der Auffassung des Beklagten wirkt sich die Lücke in den Vertragsbedingungen nicht
dahingehend aus, dass die bisherige Klausel zum Rückkaufswert ersatzlos zu streichen wäre. Vielmehr hat die Klägerin aufgrund der
Durchführung des Treuhänderverfahrens neue wirksame Bedingungen geschaffen, die zwei Wochen nach Zugang des Schriftsatzes vom
26.08.2002 wirksam geworden sind (§ 172 Abs. 3 Satz 2 VVG) und dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag rückwirkend zum
Vertragsbeginn zugrunde zu legen sind (vgl. dazu OLG Stuttgart VersR 2001, 1141 ff.). Dass hierbei die unterschiedlichen Interessen der
Versicherungspartner angemessen Berücksichtigung finden, wird durch Einschaltung eines unabhängigen Treuhänders und das ihm
vorbehaltene Bestätigungsrecht gewährleistet. Die Klägerin hat von dieser Ersetzungsbefugnis in zulässiger und wirksamer Weise Gebrauch
gemacht. Hieran ist der Beklagte gebunden.
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Dem steht nach Auffassung des erkennenden Gerichts nicht entgegen, dass im Zeitpunkt des Abschlusses des Treuhänderverfahrens der
streitgegenständliche Versicherungsvertrag bereits durch Kündigung beendet war. § 172 Abs. 2 VVG ist auch anwendbar, wenn wie im
vorliegenden Fall die Änderung der Geschäftsbedingungen erst nach Zugang der Kündigung vorgenommen wird. Dies gilt vorliegend um so
mehr, als sich der streitgegenständliche Versicherungsvertrag noch im Abwicklungsstadium befindet, denn die Ausgleichsansprüche der
Parteien sind streitig und noch nicht vollständig erledigt.
10 Unabhängig von der Klauselersetzung im Treuhänderverfahren ist zur Abrundung darauf hinzuweisen, dass der Abrechnungsmodus der
Klägerin auch dem hypothetischen Willen der Parteien entspricht und deshalb über die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung die
Regelungslücke gleichfalls geschlossen werden kann. Auf der Grundlage der im vorliegenden Rechtsstreit eingeholten gutachterlichen
Äußerungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vom 23.10. und 28.11.2002 ist davon auszugehen, dass der Beklagte bei
umfassender Kenntnis der Wirkungen einer vorzeitigen Kündigung den Lebensversicherungsvertrag gleichermaßen abgeschlossen, sich
insbesondere mit dem von der Klägerin angewandten Zillmerverfahren, wonach der Versicherungsnehmer bereits in den ersten
Versicherungsjahren voll mit den Abschlusskosten belastet wird, einverstanden erklärt hätte. Der Sachverständige hat bestätigt, dass dieses
Abrechnungsverfahren, das auch vom Bundesgerichtshof für zulässig erachtet wird, als anerkannte Regel der Versicherungsmathematik gilt, bei
Lebensversicherern allgemein üblich ist und die Verkehrssitte wiedergibt, die bei Bestimmung des hypothetischen Parteiwillens als objektiver
Maßstab zu berücksichtigen ist. Dass der Beklagte nach Kündigung des Vertrags eine lineare Verteilung der Abschlusskosten auf die
Gesamtlaufzeit fordert, ist zwar verständlich, aber mit Treu und Glauben nicht vereinbar, da er in Kenntnis des Informationsblattes "Garantiewerte"
den Versicherungsschein widerspruchslos entgegengenommen hat (vgl. dazu § 5 VVG). Ein vom Abrechnungsverfahren der Klägerin
abweichender Wille, bezogen auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses, kann demnach nicht festgestellt werden.
11 Das neben der Aufrechnung im ersten Rechtszug geltend gemachte Zurückbehaltungsrecht wegen unzureichender Spezifizierung des
Rückkaufswerts ist im zweiten Rechtszug angesprochen, aber nicht mehr weiter ausgeführt worden, weshalb hierüber nicht zu entscheiden war.
III.
12 Nach allem war die Berufung des Beklagten mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO als unbegründet zurückzuweisen. Die Entscheidung über
die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO; im Hinblick auf die Neufassung des § 133 GVG ist die analoge
Anwendung des § 708 Nr. 10 ZPO veranlasst.
13 Gründe, die Revision gem. § 543 ZPO zuzulassen, liegen nicht vor, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und weder die Fortbildung
des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Revisionsgerichts erforderlich machen.