Urteil des LG Siegen vom 02.12.2009

LG Siegen (wiedereinsetzung in den vorigen stand, widerruf, beschwerde, verteidiger, bewährung, stpo, frist, psychischer zustand, zustellung, wiedereinsetzung)

Landgericht Siegen, 10 Qs 115/09
Datum:
02.12.2009
Gericht:
Landgericht Siegen
Spruchkörper:
2. gr. Strafkammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 Qs 115/09
Schlagworte:
Wiedereinsetzung; Doppelzustellung; Widerruf der Strafaussetzung zur
Bewährung; Absehen vom Widerruf aus Gesundheitsgründen
Normen:
StGB § 56 f, StPO § 44, StPO § 311 Abs. 2, StPO § 145 a Abs. 3
Leitsätze:
Zur Wiedereinsetzung in die Frist zur sofortigen Beschwerde gegen den
Widerruf der Strafausetzung zur Bewährung bei Versäumung der
Beschwerdefrist nach Doppelzustellung des Widerrufsbeschlusses an
Verurteilten und Verteidiger.
Zur Frage, ob aus gesundheitlichen Gründen vom Widerruf der
Strafaussetzung zur Bewährung abgesehen werden kann.
Tenor:
I. Dem Verurteilten wird Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der
sofortigen Beschwerde gewährt.
II. Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten verworfen.
I.
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Der Verurteilte wurde mit Urteil des Amtsgerichts T vom 13.07.2006 (Az. ) zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung
ausgesetzt wurde. Mit Beschluss vom gleichen Tag setzte das Amtsgericht die Dauer
der Bewährungszeit auf drei Jahre fest. Am 01.03.2008 beging der Verurteilte einen
versuchten Diebstahl. Er wurde deshalb mit Urteil des Amtsgerichts T vom 24.10.2008
(Az. ) zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt. Diese Strafe wurde nicht zur
Bewährung ausgesetzt. Seine hiergegen gerichtete Berufung wurde mit Urteil der 2.
kleinen Strafkammer vom 11.02.2009 (Az. ) verworfen.
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Die Staatsanwaltschaft beantragte den Widerruf der Strafaussetzung aus dem Urteil
vom 13.07.2006. Der Verurteilte, vom Amtsgericht schriftlich angehört, wandte gegen
einen Widerruf ein, der erneuten Verurteilung könne mit einer Verlängerung
angemessen Rechnung getragen werden. Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation
sei er ausreichend gestraft, so dass es eines Widerrufs der Strafaussetzung nicht
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bedürfe. Sein physischer und psychischer Zustand sei kritisch. Er leide unter
chronischer Hepatitis C, Hyperbilirubinämie, Gastritis, einem degenerativen
Wirbelsäulensyndrom, einer gemischten schizoaffektiven Störung und einer paranoiden
Schizophrenie. Es bestehe die Gefahr einer Leberzirrhose und eines
Leberzellkarzinoms. Er habe versucht, sich zu erhängen. Eine nervenärztliche
Anbindung sei dringend angeraten; er erhalte eine erhebliche Medikation. Er sei in
ambulanter psychiatrischer Behandlung und werde zum zweiten Mal stationär
behandelt.
Mit Beschluss vom 08.10.2009 hat das Amtsgericht die durch das Urteil vom 13.07.2006
gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. Zur Begründung hat es unter
anderem ausgeführt, der Verurteilte habe durch die neue Straftat gezeigt, dass sich die
Erwartung des zukünftigen gesetzestreuen Verhaltens nicht erfüllt habe. Vor dem
Hintergrund, dass der Verurteilte mehrfach einschlägig vorbestraft sei, komme eine
andere Maßnahme als der Widerruf nicht in Betracht. Die gesundheitliche Situation
vermöge nicht dazu zu führen, dass von einem Widerruf abgesehen werden könne. Die
erforderliche Behandlung und Beaufsichtigung des Verurteilten könne auch im
Strafvollzug geleistet werden. Der Widerrufsbeschluss wurde dem Verurteilten am
15.10.2009, seinem Verteidiger am 23.10.2009 zugestellt.
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Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 26.10.2009, eingegangen beim Amtsgericht per
Fax am 26.10.2009, hat der Verurteilte sofortige Beschwerde gegen den
Widerrufsbeschluss eingelegt und zugleich Einsichtnahme in das Bewährungsheft
beantragt. Zur Begründung seiner Beschwerde hat er erneut vorgebracht, er leide unter
einer erheblichen psychischen Erkrankung. Diese habe inzwischen zu einem zweiten
Suizidversuch geführt. Er sei in der Psychiatrie des Kreisklinikums T in stationärer
Behandlung und auf die regelmäßige Einnahme von Medikamenten angewiesen. Er sei
auf eine Therapie angewiesen, die im Strafvollzug nicht geleistet werden könne. Im
Falle einer Inhaftierung sei mit weiteren Suizidversuchen zu rechnen; auch werde eine
Inhaftierung zu einer Verschlimmerung der Krankheit führen.
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Dem Verteidiger wurde vom 27.10.2009 bis zum 28.10.2009 das Bewährungsheft zur
Einsichtnahme überlassen. Mit Verfügung vom 16.11.2009 wies der Berichterstatter den
Verurteilten darauf hin, dass die sofortige Beschwerde verspätet eingelegt worden sein
dürfte. Daraufhin hat der Verurteilte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 24.11.2009
Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde beantragt.
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II.
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1. Dem Verurteilten ist gemäß § 44 Satz 1 StPO Wiedereinsetzung in die Frist zur
sofortigen Beschwerde zu gewähren.
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Der Verurteilte hat die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gemäß § 311
Absatz 2 StPO nicht eingehalten. Diese beträgt eine Woche ab Bekanntmachung der
Entscheidung. Der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts T wurde dem Verurteilten
ausweislich Postzustellungsurkunde am 15.10.2009 durch Einlegung in den zu seiner
Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt und damit gemäß § 35 Absatz 2 Satz 1
StPO bekannt gemacht. Die Frist endete demnach mit Ablauf des 22.10.2009. Der
Verurteilte hat die sofortige Beschwerde erst nach Fristende eingelegt, nämlich durch
Schriftsatz seines Verteidigers vom 26.10.2009, eingegangen beim Amtsgericht am
26.10.2009. Zwar wurde dem Verteidiger der Beschluss ausweislich seines
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Empfangsbekenntnisses erst am 23.10.2009 zugestellt. Die bereits durch Zustellung an
den Verurteilten in Gang gesetzte Frist wurde jedoch durch Zustellung an den
Verteidiger nach ihrem Ablauf nicht wieder eröffnet (vergleiche Meyer-Goßner,
Strafprozessordnung, 52. Auflage 2009, § 37, Randnummer 29).
Der Verurteilte war ohne Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten. Denn die
Fristversäumnis beruht auf einem Verstoß des Amtsgerichts gegen § 145a Absatz 3
StPO. Danach ist der Verteidiger von Zustellungen, die an den Verurteilten persönlich
veranlasst werden, zu benachrichtigen. Eine solche Benachrichtigung hat das
Amtsgericht unterlassen. Der Verurteilte war nicht verpflichtet, seinen Verteidiger selbst
von der Zustellung zu benachrichtigen (Meyer-Goßner, am angegebenen Ort, § 44,
Randnummer 17). Vielmehr durfte er darauf vertrauen, dass das Amtsgericht das
vorgeschriebene Verfahren einhält und sein Verteidiger somit auch ohne sein Zutun
rechtzeitig Kenntnis von der Zustellung und damit von dem Fristbeginn erlangt. Die
fehlende Benachrichtigung des Verteidigers wurde auch nicht durch die zusätzliche
Zustellung an den Verteidiger ausgeglichen. Unabhängig davon, dass sogenannte
Doppelzustellungen ebenfalls nicht mit § 145a Absatz 3 StPO vereinbar sind, wurde die
zusätzliche Zustellung an den Verteidiger so spät bewirkt, dass die Frist zur Einlegung
der sofortigen Beschwerde bereits abgelaufen war, der Verurteilte also auch durch die
zusätzliche Zustellung nicht mehr in den Stand gesetzt wurde, seine Verfahrensrechte
effektiv wahrzunehmen.
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Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auch rechtzeitig innerhalb
einer Woche ab Kenntnis von dem Wiedereinsetzungsgrund gemäß § 45 Absatz 1 Satz
1 StPO gestellt worden. Zwar hat der Verteidiger spätestens am 27.10.2009, als ihm das
Bewährungsheft einschließlich der maßgeblichen Zustellungsdokumente zur
Einsichtnahme überlassen war, von der Doppelzustellung Kenntnis erlangt, während
der Wiedereinsetzungsantrag erst am 24.11.2009 bei Gericht eingegangen ist.
Versäumnisse des Verteidigers sind dem Verurteilten jedoch in der Regel nicht
zuzurechnen (Meyer-Goßner, am angegebenen Ort, § 44, Rn 18). Anhaltspunkte, nach
denen der Verurteilte im vorliegenden Fall Anlass gehabt hätte, seinen Verteidiger zu
überwachen, bestehen nicht.
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2. Die sofortige Beschwerde ist unbegründet. Die Voraussetzungen für einen Widerruf
der Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56f StGB liegen vor.
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a. Es besteht der Widerrufsgrund des § 56f Absatz 1 Ziffer 1 StGB. Der Verurteilte hat
innerhalb der Bewährungszeit erneut eine Straftat begangen, indem er sich eines
versuchten Diebstahls schuldig gemacht hat. Er ist deshalb mit Urteil des Amtsgerichts
T vom 24.10.2008 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden. Der
Verurteilte hat mit der erneuten Straftat auch gezeigt, dass sich die der Strafaussetzung
zugrunde liegende Erwartung nicht erfüllt hat, er werde zukünftig keine Straftaten mehr
begehen (vergleiche Fischer, Strafgesetzbuch, 56. Auflage 2009, § 56f, Randnummer
8). Der Verurteilte war bereits mehrfach wegen Diebstahls vorbestraft; auch der hier
gegenständlichen Strafaussetzung zur Bewährung liegt eine Verurteilung wegen
Diebstahls zugrunde. Bereits die 2. kleine Strafkammer hat in ihrem Berufungsurteil vom
11.02.2009 gegen das Urteil des Amtsgerichts T vom 24.10.2008 festgestellt, dass die
bisher verhängten Maßnahmen der Strafjustiz der immer wiederkehrenden Delinquenz
im Bereich von Diebstahlstaten nicht entgegenzuwirken vermochten. Die 2. kleine
Strafkammer hat auch sonst keine Umstände gesehen, die eine Strafaussetzung zur
Bewährung hätten rechtfertigen können. Dieser Bewertung schließt sich die Kammer an.
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b. Die Voraussetzungen für ein Absehen vom Widerruf gemäß § 56f Absatz 2 StGB sind
nicht erfüllt. Entgegen der Ansicht des Verurteilten sind bei Anwendung dieser Vorschrift
die Auswirkungen des Strafvollzugs auf seine Gesundheit nicht zu berücksichtigen. Ob
der Widerruf unterbleiben kann, richtet sich allein danach, ob objektiv eine hohe
Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er in Zukunft bereits aufgrund milderer
Maßnahmen ein straffreies Leben führen wird, ein Widerruf der Strafaussetzung also
nicht erforderlich ist, um die widerlegte Aussetzungsprognose wiederherzustellen.
Besteht eine solche Wahrscheinlichkeit nicht, ist die Strafaussetzung zwingend zu
widerrufen (vergleiche OLG Hamm, NStZ-RR 2009, 259 [259f.]; Fischer, am
angegebenen Ort, Randnummer 14).
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Ein Absehen vom Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung kommt danach nicht in
Betracht. Seit der Entscheidung der 2. kleinen Strafkammer vom 11.02.2009, zu deren
Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht vorlagen,
sind weder wesentliche Änderungen in der Lebensführung des Verurteilten noch
sonstige Umstände eingetreten, aus denen sich eine günstigere Prognose für den
Verurteilten ergäbe. Insbesondere auch der von dem Verurteilten geschilderte
Gesundheitszustand lässt keine andere Einschätzung zu. Zwar mag zutreffen, dass der
Verurteilte unter anderem an einer seelischen Krankheit leidet, die bereits zu ernsthaften
Selbsttötungsversuchen geführt hat. Auch mag stimmen, dass der Verurteilte erheblich
unter seinen Krankheiten leidet. Nicht ersichtlich ist jedoch, dass die gesundheitliche
Entwicklung des Verurteilten auch zu einer Änderung seiner Einstellung und seines
Verhaltens im Hinblick auf die Begehung von Straftaten geführt hätte. Weder die
Schilderungen des Verurteilten über seinen Gesundheitszustand noch die vorgelegten
ärztlichen Unterlagen bieten hierfür Anhaltspunkte.
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Ob der Gesundheitszustand des Verurteilten einem Vollzug der Freiheitsstrafe
entgegensteht, ist gemäß § 455 StPO gegebenenfalls im Vollstreckungsverfahren zu
berücksichtigen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Absatz 1 Satz 1 StPO.
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