Urteil des LG Stuttgart vom 10.09.2008

LG Stuttgart: öffentliche bekanntmachung, sinn und zweck der norm, absicht, grad des verschuldens, ergänzung, veröffentlichung, wichtiger grund, grobe fahrlässigkeit, unterlassen

LG Stuttgart Beschluß vom 10.9.2008, 21 O 408/05
Musterverfahren in kapitalmarktrechtlicher Streitigkeit: Zulässigkeit eines Antrags auf Erweiterung eines Vorlagebeschlusses
Leitsätze
1. Für die Einführung neuer Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG während des Musterverfahrens bedarf es keines Erweiterungsantrags
beim Prozessgericht und auch keiner Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG, soweit und solange sich das bereits im
ursprünglichen Vorlagebeschluss festgehaltene Feststellungsziel nicht ändert.
2. Zulässiger Gegenstand eines Erweiterungsantrags gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG kann nur die Erweiterung des Vorlagebeschlusses um ein
weiteres Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG sein, das entscheidungserheblich sein muss, nicht jedoch die Erweiterung oder
Bekräftigung isolierter Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG.
3. Bei Anträgen auf Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1 Kap-MuG muss das Prozessgericht zunächst prüfen, ob es bei der
begehrten Erweiterung um ein neues Feststellungsziel geht oder lediglich um die Einführung weiterer Streitpunkte.
4. Bei der Abgrenzung zwischen Feststellungsziel und Streitpunkten i.S.d. KapMuG liegt nahe, die Parallele zum Streitgegenstandsbegriff der ZPO
zu ziehen und das Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG mit dem jeweiligen Antrag, die Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG
mit dem zur Begründung des Antrags formulierten Lebenssachverhalt zu vergleichen.
5. Ein Vorlagebeschluss gemäß § 4 Abs. 1 KapMuG kann - ebenso wie ein Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 KapMuG - mehrere
Feststellungsziele definieren.
6. Auf unzulässige Anträge auf Erweiterung eines Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG ist § 2 Abs. 1 KapMuG nicht entsprechend
anwendbar. Einer öffentlichen Bekanntmachung bedarf es in diesem Fall nicht.
Tenor
1. Der Antrag der Kläger vom 22.08.2008 auf Erweiterung des Vorlagebeschlusses des Gerichts vom 03.07.2006 in Gestalt des berichtigten
Beschlusses vom 20.07.2006 wird zurückgewiesen.
2. Eine öffentliche Bekanntmachung des Erweiterungsantrags der Kläger vom 22.08.2008 entsprechend § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ist nicht
veranlasst.
Gründe
1
A. Sachverhalt und Anträge
2
Die Kläger machen im Ausgangsverfahren Schadensersatzansprüche aus § 37 b Abs. 1 WpHG wegen einer nach ihrer Auffassung verspäteten
Ad-hoc-Mitteilung über das vorzeitige Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Prof. […] S. im Jahr 2005 geltend.
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Das Gericht erließ am 03.07.2006 einen Vorlagebeschluss gemäß § 4 Abs. 1 KapMuG zur Herbeiführung einer Entscheidung des OLG Stuttgart
über das Feststellungsziel gleichgerichteter Musterfeststellungsanträge. Der Beschluss wurde am 20.07.2006 berichtigt. Auf Antrag der Kläger
und der Beklagten wurden dem Oberlandesgericht verschiedene Fragen zur Entscheidung vorgelegt, wobei es sich um einen Antrag der Kläger
und um verschiedene Hilfsanträge der Beklagten handelte. Unter anderem heißt es in dem Vorlagebeschluss:
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„Dem Oberlandesgericht Stuttgart wird das Verfahren vorgelegt, um im Rahmen des Feststellungsziels der Rechtzeitigkeit der ad-hoc-
Mitteilung über das Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten Prof. […] S. über folgende Anträge
(Streitpunkte) zu entscheiden:
5
Es wird festgestellt,
6
1. dass spätestens seit Mitte Mai 2005 oder jedenfalls zu irgendeinem späteren Zeitpunkt vor dem 28.07.2005, 10:32 Uhr, insbesondere
seit dem 15.7.2005, jedenfalls seit dem 19.7.2005 oder jedenfalls spätestens seit dem 27.7.2005 durch die Vorgänge im
Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Herrn Prof. […] S., eine
Insiderinformation im Sinne des § 37 b Abs. 1 WpHG entstanden ist und die Beklagte diese nicht unverzüglich veröffentlicht hat.
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8
6. weiter hilfsweise, dass die Beklagte weder vorsätzlich noch grob fahrlässig die rechtzeitige Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung
zum vorzeitigen Ausscheiden ihres Vorstandsvorsitzenden unterlassen hat.
9
…“
10 Der 9. Senat des OLG Stuttgart entschied durch Beschluss vom 15.02.2007 ohne Beweisaufnahme, dass durch die Vorgänge im Zusammenhang
mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten eine Insiderinformation im Sinne des § 37 b Abs.
1 WpHG erst am 28.7.2005 um ca. 9:50 Uhr entstanden sei und dass die Musterbeklagte diese unverzüglich veröffentlicht habe (OLG Stuttgart,
Beschluss vom 15.02.2007 - 901 Kap 1/06).
11 Der BGH hob diesen Beschluss jedoch durch Entscheidung vom 25.02.2008 auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an den 20. Zivilsenat des OLG Stuttgart zurück (BGH, Beschluss vom 25.02.2008 - II ZB 9/07). Nach der BGH-Entscheidung muss
durch Beweisaufnahme geklärt werden, ob der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Beklagten (wie von der Beklagten vorgetragen) im
Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat aufgrund einer umfassenden Nachfolgeregelung aus dem Amt ausgeschieden ist oder ob er (wie vom
Musterkläger behauptet) einseitig den Rücktritt von seinem Amt als Vorstandsvorsitzender erklärt hat. Bei einer einseitigen definitiven
Amtsniederlegung habe zweifellos bereits zu diesem Zeitpunkt eine Insiderinformation i.S. der §§ 13, 15 WpHG vorgelegen, deren unverzügliche
Veröffentlichung die Musterbeklagte nach § 37 b Abs. 1 WpHG unterlassen hätte. Sollte das Oberlandesgericht jedoch nach Beweisaufnahme zu
dem Ergebnis kommen, dass zwischen den Beteiligten eine einvernehmliche Aufhebung der Bestellung, ggf. in Verbindung mit einer
gleichzeitigen Nachfolgeregelung, beabsichtigt bzw. vereinbart war, die zur Wirksamkeit zwingend einer Beschlussfassung durch den gesamten
Aufsichtsrat bedurfte, so sei das Oberlandesgericht aus Rechtsgründen nicht gehindert, den Musterentscheid wiederum mit der gleichlautenden
inhaltlichen Feststellung wie in der Entscheidung vom 15.02. 2007 zu treffen (BGH Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O., Umdruck Seite 9 f. Rn. 15,
18).
18).
12 Dem Gericht ist bekannt, dass der 20. Senat des Oberlandesgerichts Stuttgart im Rahmen der mündlichen Verhandlung ab dem 19.09.2008
Beweis erheben wird.
13 Die Kläger meinen, die „Feststellungen“ durch den BGH (damit dürften die Ausführungen in den Gründen der Entscheidung vom 25.02.2008
gemeint sein) träfen zwar zu, griffen jedoch im Ergebnis zu kurz. Die Kläger beantragen nunmehr mit Schriftsatz vom 22.08.2008 eine
Entscheidung über ihren Antrag auf Ergänzung des Vorlagebeschlusses des Gerichts vom 03.07.2006. Sie beantragen die Ergänzung „im
Rahmen des Feststellungsziels zu 1 um folgende Streitpunkte“:
14
1. Es wird festgestellt, dass die Befassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten mit der Absicht von Herrn Prof. […] S., vor Ablauf des
Zeitraums seiner Bestellung (31.12.2008) aus dem Amt des Vorstandsvorsitzenden der Musterbeklagten auszuscheiden, bereits am
17.05.2005, jedenfalls jedoch zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem 28.07.2005 insbesondere ab dem 01.06.2005 bzw. ab dem 18.07.2005
eine veröffentlichungspflichtige Insiderinformation gem. § 13 WpHG war.
15
2. Es wird festgestellt, dass die Musterbeklagte es mindestens leichtfertig unterlassen hat, die in Ziffer 1 bezeichnete Insiderinformation
unverzüglich im Sinne des § 15 WpHG zu veröffentlichen.
16 Der Beklagten wurde mit Verfügung vom 25.08.2008 Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
17 Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 05.09.2008,
18
den Antrag zurückzuweisen.
19 Die Beklagte ist der Auffassung, der Antrag sei unzulässig, weil das Landgericht Stuttgart der falsche Adressat für den Erweiterungsantrag sei.
Der Antrag sei im laufenden Musterverfahren vor dem OLG Stuttgart zu stellen. Es fehle die Erweiterungsbefugnis, weil ein neues
Feststellungsziel betroffen sei. Im Übrigen fehle es an der Entscheidungserheblichkeit und Sachdienlichkeit.
20 Im Übrigen wird hinsichtlich des weiteren Vortrags auf die vorgelegten Schriftsätze und Anlagen verwiesen.
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B. Unzulässigkeit der Ergänzungsanträge
22
I. Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Musterkläger
23 Der gestellte Erweiterungsantrag Ziff. 1 ist unzulässig.
24 Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 KapMuG liegen insoweit nicht vor, weil es an einem zulässigen Gegenstand der Erweiterung des
Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 fehlt. Der Erweiterungsantrag war daher in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Satz 2
KapMuG durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen.
25 Nach Auffassung des Gerichts kann zulässiger Gegenstand eines Erweiterungsantrags gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG nur die Erweiterung des
Vorlagebeschlusses um ein weiteres Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG sein, das entscheidungserheblich sein muss, nicht
jedoch die Erweiterung oder Bekräftigung isolierter Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG (vgl. dazu unten 1.). Die Auslegung des
Erweiterungsantrags Ziff. 1 ergibt jedoch, dass es dem Antragsteller dabei insbesondere um die Betonung bestimmter isolierter Streitpunkte geht,
die bereits im Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 berücksichtigt und vom Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses mit umfasst sind (vgl.
dazu unten 2.). Soweit der gestellte Erweiterungsantrag Ziff. 1 ein eigenständiges neues Feststellungsziel enthält, ist die begehrte Feststellung im
Übrigen nicht entscheidungserheblich. Eine Klärung der im Erweiterungsantrag aufgeworfenen Fragen ist, soweit diese Fragen
entscheidungserheblich sind, bereits durch eine Entscheidung über das Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 im
Rahmen des Musterverfahrens zu erwarten (vgl. dazu unten 3.).
26 1. Zulässiger Gegenstand der Erweiterung eines Vorlagebeschlusses gemäß § 13 KapMuG
27 a. Gesetzeswortlaut
28 Das KapMuG differenziert zwischen sogenannten Feststellungszielen und Streitpunkten. „Feststellungsziele“ eines Musterverfahrens können
gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nur das Vorliegen oder Nichtvorliegen anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender
Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen sein. Streitpunkte sind dagegen gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG die tatsächlichen und
rechtlichen Umstände, die der Begründung des Feststellungsziels dienen und die im Musterfeststellungsantrag anzugeben sind. So bilden etwa
die einzelnen Punkte, weshalb nach Auffassung der Kläger eine Kapitalmarktinformation fehlerhaft sein soll oder weshalb ihre Veröffentlichung
nach Auffassung der Kläger ab einem bestimmten Zeitpunkt pflichtwidrig unterlassen worden sein soll, verschiedene Streitpunkte, nicht aber
unterschiedliche Streitgegenstände und damit keine unterschiedlichen Feststellungsziele (so z.B. für die verschiedenen Angriffe gegen
Prospektangaben LG Frankfurt, Beschluss vom 11.07.2006 - 3/7 OH 1/06, 3-7 OH 1/06, zit. nach Juris Rn. 16).
29 Nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 KapMuG können die Beteiligten des Musterverfahrens „im Rahmen des Feststellungsziels des
Musterverfahrens“ bis zum Abschluss des Musterverfahrens ergänzend die „Feststellung weiterer Streitpunkte“ begehren. Der Wortlaut des § 13
Abs. 1 KapMuG spricht dafür, dass es bei der Ergänzung um die Einführung weiterer „Streitpunkte“ gehen soll. Über die Erweiterung des
Vorlagebeschlusses muss dann, wie sich aus § 13 Abs. 2 KapMuG ergibt, das Prozessgericht entscheiden, das den Vorlagebeschluss erlassen
hat.
30 b. Literaturmeinungen
31 In der Literatur wird aber der Gesetzeswortlaut des § 13 Abs. 1 KapMuG für „verunglückt“ gehalten (Reuschle, Das Kapitalanleger-
Musterverfahrensgesetz, Einführung S. 41). Der Wille des Gesetzgebers komme im Gesetzeswortlaut „nur rudimentär“ zum Ausdruck
(Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar, München 2007, § 13 Rn. 1). In der Tat wirft der Normwortlaut zahlreiche Fragen auf.
32 Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung besteht ein Regelungsdefizit, weil der eindeutige Wortlaut des § 13 KapMuG die Einführung
weiterer Feststellungsziele nicht erfasse. An die Einführung weiterer Feststellungsziele habe der Gesetzgeber bei der endgültigen, im Rahmen
des Gesetzgebungsverfahrens veränderten und in einem beschleunigten Verfahren verabschiedeten Norm nicht gedacht. Der
Erweiterungsantrag müsse sich auf weitere Streitpunkte im Rahmen des Feststellungsziels beziehen, wobei der Rechtsausschuss des
Bundestages übersehen habe, dass es Fallkonstellationen gebe, in denen die Einführung von Streitpunkten ohne die Erweiterung des
Feststellungsziels um zusätzliche Teilfragen unmöglich sei. Weitere Feststellungsziele müssten und könnten im Wege der Änderung des
Streitgegenstands des Musterverfahrens gemäß § 263 ZPO eingeführt werden (Reuschle, in Hess/Reuschle/Rimmelspacher, Kölner Kommentar
KapMuG, § 13 Rn. 5, 6, 10, 13, 25).
33 Nach anderer Auffassung beruht der Hinweis in § 13 Abs. 1 KapMuG auf die „weiteren Streitpunkte“, die nach dem Normwortlaut festgestellt
werden sollen, auf einem offenkundigen Versehen des Gesetzgebers. Das ergebe sich sowohl aus den Gesetzesmaterialien als auch aus der
Stellung des § 13 KapMuG innerhalb der Systematik des Musterverfahrens. Soweit es im Rahmen des Feststellungsziels lediglich um die
Untermauerung der anspruchsbegründenden oder anspruchsausschließenden Tatbestandsvoraussetzungen durch weitere Streitpunkte geht,
bedürfe es keines Vorlagebeschlusses durch das Prozessgericht. Vielmehr könnten Musterkläger, Musterbeklagter und die Beigeladenen im
Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht innerhalb des Feststellungsziels neue Streitpunkte darlegen. § 13 Abs. 1 KapMuG ermögliche
jedoch die Erweiterung des Verfahrensgegenstandes zur Einführung weiterer Feststellungsziele, d.h. die „Erweiterung des Feststellungsziels“
(Fullenkamp, in Vorwerk, KapMuG Kommentar a.a.O. § 13 Rn. 5, 6, 8; wohl auch Plaßmeier, NZG 2005, 609 ff., 612; für die Anwendung des § 13
KapMuG zur Erweiterung um weitere Feststellungsziele auch Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 101 und wohl auch Varadinek/Asmus, ZIP 2008,
1309 ff., 1312 f.).
34 Maier-Reimer, der sich ebenfalls für eine „korrigierte Lesart“ des § 13 KapMuG ausspricht, differenziert noch weiter: Die Einführung weiterer
Streitpunkte innerhalb desselben Feststellungsziels sei (im Gegensatz zur Einführung neuer Feststellungsziele) ohne Erweiterung des
Vorlagebeschlusses möglich, setze aber voraus, dass das Prozessgericht dies für sachdienlich hält. Dies müsse informell vom Oberlandesgericht
mit dem Prozessgericht geklärt werden (Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 101).
35 c. Auslegung des § 13 Abs. 1 KapMuG
36 Nach Auffassung des Gerichts bedarf es für die Einführung neuer Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG während des Musterverfahrens
keines Erweiterungsantrags beim Prozessgericht und auch keiner Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG, soweit und
solange sich das bereits im ursprünglichen Vorlagebeschluss festgehaltene Feststellungsziel nicht ändert. Es kann bei § 13 Abs. 1 KapMuG nur
um die Ergänzung des Musterverfahrens durch Entscheidung über ein weiteres Feststellungsziel gehen, nicht um die „Feststellung weiterer
Streitpunkte“ (im Ergebnis wie hier wohl Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 13 Rn. 6). Das ergibt sich aus folgenden
Erwägungen:
37 aa. Bereits der Regierungsentwurf zum KapMuG (BT-Drs. 15/5091, S. 1 ff.) differenzierte in § 1 Abs. 1 und Abs. 2 RegE-KapMuG zwischen
Feststellungszielen und Streitpunkten, wobei der Begriff des Feststellungsziels in der damaligen Fassung des § 1 Abs. 1 noch nicht legaldefiniert
war. Auch nach der damaligen Fassung sollte Ziel eines Musterverfahrens die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens einer
anspruchsbegründenden oder anspruchsausschließenden Voraussetzung sein, wie der Wortlaut der §§ Abs. 1 und 4 Abs. 1 RegE-KapMuG zeigt
(BT-Drs. 15/5091, S. 5 f., 8). An der Beschreibung der Zielrichtung des Musterverfahrens, nämlich der für mehrere Ausgangsverfahren
verbindlichen Klärung eines Feststellungsziels, hat sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nichts geändert.
38 Die Möglichkeit der Erweiterung des Gegenstandes des Musterverfahrens war bereits im Regierungsentwurf vorgesehen. § 13 RegE-KapMuG
sah folgendes vor (vgl. BT-Drs. 15/5091, S. 8):
39
„Die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens weiterer anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender
Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 können der Musterkläger und der Musterbeklagte begehren, soweit das Oberlandesgericht
dies für sachdienlich erachtet. Satz 1 gilt entsprechend, wenn mindestens zehn Beigeladene eine derartige Feststellung begehren.“
40 Die gemäß § 13 RegE-KapMuG als Gegenstand der Ergänzung vorgesehene Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens (weiterer)
Anspruchsvoraussetzungen entspricht der heutigen Definition des Feststellungsziels in § 1 Abs. 1 Satz KapMuG, abgesehen von der in der
Gesetzesfassung noch hinzugekommenen Möglichkeit, auch Rechtsfragen als Feststellungsziele des Musterverfahrens zu definieren.
41 Die Veränderung des Wortlauts des § 13 KapMuG gegenüber dem Regierungsentwurf beruht auf einer Empfehlung des Rechtsausschusses des
Bundestages (vgl. dazu Reuschle, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, S. 146; Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O.
§ 13 Rn. 5). Aufgrund der Empfehlungen des Rechtsausschusses wurde in § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG durch den Klammerzusatz klargestellt, was
als Feststellungsziel im Sinne des Gesetzes anzusehen sei. Wie sich aus dem Bericht des Rechtsausschusses ergibt, ging es bei der Änderung
des § 13 KapMuG um eine „Ausrichtung“ der Formulierung an den legaldefinierten Begriffen „Feststellungsziel“ und „Streitpunkt“ in § 1 Abs. 1
Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 KapMuG (BT-Drs. 15/5695, Seite 24). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der beabsichtigten Anpassung der
Formulierung an die in § 1 Abs. 1 und Abs. 2 des Gesetzes eingefügten Begriffe auch eine inhaltliche Veränderung oder gar Neukonzeption des
Musterverfahrens verbunden sein sollte (wie hier Fullenkamp, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 13 Rn. 5).
42 bb. Die Möglichkeit zur Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele, wie sie im ursprünglichen § 13 RegE-KapMuG bereits
vorgesehen war, sollte nach der Begründung des Regierungsentwurfs einer umfassenden Erledigung der (bei den Prozessgerichten
anhängigen) Rechtsstreite dienen. Bei § 13 RegE-KapMuG handle es sich um eine zu den §§ 263 ff. ZPO spezielle Möglichkeit der Erweiterung
des Streitgegenstandes des Musterverfahrens. Daneben sei ein Rückgriff auf die Vorschriften der Klageänderung im Musterverfahren
ausgeschlossen (Regierungsbegründung, BT-Drs. 15/5091, S. 28).
43 Bei Überlegungen zum Sinn und Zweck des § 13 KapMuG ist auch die Sperrwirkung des Musterverfahrens gemäß § 5 KapMuG zu
berücksichtigen (vgl. zum Folgenden Reuschle, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, Einführung S. 36). Mit Erlass des (ersten)
Vorlagebeschlusses ist gemäß § 5 KapMuG die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 7 KapMuG auszusetzenden
Verfahren unzulässig. Durch diese Sperrwirkung soll ausgeschlossen werden, dass ein Prozessgericht durch einen Vorlagebeschluss ein
Musterverfahren zu derselben oder zu einer weiteren Anspruchsvoraussetzung einleitet, wenn bereits ein Musterverfahren für die
auszusetzenden Rechtsstreite eingeleitet worden ist. Parallel laufende Musterverfahren sollen aus prozessökonomischen Gründen vermieden
werden. Stellt sich nach Erlass des Vorlagebeschlusses aufgrund weiteren Vortrags heraus, dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer
weiteren anspruchsbegründenden oder anspruchsausschließenden Voraussetzung (also eines neuen Feststellungsziels i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 1
KapMuG) in einem der Ausgangsrechtsstreite entscheidungserheblich ist, so soll - solange das Musterverfahren noch andauert - nach
entsprechender Erweiterung des Vorlagebeschlusses (durch das Prozessgericht) eine einheitliche und gemäß § 16 Abs. 1 KapMuG bindende
Feststellung auch zu diesem neuen Feststellungsziel erreicht werden, und zwar im noch anhängigen Musterverfahren.
44 Das spricht für die Interpretation, dass § 13 KapMuG unter den dort genannten Voraussetzungen eine Erweiterung des Musterverfahrens um
weitere Feststellungsziele ermöglicht, z.B. wenn sich während eines Ausgangsverfahrens vor dem Prozessgericht herausstellt, dass das
Vorliegen oder Nichtvorliegen weiterer Anspruchsvoraussetzungen entscheidungserheblich ist, dass die entsprechende Feststellung für mehrere
Verfahren von Bedeutung ist und dass die Erweiterung sachdienlich ist. Ob dabei die Einführung neuer Feststellungsziele zusätzlich noch davon
abhängt, dass die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1, Abs. 2 KapMuG und des § 4 Abs. 1 KapMuG erfüllt sind, kann im vorliegenden Fall
dahingestellt bleiben.
45 cc. Die Definition des Verfahrensgegenstandes eines Musterverfahrens nach dem KapMuG, die sich aus dem systematischen Zusammenhang
der §§ 1, 4 und 14 KapMuG erschließen lässt, ist ein weiteres Argument für die hier vertretene Auffassung. § 13 Abs. 1 KapMuG spricht zwar von
der „Feststellung weiterer Streitpunkte“. Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags ist jedoch gemäß § 1 Abs. 1 KapMuG nicht etwa die
Feststellung von Streitpunkten, die in § 1 Abs. 2 KapMuG legaldefiniert sind als tatsächliche und rechtliche Umstände, die zur Begründung des
Feststellungsziels dienen und die deshalb (nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 KapMuG allein als Begründungselemente) im Antrag angegeben
werden müssen. Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags ist vielmehr die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens
anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen als Feststellungsziel. Das ergibt
sich aus der Legaldefinition des Begriffs „Feststellungsziel“ und dem eindeutigen Wortlaut des § 1 Abs. 1 KapMuG. Dementsprechend ist
Gegenstand des Musterentscheids nicht etwa die Feststellung einzelner Streitpunkte (verstanden im Sinne der Definition in § 1 Abs. 2 KapMuG),
sondern die Entscheidung „über das Feststellungsziel“. Das ergibt sich aus § 14 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 KapMuG.
46 Gemäß § 16 Abs. 1 S. 2 KapMuG ist der Musterentscheid der Rechtskraft insoweit fähig, als über den (in der Norm nicht ausdrücklich definierten)
„Streitgegenstand des Musterverfahrens“ entschieden ist. Der Musterentscheid entfaltet gemäß § 16 Abs. 1 Satz 3 KapMuG Bindungswirkung
unabhängig davon, ob ein einzelner Streitpunkt von einem Beigeladenen (also Beteiligtem eines der ausgesetzten Verfahren, vgl. §§ 7 Abs. 1, 8
Abs. 3 KapMuG) selbst im Ausgangsrechtsstreit ausdrücklich vorgetragen wurde oder nicht. Der Streitgegenstand des Musterverfahrens wird
zwar in der Tat durch die Feststellungsziele und die Streitpunkte, also den zugrundeliegenden tatsächlichen Lebenssachverhalt, gemeinsam
umschrieben (so Vollkommer, in Hess / Reuschle / Rimmelspacher, Kölner Kommentar KapMuG a.a.O. § 4 Rn. 88; für die Erstreckung der
Bindungswirkung auch auf die behandelten Streitpunkte Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 103). Insoweit liegt nahe, die Parallele zum
Streitgegenstandsbegriff der ZPO zu ziehen und das Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG mit dem jeweiligen Antrag, die
Streitpunkte im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG mit dem zur Begründung des Antrags formulierten Lebenssachverhalt zu vergleichen. Das ändert
jedoch nichts daran, dass im Musterverfahren nicht über die Feststellung einzelner Streitpunkte, d.h. einzelner Elemente des zur Begründung
unterbreiteten Lebenssachverhalts, entschieden wird, wenn diese Streitpunkte nicht selbst als Feststellungsziele formuliert sind. Entschieden
wird vielmehr im Ergebnis über die vorgelegten Anträge, die als Feststellungsziele gemäß § 1 Abs. 1 KapMuG formuliert sind, d.h. etwa über
entscheidungserhebliche Rechtsfragen oder Anspruchsvoraussetzungen. Die zur Begründung unterbreiteten Elemente des Lebenssachverhalts
(also die Streitpunkte) sind in der Regel gerade nicht mit den Anspruchsvoraussetzungen identisch.
47 Die „Feststellung weiterer Streitpunkte“, von der in § 13 Abs. 1 KapMuG wörtlich die Rede ist und die nach dem Normwortlaut als Gegenstand
einer Ergänzung des Vorlagebeschlusses in Betracht kommen soll, würde im Übrigen einen systematischen Fremdkörper im Rahmen des bereits
laufenden Musterverfahrens darstellen. Über den vorangegangenen Vorlagebeschluss soll nur das als Feststellungsziel definierte Vorliegen
bestimmter entscheidungserheblicher Anspruchsvoraussetzungen festgestellt werden, der Tenor des Musterentscheids gemäß § 14 KapMuG
dürfte sich also letztlich auf die im Vorlagebeschluss definierten Feststellungsziele beschränken (so auch Wolf, in Vorwerk/Wolf, KapMuG a.a.O. §
14 Rn. 6). Soweit eine Anspruchsvoraussetzung, die als Feststellungsziel definiert ist, alternativ durch mehrere Streitpunkte erfüllt werden kann,
reicht es nach dem Sinn und Zweck des KapMuG, eine bindende und für mehrere Ausgangsverfahren maßgebliche Entscheidung über diese
Anspruchsvoraussetzung selbst herbeizuführen. Daher dürfte es z.B. bei mehreren alternativ zur Begründung geeigneten Streitpunkten
ausreichen, wenn das Oberlandesgericht im konkreten Fall das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzung bereits aufgrund der im Verfahren
gewonnenen Erkenntnisse über einen einzelnen Streitpunkt bejahen kann und dies im Tenor ausspricht (ebenso im Ergebnis Wolf, in
Vorwerk/Wolf, KapMuG a.a.O. § 14 Rn. 8), sofern dem nicht Besonderheiten der Ausgangsverfahren entgegenstehen (vgl. Maier-Reimer, ZGR
2006, 79 ff., 104). Eine Feststellung des zugrunde liegenden Sachverhalts durch das Oberlandesgericht im Tenor des Musterentscheids scheint
nach der Konzeption des Gesetzgebers nicht vorgesehen und auch vom Sinn und Zweck der Norm nicht erforderlich. Käme man aufgrund des
Normwortlauts des § 13 Abs. 1 KapMuG nun zu dem Ergebnis, dass im Falle einer Ergänzung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 KapMuG
ausnahmsweise losgelöst vom eigentlichen Feststellungsziel auch einzelne Streitpunkte festgestellt werden müssten, dann könnte dies darauf
hinauslaufen, dass der lediglich zur Begründung des Feststellungsziels dienende Lebenssachverhalt im Tenor des Musterentscheids
festgehalten werden müsste. Dies dürfte nicht dem Inhalt eines Musterentscheids nach den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprechen.
48 Wäre die „Feststellung weiterer Streitpunkte“ im Sinne des § 1 Abs. 2 KapMuG im Rahmen eines Erweiterungsantrags gemäß § 13 Abs. 1
KapMuG ein zulässiges Feststellungsziel, dann bestünde zudem die Gefahr, dass über einen solchen Antrag die gewollte, in § 16 Abs. 1
KapMuG geregelte Bindungswirkung des Musterentscheids bezogen auf das ursprüngliche Feststellungsziel faktisch unterlaufen wird (z.B. bei
einem Erweiterungsantrag nach Erlass des Musterentscheids, aber noch vor dessen Rechtskraft).
49 dd. Außerdem hat der Gesetzgeber das Musterverfahren als Fortführung der ersten Tatsacheninstanz angesehen (Gegenäußerung der
Bundesregierung, BT-Drs. 15/5091, S. 49; vgl. Vorwerk, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 1 Rn. 27). Es besteht grundsätzlich die
Möglichkeit, den Sachvortrag im Musterverfahren zu ergänzen: Auf das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht sind gemäß § 9 Abs. 1
KapMuG grundsätzlich die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der ZPO entsprechend
anzuwenden. Der Musterkläger und die Musterbeklagte können jedenfalls im Musterverfahren weiter vortragen (wie hier Parigger, in
Vorwerk/Wolf, a.a.O. § 9 Rn. 14), ganz unabhängig von der Frage, ob der Sachverhalt, der im Ausgangsverfahren vorgetragen wurde, im
Musterverfahren durch neu vorzulegende, vorbereitende Schriftsätze aufzubereiten ist (so Parigger, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O.,
§ 9 Rn. 13). Für das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht schreibt § 14 Abs. 1 S. 1 KapMuG eine mündliche Verhandlung vor. Nach
Auffassung von Parigger soll während des Musterverfahrens durch das Oberlandesgericht darauf hingewirkt werden, dass ungenügende
Angaben ergänzt werden und „alle Erklärungen abgegeben und unter Beweis gestellt werden, die für den Inhalt des Feststellungsziels erheblich
sind“ (Parigger, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 9 Rn. 24). Dies entspricht dem Gedanken des § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO. Der
Gesetzgeber ging zudem davon aus, dass auch die Beigeladenen im Verfahren vor dem Oberlandesgericht den Vortrag des Musterklägers oder
des Musterbeklagten schriftsätzlich ergänzen können. Das ergibt sich aus § 10 KapMuG. Eine etwaige Beschränkung des Verfahrensstoffs oder
der Beweiserhebung auf diejenigen Streitpunkte und Beweismittel, die im Musterfeststellungsantrag genannt wurden, kommt im KapMuG nicht
zum Ausdruck.
50 Wenn aber die Möglichkeit zur Ergänzung des Sachvortrags während des Musterverfahrens besteht, kann dies nur bedeuten, dass die im
Rahmen des Musterverfahrens ggf. zu klärenden tatsächlichen Umstände im Sinne von Streitpunkten gemäß § 1 Abs. 2 KapMuG als Vorfragen
zur Entscheidung über das Feststellungsziel im Sinne des § 1 Abs. 1 KapMuG nicht etwa durch den Vorlagebeschluss des Prozessgerichts
endgültig festgelegt, begrenzt oder gleichsam „eingefroren“ sind (vgl. auch dazu Vorwerk, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O. § 1 Rn.
26).
51 Ein Erweiterungsbeschluss, der lediglich weitere Streitpunkte enthielte, erscheint deshalb weder notwendig noch zweckmäßig. Könnte das
Prozessgericht durch Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG entscheiden, dass noch bestimmte weitere, erst nach Beginn des
Musterverfahrens vorgetragene Sachverhaltselemente (im Sinne von Streitpunkten) zu berücksichtigen seien, eröffnete dies den Klägern u.U.
sogar die Möglichkeit, durch taktisch gestellte Erweiterungsanträge die gemäß § 9 Abs. 1 KapMuG auch im Musterverfahren anwendbaren
Präklusionsvorschriften der ZPO zu umgehen. Jedenfalls wäre dann klärungsbedürftig, ob das Oberlandesgericht trotz Präklusion des neuen
Sachvortrags im Rahmen des Musterverfahrens gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG an die Erweiterung des Vorlagebeschlusses gebunden ist oder ob
die Bindung an den Erweiterungsbeschluss die Anwendung der Präklusionsvorschriften unberührt lässt.
52 ee. Der Einbeziehung weiterer Feststellungsziele in ein anhängiges Musterverfahren über eine Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß §
13 Abs. 1, Abs. 2 KapMuG steht auch nicht entgegen, dass in der Literatur vereinzelt die Auffassung vertreten wird, ein Musterfeststellungsantrag
könne immer nur ein Feststellungsziel zum Gegenstand haben, und bei unterschiedlichen Feststellungszielen seien mehrere Musterverfahren
durchzuführen (Gundermann/Härle, VuR 2006, 457 ff., 459). Das Gericht teilt diese Auffassung nicht. Vielmehr kann ein Vorlagebeschluss gemäß
§ 4 Abs. 1 KapMuG mehrere Feststellungsziele definieren (wie hier Maier-Reimer, ZGR 2006, 79 ff., 91). Das ergibt sich erstens aus dem Wortlaut
des § 1 Abs. 1 S. 1 KapMuG, der nicht von einer einzigen Anspruchsvoraussetzung, sondern von Anspruchsvoraussetzungen spricht, zweitens
aus dem Sinn und Zweck des § 13 KapMuG, der eine umfassende Erledigung der Rechtsstreite dienen soll (vgl. Regierungsbegründung, BT-Drs.
15/5091, S. 28), und lässt sich drittens auch mit einer entsprechenden Anwendung des § 260 ZPO über § 3 Abs. 1 EGZPO begründen. Für einen
Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 Abs. 2 KapMuG kann nichts anderes gelten.
53 2. Prüfung des Erweiterungsantrags der Kläger
54 a. Vom Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses umfasste Streitpunkte
55 Nach der hier vertretenen Auffassung muss das Prozessgericht bei Anträgen auf Erweiterung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1
KapMuG zunächst prüfen, ob es bei der begehrten Erweiterung um ein neues Feststellungsziel geht oder lediglich um die Einführung weiterer
Streitpunkte. Durch den Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Musterkläger werden im Wesentlichen Streitpunkte konkretisiert, die nach dem Verständnis
des Gerichts bereits vom Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 mit umfasst sind. Insoweit ist der Erweiterungsantrag unzulässig.
56 Die Formulierung des „Ergänzungsantrags“ Ziff. 1 im Schriftsatz der Kläger vom 22.08.2008 lässt zwei wesentliche Elemente erkennen, nämlich
zum einen „die Befassung des Aufsichtsrats“ der Beklagten mit der bereits im Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 bezeichneten Absicht des
ehemaligen Vorstandsvorsitzenden, vorzeitig auszuscheiden, zum andern das Begehren, es solle festgestellt werden, dass diese Befassung des
Aufsichtsrats ab einem bestimmten Zeitpunkt eine veröffentlichungspflichtige Insiderinformation gewesen sei. Die Kläger tragen selbst zur
Begründung ihres Erweiterungsantrags im Schriftsatz vom 22.08.2008 auf Seite 4 vor, dass sie die Befassung des Aufsichtsrats mit der Absicht
des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, vorzeitig auszuscheiden, als „weitere Streitpunkte“ ansehen, die vom Feststellungsziel Ziff.
1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 umfasst seien. Auf Seite 6 der Antragsschrift vom 22.08.2008 formulieren die Kläger, die
Feststellungen des BGH im Beschluss vom 25.02.2008 seien zwar zutreffend, griffen aber „gemessen am Feststellungsziel … zu kurz“, weil im
Rahmen des Feststellungsantrags Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 „sämtliche Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen
Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden … auf ihre Qualität als Insiderinformation zu untersuchen“ seien. Diese Ausführungen
lassen den Schluss zu, dass die Kläger selbst ihren Erweiterungsantrag Ziff. 1 nicht als neues Feststellungsziel, sondern als Konkretisierung von
Streitpunkten verstanden wissen wollen.
57 Grundsätzlich musste bereits der ursprüngliche Musterfeststellungsantrag die öffentliche Kapitalmarktinformation hinreichend konkretisieren,
deren unterlassene Veröffentlichung den Schadensersatzanspruch ausgelöst haben soll (Vorwerk, in Vorwerk/Wolf, KapMuG Kommentar a.a.O.,
§ 1 Rn. 30). In dem Feststellungsziel nach Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 ist allgemein davon die Rede, durch die „Vorgänge im
Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Herrn Prof. […] S.“ sei ab spätestens
Mitte Mai 2005 nach Auffassung der Musterkläger eine veröffentlichungspflichtige Kapitalmarktinformation entstanden. Unter diese „Vorgänge“
als veröffentlichungspflichtige Kapitalmarktinformation lässt sich - abstrakt - sowohl die Tatsache oder die Absicht des Ausscheidens selbst als
auch die „Befassung“ des Aufsichtsrats der Beklagten mit dieser Tatsache oder Absicht subsumieren. Schon aus den Gründen des
Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006, insbesondere zum Feststellungsziel Ziff. 1, ergibt sich, dass insbesondere die Gespräche des ehemaligen
Vorstandsvorsitzenden der Beklagten am 12.05.2005 mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Musterbeklagten und die Information weiterer
Aufsichtsratsmitglieder in der Folgezeit, die spätere Befassung des Präsidialausschusses des Aufsichtsrats am 27.07.2005 und des
Aufsichtsrates selbst am folgenden Tag zu den tatsächlichen Umständen gehören, die von den Musterklägern als Streitpunkte vorgetragen
wurden. Diese Streitpunkte wurden bereits bei Erlass des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 berücksichtigt und dort ausdrücklich erwähnt.
58 Die Befassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten mit der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, zu einem in der
Zukunft liegenden Zeitpunkt vorzeitig aus seinem Amt auszuscheiden, und die verschiedenen Stadien der Gespräche mit Mitgliedern des
Aufsichtsrates über diese Absicht, können im Hinblick auf etwaige Ansprüche der Musterkläger gem. § 37b Abs. 1 WpHG als eines von mehreren
denkbaren Elementen der (zunehmenden) Konkretisierung einer Information über nicht öffentlich bekannte Umstände i.S.d. § 13 Abs. 1 WpHG
gesehen werden. Bereits Pläne, Vorhaben und Absichten einer Person können zwar veröffentlichungspflichtige Insiderinformationen im Sinne
von § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG sein. Bei einer zukunftsbezogenen Information (wie etwa der Absicht des einvernehmlichen Ausscheidens) kann es
sich aber nur dann um eine konkrete Information im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG und damit eine Insiderinformation handeln, wenn mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden darf, dass sie in Zukunft eintreten werde, und wenn sie darüber hinaus (bereits)
kursrelevant ist (vgl. BGH, Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O. - Umdruck Seite 11 Rn. 20). Damit ist jedoch die nunmehr bezeichnete Befassung
des Aufsichtsrats nur ein „Teilausschnitt“ der tatsächlichen Umstände, die bereits im Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 als „Vorgänge im
Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden“ bezeichnet sind. Mit der bloßen „Befassung des
Aufsichtsrats“ mit der Absicht des vorzeitigen Ausscheidens ist damit kein neues, eigenständiges Feststellungsziel verbunden.
59 Auch hinsichtlich des konkreten Zeitraums der relevanten „Vorgänge“ ergibt sich aus dem Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Musterkläger keine
Erweiterung des bisherigen Feststellungsziels gemäß Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses, denn dieser erstreckt sich bereits allgemein auf „Vorgänge“
ab Mitte Mai 2005, während Gegenstand des Erweiterungsantrags Ziff. 1 die Befassung des Aufsichtsrats ab dem 17.05.2005 sein soll.
60 Das Gericht geht davon aus, dass bereits aufgrund des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 im Musterverfahren sämtliche (im Vorlagebeschluss
näher bezeichneten) Umstände im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der
Musterbeklagten (jedenfalls die sich aus dem Vorlagebeschluss vom 3.7.2006 und dem vorausgegangenen Vortrag der Beteiligten ergebenden
Streitpunkte) daraufhin überprüft werden, ob diese Umstände dazu führen, dass im Zusammenhang mit den Absichten des ehemaligen
Vorstandsvorsitzenden zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Insiderinformation im Sinne des § 37 b Abs. 1 WpHG bzw. § 13 Abs. 1 WpHG in der
im Jahr 2005 geltenden Fassung entstanden ist. Soweit die Musterkläger also die Rechtsauffassung vertreten, aufgrund der „Befassung des
Aufsichtsrats“ der Musterbeklagten mit der Absicht des vorzeitigen Ausscheidens des Vorstandsvorsitzenden sei zu einem bestimmten Zeitpunkt
eine Veröffentlichungspflicht gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG entstanden, wurden die damit aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen
bereits aufgrund des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt. Das Gericht geht davon aus,
dass diese Fragen durch den Musterentscheid gemäß § 4 Abs. 1 KapMuG geklärt werden.
61 Der Musterkläger bemängelt in der Begründung seines Antrags auf Ergänzung gemäß § 13 KapMuG, dass die Feststellungen des
Oberlandesgerichts in der Entscheidung vom 15.02.2007 (901 Kap 1/06) bzw. des Bundesgerichtshofs im Beschluss vom 25.02.2008 (II ZB 9/07)
im Ergebnis gemessen am Feststellungsziel des Feststellungsantrags Ziff. 1 zu kurz griffen (Seite 6 des Erweiterungsantrags vom 22.08.2008).
Inwieweit diesem Einwand gegen die bisherige Verfahrensweise oder Schwerpunktsetzung im Rahmen des Musterverfahrens nachgegangen
wird, muss jedoch dem Oberlandesgericht vorbehalten bleiben.
62 b. Kein neues eigenständiges Feststellungsziel
63 Dem Erweiterungsantrag Ziff. 1 der Kläger vom 22.08.2008 fehlt im Übrigen ein vom Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom
03.07.2006 abgrenzbares neues, eigenständiges Feststellungsziel.
64 Nach dem Wortlaut des gestellten Erweiterungsantrags der Kläger soll festgestellt werden, dass und ggf. ab welchem Zeitpunkt „die Befassung
des Aufsichtsrats“ (mit der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, vorzeitig auszuscheiden) selbst als
veröffentlichungspflichtige Insiderinformation zu qualifizieren ist. Selbst wenn man davon ausginge, dass beim Feststellungsziel Ziff. 1 des
Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 schwerpunktmäßig die Tatsache oder Absicht des vorzeitigen Ausscheidens des ehemaligen
Vorstandsvorsitzenden der Beklagten (und jedenfalls nicht schwerpunktmäßig die Befassung des Aufsichtsrats) als veröffentlichungspflichtige
Insiderinformation zu prüfen ist, erstreckt sich die Formulierung des Feststellungsziels Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses doch auch auf die
Befassung des Aufsichtsrats mit dieser Thematik. Wenn aufgrund des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 festgestellt werden soll, ob und ggf.
wann „durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden“ des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden „eine“
Insiderinformation im Sinne des § 37b Abs. 1 WpHG entstanden ist, so ist damit nicht näher eingegrenzt, ob es sich bei dieser Insiderinformation
um das vorzeitige Ausscheiden des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden (oder um dessen interne Absicht dazu) handelt oder (schon) um die
Befassung des Aufsichtsrats als Vorstufe.
65 3. Fehlende Entscheidungserheblichkeit
66 Selbst wenn man die Frage nach der Befassung des Aufsichtsrats als ein eigenständiges und als ein neues Feststellungsziel werten müsste, das
neben dem Feststellungsziel Ziff. 1 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 im Musterverfahren geprüft werden solle, wäre der
Erweiterungsantrag Ziff. 1 vom 22.08.2008 unzulässig. Denn die Einführung eines neuen Feststellungsziels durch Ergänzung des
Vorlagebeschlusses würde gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG die Entscheidungserheblichkeit dieses weiteren Feststellungsziels voraussetzen. Daran
fehlte es jedoch nach derzeitigem Stand des Verfahrens, soweit es den Klägern nunmehr auf die (zusätzliche) Feststellung ankommt, neben
(oder unabhängig von) der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden zum vorzeitigen Ausscheiden sei (auch) „die Befassung“ des
Aufsichtsrats mit dieser Absicht seit 17.05.2005 eine gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG veröffentlichungspflichtige Insiderinformation gewesen.
67 a. Situation bei Fehlen einer einseitigen definitiven Amtsniederlegung
68 Der BGH hat in der Entscheidung vom 25.02.2008 ausgeführt, dass nur bei gegenseitigem Einvernehmen zwischen dem Gesamtaufsichtsrat und
dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten dessen jederzeitiges Ausscheiden als Vorstandsmitglied verbunden mit der Bestellung
eines Amtsnachfolgers (am 28.07.2005) ohne weiteres möglich war und (in diesem Fall) eines zustimmenden Beschlusses des
Gesamtaufsichtsrats gemäß §§ 108, 84 Abs. 1, 2 AktG bedurfte. Nachdem aus formalen Gründen eine Beschlussfassung in der
Aufsichtsratssitzung am 28.07.2005 nicht möglich gewesen wäre, wenn auch nur ein einziges Mitglied des Aufsichtsrats der Beschlussfassung
an diesem Tag widersprochen hätte, ließ der BGH ausdrücklich unbeanstandet, dass nach der Würdigung des Oberlandesgerichts Stuttgart in
der Entscheidung vom 15.02.2007 ein verständiger Anleger (im Hinblick auf die Frage der notwendigen Wahrscheinlichkeit der Realisierung der
Absichten) zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass (bis zur Beschlussfassung an dem Tag) noch offen war, ob der Aufsichtsrat sofort zu einer
Entscheidung im Sinne des Vorschlags kommen würde oder ob die Thematik vertagt würde (BGH, Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O., Umdruck
Seite 13, Rn. 26).
69 Steht nach Durchführung des Musterverfahrens durch Musterentscheid des Oberlandesgerichts auf den Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 fest,
dass allein „durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden“ des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden seit Mitte Mai
2005, jedenfalls vor dem 28.07.2005 noch keine (hinreichend konkretisierten) tatsächlichen Umstände entstanden sind, die damals bereits die
Qualität einer nach § 15 WpHG veröffentlichungspflichtigen Insiderinformation i.S.d. § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG erreichten, dann ist auch nicht
ersichtlich, aus welchen Gründen die Befassung des Aufsichtsrats mit diesen dann nicht veröffentlichungspflichtigen Absichten hätte gemäß § 15
Abs. 1 WpHG (zuvor) veröffentlicht werden müssen; es würde dann an einer veröffentlichungspflichtigen Insiderinformation und am
pflichtwidrigen Unterlassen als Anspruchsvoraussetzungen des § 37 b Abs. 1 WpHG fehlen. Auch aus der Entscheidung des BGH vom
25.02.2008 (a.a.O.), die zum vorliegenden Rechtsstreit ergangen ist, ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass in Erwägung zu ziehen wäre,
dass bereits die bloße (abstrakte) Befassung des Aufsichtsrats mit der Thematik als Tatsache (unabhängig vom Konkretisierungsgrad oder der
Realisierungswahrscheinlichkeit der Zukunftspläne) hätte veröffentlicht werden müssen.
70 Die Kläger meinen, dass (allein) die bezeichnete Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden bereits vor der Aufsichtsratssitzung am
28.07.2005 als Insiderinformation anzusehen war (etwa ab einem bestimmten Zeitpunkt der Befassung einzelner Aufsichtsratsmitglieder oder
des Gesamtgremiums, z.B. wegen angeblich stillschweigenden Einverständnisses einzelner Mitglieder mit der bevorstehenden personellen
Umbesetzung, wie von den Klägern auf Seite 7 ff. des Schriftsatzes vom 22.08.2008 angedeutet). Wird dies vom Oberlandesgericht in einem
künftigen Musterentscheid auf den Vorlagebeschluss vom 03.07.2006 so festgestellt, und wird weiter im Rahmen der Feststellungsziele Ziff. 1
und Ziff. 3 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 festgestellt, dass diese Insiderinformation hätte frühzeitiger veröffentlicht werden müssen als
tatsächlich geschehen, dann ist derzeit nicht erkennbar, weshalb es für Ansprüche der Musterkläger gem. § 37 b Abs. 1 S. 1 WpHG noch auf die
Frage ankommen sollte, ob neben der Absicht des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden zum vorzeitigen Ausscheiden auch die Befassung des
Aufsichtsrats mit dieser Absicht hätte veröffentlicht werden müssen.
71 b. Situation bei einseitiger Amtsniederlegung
72 Zur fehlenden Entscheidungserheblichkeit des Erweiterungsantrags Ziff. 1 vom 22.08.2008 käme man auch, wenn sich im Musterverfahren
ergeben sollte, dass der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Beklagten (bereits vor der Aufsichtsratssitzung am 28.07.2005) sein Amt durch
einseitige, definitive Erklärung niedergelegt hat. Die Wirksamkeit einer einseitigen Amtsniederlegung würde den Zugang der Erklärung bei einem
Aufsichtsratsmitglied voraussetzen, wobei es für das Wirksamwerden nicht darauf ankommt, ob die Amtsniederlegung auf einen wichtigen Grund
gestützt wird und ob im konkreten Fall ein wichtiger Grund objektiv vorgelegen hätte (BGH, Urteil vom 08.02.1993 - II ZR 58/92, BGHZ 121, 257 ff.;
vgl. auch BGH Urteil vom 14.07.1980 - II ZR 161/79, BGHZ 78, 82 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.02.2007, a.a.O. Rn. 84; wie hier Hüffer,
AktG Kommentar, 8. Aufl. München 2008, § 84 Rn. 36). Wäre es im Mai 2005 - wie vom Musterkläger behauptet - zu einer wirksamen einseitigen
Amtsniederlegung gekommen, so hätte bereits ab diesem Zeitpunkt eine Insiderinformation vorgelegen, deren unverzügliche Veröffentlichung
dann von der Beklagten unterlassen worden wäre (BGH, Beschluss vom 25.02.2008, a.a.O. Umdruck Seite 9 Rn. 15). Für die Haftung der
Beklagten gemäß § 37 b Abs. 1 WpHG wäre dann unerheblich, ob und ggf. wann nach einem etwaigen Zugang der Amtsniederlegungserklärung
bei einem Aufsichtsratsmitglied (auch) die übrigen Aufsichtsratsmitglieder damit befasst worden sind.
73
II. Erweiterungsantrag Ziff. 2 der Kläger
74 Der Erweiterungsantrag Ziff. 2 vom 22.08.2008 erfüllt mangels Entscheidungserheblichkeit und mangels Sachdienlichkeit, im Übrigen auch
wegen Fehlens eines eigenständigen neuen Feststellungsziels nicht die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 KapMuG.
75 1. Fehlende Entscheidungserheblichkeit und Sachdienlichkeit
76 Der Erweiterungsantrag Ziff. 2 bezieht sich auf den Grad des Verschuldens bei der - nach Auffassung der Kläger pflichtwidrig unterlassenen -
rechtzeitigen Veröffentlichung der „in Ziffer 1“, also im Erweiterungsantrag Ziff. 1 des Schriftsatzes vom 22.08.2008 bezeichneten
Insiderinformation. Nachdem jedoch der Erweiterungsantrag Ziff. 1 aus den genannten Gründen unzulässig ist, fehlt für eine isolierte Vorlage des
Erweiterungsantrags Ziff. 2 die Grundlage. Die isolierte Vorlage ist nicht sachdienlich.
77 Außerdem entspräche das im Antrag genannte Feststellungsziel des „mindestens leichtfertigen“ Unterlassens der Veröffentlichung weder einer
anspruchsbegründenden noch einer anspruchsausschließenden Voraussetzung der im Ausgangsverfahrens geltend gemachten
Schadensersatzansprüche gemäß § 37 b Abs. 1 WpHG. Auch in § 37 b Abs. 2 WpHG ist nicht von „mindestens leichtfertigem“ Unterlassen die
Rede. Vielmehr sind Ansprüche gemäß § 37 b Abs. 2 WpHG ausgeschlossen, wenn der Emittent nachweist, dass die Unterlassung nicht auf
Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruht.
78 2. Kein „weiteres“ Feststellungsziel
79 Es kann dahingestellt bleiben, ob der Begriff der Leichtfertigkeit mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen ist (vgl. Löwisch, in Staudinger, BGB
Kommentar, 2004, § 276 Rn. 92 mit Hinweis auf die Verwendung des Begriffs in § 435 HGB), und ob der Erweiterungsantrag Ziff. 2 abweichend
vom Wortlaut so verstanden werden soll, dass der Beklagten mindestens grobe Fahrlässigkeit in Bezug auf die in Feststellungsziel Ziff. 1 des
Vorlagebeschlusses umschriebene unterlassene Veröffentlichung vorzuwerfen sei. Denn selbst wenn der Erweiterungsantrag so ausgelegt
werden könnte, fehlte es - mit Blick auf Feststellungsziel Ziff. 6 des Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 - bei einem „modifizierten“
Erweiterungsantrag Ziff. 2 an einem für die Ergänzung des Vorlagebeschlusses gemäß § 13 Abs. 1 KapMuG erforderlichen „weiteren“ (neuen)
Feststellungsziel. Bei pflichtwidrig unterlassener Veröffentlichung der Insiderinformation ergäbe sich bereits aufgrund einer Entscheidung des
Oberlandesgerichts zu Feststellungsziel Ziff. 6 des Vorlagebeschlusses, ob sich die Beklagte exkulpieren kann. Die formulierten
Feststellungsziele wären im entscheidungserheblichen Umfang materiell identisch, wenn auch das Feststellungsziel Ziff. 6 des
Vorlagebeschlusses vom 03.07.2006 negativ, das Feststellungsziel Ziff. 2 des Erweiterungsantrags positiv formuliert ist. Einer Erweiterung im
Sinne von § 13 KapMuG bedarf es nicht.
80
C. Verfahrensfragen
81
I. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
82 Die Entscheidung über die Zurückweisung des Erweiterungsantrags konnte nach Anhörung der Beklagten (analog § 1 Abs. 2 S. 4 KapMuG)
durch Beschluss entsprechend § 13 Abs. 2, Abs. 3 i.V.m. § 1 Abs. 3 S. 2 KapMuG ergehen. Einer mündlichen Verhandlung bedurfte es gemäß §
128 Abs. 4 ZPO i.V.m. § 3 Abs. 1 EGZPO nicht, zumal der Erweiterungsantrag erst nach mündlicher Verhandlung im Ausgangsverfahren gestellt
wurde (vgl. Kruis, in Hess/Reuschle/Rimmelspacher, Kölner Kommentar a.a.O. § 1 Rn. 252; ebenso LG Frankfurt, Beschluss vom 11.07.2006 -
3/7 OH 1/06, 3-7 OH 1/06, zit. nach Juris, Rn. 23, 24; a.A. Reuschle, Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, S. 31).
83
II. Keine öffentliche Bekanntmachung
84 Nachdem die beiden Ergänzungsanträge als unzulässig zurückzuweisen waren, bedarf es keiner öffentlichen Bekanntmachung der gestellten
Ergänzungsanträge. Dies wird durch Ziffer 2 des Tenors der Entscheidung lediglich klargestellt.
85 § 13 KapMuG schreibt eine vom Prozessgericht veranlasste öffentliche Bekanntmachung des eingegangenen Antrags über die Erweiterung des
Vorlagebeschlusses nicht vor. Nach dem Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 KapMuG und nach der Gesetzessystematik dürfte diese Vorschrift
jedoch bei Ergänzungsanträgen gemäß § 13 KapMuG entsprechend anzuwenden sein. Allerdings schreibt § 2 Abs. 1 KapMuG eine
Veröffentlichung im elektronischen Bundesanzeiger unter der Rubrik „Klageregister“ nur bei zulässigen Musterfeststellungsanträgen vor.
Jedenfalls bei unzulässigen Ergänzungsanträgen besteht kein Bedürfnis, die Unterbrechungswirkung des § 3 KapMuG durch Bekanntmachung
des Erweiterungsantrags herbeizuführen.