Urteil des LG Rottweil vom 19.08.2016

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LG Rottweil Urteil vom 19.8.2016, 1 S 57/16
Leitsätze
Keine Mithaftung trotz Überschreitung der Autobahn-Richtgeschwindigkeit um ca. 20 %
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Horb am Neckar vom 31.03.2016, Az. 1 C 47/16,
wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Amtsgerichts Horb am Neckar ist
ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 731,88 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Von der Darstellung des Sachverhalts wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO abgesehen.
II.
2 1. Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
3 Im Ergebnis zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Amtsgericht einen Anspruch des Klägers
gegen die Beklagten nach §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, Abs. 3, 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG - hinsichtlich der Beklagten
Ziffer 2 in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG - verneint. Die vom Amtsgericht ermittelte
Haftungsquote, nämlich Alleinhaftung des Klägers, dem das Verschulden seiner Fahrerin zuzurechnen ist, ist
nicht zu beanstanden. Die Entscheidungsgründe legen überzeugend und ausführlich dar, dass dem Kläger
kein Anspruch zusteht. Auf die Urteilsbegründung wird ausdrücklich Bezug genommen.
4 Die Berufung kann gemäß § 513 ZPO nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen
eine andere Entscheidung gebieten. Die Kammer ist vorliegend an die Tatsachenfeststellungen gemäß § 529
ZPO gebunden, da konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit nicht bestehen.
Die Berufung macht solche Mängel der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung auch nicht geltend. Die
Berufung rügt vielmehr, dass das Amtsgericht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen eine
ausschließliche Haftung des Klägers angenommen hat. Damit hat sie jedoch keinen Erfolg.
5 Im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG sind neben unstreitigen oder zugestandenen Tatsachen
nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Umstände, die nicht erwiesen sind, die sich also nicht
nachweislich auf die Entstehung des Schadens ausgewirkt haben, müssen unberücksichtigt bleiben.
6 Zutreffend hat das Amtsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass zu Lasten des Klägers zu
berücksichtigen ist, dass die Zeugin M, die Fahrerin seines Fahrzeugs, die besonderen Sorgfaltspflichten des §
5 Abs. 4 Satz 1 StVO (gesteigerte Sorgfaltspflicht beim Ausscheren), des § 7 Abs. 5 StVO (gesteigerte
Sorgfaltspflicht beim Fahrstreifenwechsel) und des § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO (Erfordernis einer wesentlich
höheren Geschwindigkeit beim Überholen) nicht ausreichend beachtet hat. Demgegenüber ist dem
Beklagten eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um maximal 20 % vorzuwerfen.
7 In der Rechtsprechung wird bei Konstellationen, in denen ein Fahrzeug auf der Autobahn auf die Überholspur
wechselt (hier Klägerfahrzeug), auf der von hinten ein anderes Fahrzeug mit einer höheren Geschwindigkeit
als der Richtgeschwindigkeit folgt (hier Beklagtenfahrzeug) und es dann zum Auffahrunfall kommt, in der
Regel eine Mithaftung des Auffahrenden in Höhe der normalen Betriebsgefahr angenommen. Die besonderen
Umstände des vorliegenden Falls gebieten indes ein vollständiges Zurücktreten der Betriebsgefahr des
Beklagtenfahrzeuges. Nach den unangegriffenen Feststellungen des Amtsgerichts führte das Fahrverhalten
der Zeugin M letztlich unvermeidbar, wenn auch nicht im Sinne eines für den Beklagten unabwendbaren
Ereignisses, zum Verkehrsunfall. Außerdem liegt die sich beim Verkehrsunfall verwirklichende Betriebsgefahr
des Klägerfahrzeuges (schwerfälliger Lkw) erheblich über der des Beklagtenfahrzeuges (gewöhnlicher Pkw).
Demgegenüber fällt die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit des Beklagten um maximal 20 % gering
aus und liegen im Übrigen keine weiteren, ihm zurechenbaren gefahrerhöhenden Umstände vor. Unter
Abwägung dieser Umstände ist eine Alleinhaftung des Klägers nicht zu beanstanden.
8 Die von dem Kläger in der Berufungsbegründung genannten Urteile ändern an dieser Bewertung nichts, da
die entsprechenden Urteile jeweils keine vergleichbaren Fälle betrafen. In dem dem Urteil des
Oberlandesgerichts Stuttgart (NJW-RR-2010, 604) zugrunde liegenden Fall hat das von hinten auffahrende
Fahrzeug die Richtgeschwindigkeit um 30 % überschritten und ereignete sich der Unfall bei Dunkelheit. Im
Fall des Oberlandgerichts Hamm (BeckRS 2008, 16671) lag die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit des
von hinten auffahrenden Fahrzeuges sogar bei über 50 %. Lediglich in dem weiteren Fall des
Oberlandesgerichts Hamm (BeckRS 2011, 00358) hatte das auffahrende Fahrzeug die Richtgeschwindigkeit
um immerhin noch 25 % überschritten, weswegen das Gericht eine Betriebsgefahr von 20 % - und nicht 30
% wie in dem Berufungsverfahren noch begehrt - angenommen hat. Letztlich handelt es sich bei der
Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge aber um eine
Ermessensausübung. Die Entscheidung des Amtsgericht begegnet insoweit keinen durchgreifenden
Bedenken und wird von der Kammer ausdrücklich geteilt.
9 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§
708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
10 3. Ein Grund nach § 543 Abs. 2 ZPO, die Revision zuzulassen, liegt nicht vor, da es sich ersichtlich um eine
Einzelfallentscheidung handelt, die keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft.