Urteil des LG Potsdam vom 15.03.2017

LG Potsdam: polizei, strafverfahren, gefahr, motiv, schlägerei, strafanzeige, quelle, sammlung, link, wand

1
2
3
4
5
Gericht:
LG Potsdam 7. Kleine
Strafkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
27 Ns 230/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 261 StPO
Beweiswürdigung im Strafverfahren: Befragung der Zeugen
erstmals ein Jahr nach dem Tatgeschehen
Leitsatz
1. Bleiben polizeiliche Ermittlungsvorgänge nahezu ein Jahr lang unbearbeitet und werden
Zeugen erst danach zum Tatgeschehen befragt, so ist die Zeugenaussage genau zu prüfen
und die Gefahr von Verwechselungen oder anderen Irrtümern in Rechnung zu stellen.
2. Wer bei der Polizei oder der Justiz Personaleinsparungen vornimmt, wie sie in den
zurückliegenden Jahren festzustellen waren, gibt damit zu erkennen, dass er der Aufklärung
und Ahndung von Straftaten nur eine untergeordnete Bedeutung beimisst.
Tenor
Auf die Berufung des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Brandenburg/Havel
vom 17.10.2007 – Gz. 22 Cs 4101 Js 2090/07 (101/07) – aufgehoben und der
Angeklagten freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Staatskasse auferlegt, die auch die notwendigen
Auslagen zu tragen hat, die dem Angeklagten in dem Strafverfahren erwachsen sind.
Gründe
(abgekürzt gemäß §§ 332, 267 Abs. 4 und 5 StPO)
Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel hat den Angeklagten mit dem
angefochtenen Urteil wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen
zu je 40,00 € verurteilt. Dem Angeklagten ist vorgeworfen worden, im Rahmen seines
Einsatzes als Sicherheitskraft im Sommer 2005 in dem Musikzelt in Brandenburg an der
Havel OT Briest folgende Körperverletzungen begangen zu haben:
Am 28. August 2005 habe er gegen 03.00 Uhr morgens wegen eines zerschlagenen
Glases den Diskothekenbesucher Ingo B zur Rede gestellt und diesen im Rahmen des
Streitgespräches an die Wand gedrückt. Als sich ein Bekannter des
Diskothekenbesuchers B, nämlich der Chr. W, hinzugesellt habe, sei es zu einer
Ausweitung des Streits gekommen. Der Angeklagte habe den Chr. W mit der Faust ins
Gesicht geschlagen. Infolge dieses Faustschlages sei der Geschädigte W zu Boden
gegangen und habe eine Platzwunde am linken Auge erlitten.
Der Angeklagte bestreitet die ihm vorgeworfene Tat. Ihm ist diese Tat auch nicht mit der
für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit nachzuweisen. Zwar steht es aufgrund des
in der Berufungsverhandlung verlesenen ärztlichen Attestes fest, dass der Chr. W eine
Platzwunde am linken Auge erlitt. Es ist allerdings bereits nicht erwiesen, dass diese
Wunde durch einen gezielten Schlag entstanden ist. So hat der Zeuge B geschildert,
dass sein Bekannter Chr. W den Streit habe schlichten wollen und hierbei in eine
Schlagbewegung hineingelaufen sei, die nicht für diesen, sondern für ihn, den Zeugen B,
bestimmt gewesen sei.
Selbst wenn man von einem gezielten, gegen den Chr. W gerichteten Schlag ausgehen
sollte, ist es im übrigen nicht geklärt, ob es der Angeklagte oder eine andere Person war,
die diesen Schlag ausgeführt hat. Lediglich der Zeuge R hat den Angeklagten bei einer
Wahllichtbildvorlage am 19. Dezember 2006 sowie später bei den Verhandlungen vor
dem Amtsgericht und dem Landgericht wiedererkannt, während die übrigen Zeugen,
insbesondere auch der Zeuge B, bei der Wahllichtbildvorlage und auch im späteren
Verfahren den Angeklagten nicht als diejenige Person wiedererkannt haben, die den
Streit mit dem Zeugen B hatte. Dies ist umso erstaunlicher, als der Zeuge B in den
Streit mit dem Täter verwickelt war und daher vielmehr als der – lediglich am Rande
6
7
8
9
Streit mit dem Täter verwickelt war und daher vielmehr als der – lediglich am Rande
stehende – Zeuge R Gelegenheit hatte, sich die Gesichtszüge des Täters, seine Statur,
sein Gestus und sein Habitus einzuprägen. Hinzu kommt, dass der Zeuge R im Oktober
2006 auf dem Anhörungsbogen eine Beschreibung des Täters abgegeben hat, die nicht
auf den Angeklagten passt: Dort hat er den Täter nämlich als etwa 170 cm groß und
blond beschrieben, während der Angeklagte dunkelhaarig und mindestens 185 cm groß
ist und damit den 168 cm großen Zeugen R deutlich überragt.
An den Aussagen des Zeugen R sind auch deshalb Zweifel angebracht, weil die Zeugen
erst im Oktober 2006 – also erst nach über 1 Jahr – erstmals zu dem Geschehen
polizeilich befragt worden sind und die Wahlbildlichtvorlage erst mehr als 15 Monate nach
dem vorgeworfenen Geschehen stattgefunden haben. Das gesamte Verfahren krankt
daran, dass die Strafanzeige, die der Chr. W am 5. September 2005 bei der
Polizeidienststelle in Tucheim erstattet hat, im September 2005 bei der
Polizeidienststelle in Brandenburg an der Havel einging, jedoch erst ab dem August 2006
dort bearbeitet wurde. Die Kammer geht davon aus, dass personelle Engpässe bei der
Polizeidienststelle zu dieser Verzögerung geführt haben. Es ist ein Irrglaube,
anzunehmen, dass Personaleinsparungen bei der Polizei ohne Auswirkungen auf die
Qualität der polizeilichen Arbeit bleiben. Wer bei der Polizei oder der Justiz
Personaleinsparungen vornimmt, wie sie in den zurückliegenden Jahren festzustellen
waren, gibt damit zu erkennen, dass er der Aufklärung und Ahndung von Straftaten nur
eine untergeordnete Bedeutung beimisst. Wie auch das vorliegende Verfahren zeigt,
wird gerade die Aufklärung von Straftaten dadurch negativ beeinflusst, dass – etwa
wegen Personalmangels – polizeiliche Vorgänge über Monate hinweg – hier: nahezu ein
Jahr lang – unbearbeitet bleiben: nach Jahr und Tag ist die Erinnerung von Zeugen
verblasst; ihre Aussagen sind nicht mehr so belastbar wie dies bei einer raschen
Aufklärung der Fall gewesen wäre. Die Gefahr, dass der Angeklagte mit einer anderen
dunkel gekleideten Person – nicht notwendig einer Sicherheitskraft – verwechselt worden
sein könnte, wächst mit dem zeitlichen Abstand, in dem die Zeugen zu dem
Tatgeschehen befragt worden sind. Der Umstand, dass der Zeuge R den Angeklagten
wiederzuerkennen glaubt, kann auch darin begründet sein, dass dieser den Angeklagten
bei anderer Gelegenheit in dem Musikzelt gesehen hat und nunmehr einer
Verwechselung unterliegt.
Hinzu kommt, dass der Angeklagte kein nachvollziehbares Motiv für die ihm
vorgeworfene Tat hat. Der Angeklagte ist seit mehr als zehn Jahren als Sicherheitskraft
tätig, ohne dass er bislang strafrechtlich in Erscheinung getreten wäre. Er hat einen IHK-
Abschluss als Personenschützer und ist an einem Einsatz in dem erheblich lukrativeren
Bereich der Personenbewachung interessiert. Hierfür ist es unter anderem erforderlich,
dass er möglichst nicht, jedoch jedenfalls nicht einschlägig vorbestraft ist. Die Tätigkeit in
Diskotheken, die stets auch ein hohes Maß an deeskalierenden Einsatz erfordert, stellt
für den Angeklagten lediglich einen “Brotjob” dar. Aus dieser Sicht wäre es vollkommen
unverständlich, wenn der Angeklagte einen Streit um ein zerdeppertes Glas bis hin zu
Tätlichkeiten eskalieren lassen würde. Dieser überflüssige Energieeinsatz stünde auch
nicht im Einklang mit seinen vertraglichen Verpflichtungen. Warum also sollte der
Angeklagte wegen eines zerstörten Glases, das nicht einmal ihm gehört, eine Schlägerei
beginnen?
Nach alledem kann dem Angeklagten die ihm vorgeworfene Tat nicht machgewiesen
werden. Der Angeklagte ist daher von dem Vorwurf freizusprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum