Urteil des LG Münster vom 01.12.2006

LG Münster: brücke, schaf, betriebsgefahr, sorgfalt, entstehung, bahn, erfahrung, mindestabstand, unfreiwillig, trennung

Landgericht Münster, 16 O 344/05
Datum:
01.12.2006
Gericht:
Landgericht Münster
Spruchkörper:
16. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
16 O 344/05
Schlagworte:
Tiergefahr, Schafherde, Haftung des Schafhüters/-halters
Normen:
§ 833 BGB
Leitsätze:
Hohe Sorgfaltsanforderungen an die Beaufsichtigung einer (Wander-
)Schafherde an konkreten Gefahrenpunkten
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1.) 13.842,02 € nebst
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem
02.09.2004 und an die Klägerin zu 2.) 537,89 € nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten ü-ber dem Basiszinssatz seit dem 01.08.2004 zu
zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe
von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand:
1
Der Beklagte übt den Beruf des Wanderschäfers aus. Am 12.04.2004 trieb er die ihm
gehörige Schafherde über die Kreisstraße K 10 von K in Richtung P. Die Herde bestand
aus ca. 1000 Tieren, 500 davon Mutterschafe sowie etwa 500 Lämmer. Die Kreisstraße
führt über die Bahnlinie N-O in Höhe des Bahnkilometers 88, 6. Hierzu ist für die
Kreisstraße eine Brücke mit einer lang gezogenen Steigung errichtet worden. Die
Brücke selbst sowie die beiderseitigen Auf- und Abstiege auf die Kreisstraße messen
eine Mindestbreite von 7,00 m. Die links- und rechtsseitigen Ausläufer der Steigung
werden von durchgezogenen Leitplanken gesäumt, die etwa in Kniehöhe befestigt
wurden. Der Brückenbereich selbst ist durch ein Geländer gesichert.
2
Der Beklagte befand sich bei dem Umtrieb der Herde in Begleitung eines Helfers und
zweier ausgebildeter Hütehunde. Er selbst führte mit einem der Hunde die Herde an,
sein Helfer, der Zeuge Y, folgte mit dem zweiten Hund am Ende der Herde nach.
3
Als sich die Schafherde auf der Brücke befand, entwich gegen 13.40 Uhr im Bereich des
4
Als sich die Schafherde auf der Brücke befand, entwich gegen 13.40 Uhr im Bereich des
Brückenaufstiegs, in Höhe des beginnenden Brückengeländers und dem Ende der den
Aufstieg säumenden Leitplanken mindestens ein Tier unterhalb der Leitplanken
hindurch in den rechtsseitigen Bereich jenseits der Straße. Es gelangte die an dieser
Stelle steile Böschung hinunter, die direkt auf die Bahngleise führte, wo es von der
soeben herannahenden Regionalbahn RB #### erfasst und getötet wurde. Der
Triebwagenfahrer hatte nach Erkennen des Schafes keine Möglichkeit mehr,
unfallverhütend zu reagieren.
4
Der Klägerin zu 1) entstanden Schäden und Kosten in Höhe von 13.842,02 €; der
Klägerin zu 2) in Höhe von 537,89 €. Eine Zahlung seitens des Beklagten erfolgte
bislang nicht.
5
Die Klägerinnen zu 1) und zu 2) sind der Ansicht, der Beklagte habe die ihm
obliegenden Sorgfaltsanforderungen zum Treiben seiner Herde nicht erfüllt. Die
Mitnahme eines Helfers und zweier Hütehunde seien zur Kontrolle der Herde
unzureichend gewesen. Sie behaupten hierzu, die Herde habe sich über eine Länge
von etwa 300 m hingezogen. Es hätten sich mindestens 10 Tiere von der Herde gelöst,
wovon der Beklagten nur 9 Tiere wieder auf den richtigen Weg habe treiben können.
6
Die Klägerin zu 1) beantragt,
7
den Beklagten zu verurteilen, an sie 13.842,02 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02. 09. 2004 zu zahlen;
8
die Klägerin zu 2) beantragt,
9
den Beklagten zu verurteilen, an sie 537,89 € nebst Zinsen in Höhe von
10
5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01. 08. 2004 zu zahlen.
11
Der Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13
Der Beklagte behauptet, die Schafherde habe sich über eine Länge von nicht mehr als
etwa 100 m erstreckt.
14
Das Gericht hat gemäß Beweisbeschluss vom 04.11.2005 Beweis durch Einholung
eines Sachverständigengutachten erhoben. Wegen des Ergebnisses wird auf das
Gutachten des Sachverständigen B vom 14.08.2006 verwiesen. Ferner hat die Kammer
den Zeugen Y vernommen. Insoweit wird auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung
vom 04.11.2005 (Bl. 78 bis 80 der GA). Schließlich hat die Kammer den
Sachverständigen ergänzend angehört (Bl. 148-150 der GA).
15
Es lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung die Akten der
Bundesgrenzschutzinspektion ######
16
Entscheidungsgründe:
17
Die Klage ist begründet.
18
Die Klägerin zu 1) hat einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 13.824,02 € und
die Klägerin zu 2) in Höhe von 537,89 € jeweils aus § 833 BGB.
19
I.
20
Der Beklagte hat beim Treiben seiner Herde über die Bahnüberführung der Kreisstraße
## über die Bahnlinie N-O nicht diejenige Sorgfalt beachtet, die gemäß § 833 BGB
erforderlich gewesen wäre, um Gefahren auszuschließen und eine sichere Teilnahme
am Straßenverkehr zu gewährleisten.
21
Dem Beklagten ist es nicht gelungen, sich durch Widerlegung der Kausalitäts- und
Verschuldensvermutung des § 833 S. 1 BGB gemäß § 833 S. 2 BGB zu exkulpieren.
22
1.
23
Die Voraussetzungen des § 833 S. 1 BGB liegen vor. Den Klägerinnen sind Sach- und
Folgeschäden entstanden. Infolge des Zusammenstoßes mit einem Schaf aus der
Herde des Beklagten ist die Regionalbahn RB #### beschädigt worden. Der
Steuerwagen wurde beschädigt und musste abgeschleppt werden. Dieses
Schadensereignis ist durch ein Tier im Sinne dieser Vorschrift verursacht worden. In
dem vorliegenden Unfall hat sich die tierspezifische Gefahr realisiert, die wiederum
ursächlich für den eingetretenen Schaden geworden ist. Von der Realisierung einer
spezifischen Tiergefahr ist auszugehen, wenn der Schaden Folge eines durch den
Menschen nicht beherrschbaren arttypischen, triebhaften Verhaltens des Tieres ist
(Palandt/Sprau, BGB, 65. Aufl., § 833 Rn. 6). Die Tatsache, dass sich ein Mutterschaf zu
seinem Lamm begibt, wenn dieses durch Blöken nach ihm ruft, und dabei nicht
vorgesehene Wege läuft, ist auch für einen professionellen Schäfer unbeherrschbar. Ein
solches Instinktverhalten lässt sich gerade nicht von außen steuern (vgl. zum
Ausbrechen eines Weidetieres aus seinem Herdenzusammenschluss als typische
Tiergefahr OLG I VersR 82, 1010).
24
Das Laufen des Schafes auf die Gleise ist auch kausal für den Schaden der
Klägerinnen geworden. Ohne das Ausbrechen des Tieres hätte es keinen
Zusammenstoß mit der Bahn gegeben, hätte diese nicht abgeschleppt werden müssen,
wären keine Verbindungen ausgefallen und hätten keine weiteren Züge Verspätung
gehabt.
25
2.
26
Der Beklagte war Halter des getöteten Schafes. Das gemäß § 833 S. 1 BGB vermutete
Verschulden für das Schadensereignis hat der Beklagte nicht gemäß § 833 S. 2 BGB
widerlegen können.
27
Zwar handelt es sich bei den von ihm gehaltenen Tieren um solche, die seiner
Erwerbstätigkeit dienen, so dass ihm grundsätzlich der Entlastungsbeweis offen steht.
Das getötete Schaf war Bestandteil seiner hauptberuflich betreuten Herde und mithin
ein Nutztier. Auch hat der Beklagte mit seinen Hunden und einem Helfer die Herde
beaufsichtigt.
28
Jedoch hat er nicht die für die konkrete Situation erforderlichen Sorgfaltsvorkehrungen
getroffen.
29
Das Maß an Sorgfalt, das ein Nutzviehhalter bei der Beaufsichtigung seiner Tiere
einzuhalten hat, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere unter
Berücksichtigung der Art und der Eigenschaften des einzelnen Tieres (BGH NJW-RR
2005, 1183; Palandt/Sprau, a.a.O., § 833 Rn. 19). Die Herde des Beklagten bestand aus
ca. 1000 Tieren, zu gleichen Teilen aus Muttertieren und Lämmern. Schafen ist es
eigentümlich, dass Muttertiere immer in unmittelbarer Nähe zu ihren Jungen laufen.
Ohne äußere Einwirkung bewegen sie sich mit direktem Körperkontakt zueinander fort.
Findet einmal unfreiwillig eine Trennung der zueinander gehörenden Tiere statt,
verständigen sich Mutter und Kind jeweils durch Blöken und suchen den kürzesten Weg
zueinander.
30
Der Beklagte musste beim Forttreiben der Herde jederzeit damit rechnen, dass ein nicht
gänzlich reibungsloser Ablauf dieses Bewegungsverhaltens der Tiere gelingen werde.
Es kann dahingestellt bleiben, ob auf der sonstigen Strecke die Absicherung der Herde
mit einem Helfer und zwei Hunden ausreichend gewesen ist.
31
Jedenfalls hat der Beklagte die mit dem Überqueren einer Bahnstrecke verbundenen
besonderen Gefahren verkannt. Allein aus dem Umstand heraus, dass es in der
Vergangenheit keine Probleme an der Unfallstelle gegeben hat, kann nicht geschlossen
werden, dass die getroffenen Vorkehrungen ausreichend waren. Zwar war die Brücke
mit einem Geländer umfasst und der Aufstieg zur Brücke sowie der Abstieg von der
Brücke von durchgezogenen Leitplanken gesäumt. Doch hätte der Beklagte
berücksichtigen müssen, dass diese mit einem Mindestabstand vom Boden so hoch
angesetzt waren, dass ohne Probleme Tiere durchlaufen konnten.
32
Nach den Ausführungen des gerichtlich beauftragten Sachverständigen B war die
konkrete Situation an der Brücke, selbst wenn man von einer Länge der Herde von nur
100 m ausgeht, so, dass der Beklagte seine Tiere so nicht mit Sicherheit beisammen
halten konnte. Unter den Leitplanken konnte die Schafe ohne weiteres entweichen. Das
Gelände in Höhe der Bahnüberführung war zudem zur Bahnschiene hin sehr steil
abfallend, so dass ein eventuelles Verfolgen eines oder mehrerer ausgebrochener Tiere
ersichtlich nicht möglich war.
33
Zwar gibt es keinerlei Richtlinien oder Vorschriften für das Führen von Schafen auf
öffentlichen Straßen. Jedoch hat der Sachverständige nachvollziehbar dargelegt, dass
allein eine seitliche Begrenzung durch Leitplanken, eine Schafherde nicht
zusammenhält. Hierzu hatte der Sachverständige Fotos vorgelegt, auf denen dieses
deutlich und anschaulich wurde.
34
Das Gericht geht mit dem Sachverständigen davon aus, dass entweder durch den
Einsatz eines mobilen Schafzaunes oder zusätzlicher Helfer und Hunde ein
Ausbrechen von Schafen hätte verhindert werden können. Seiner Erfahrung nach, die
auf Gesprächen mit anderen Wanderschäfern beruht, werden bei einer Herde dieser
Größe bereits mehr Begleitpersonen hinzugezogen, als es von Beklagten getan wurde.
Dies ist, so der Sachverständige, selbst dann üblich, wenn noch nicht einmal konkrete
Gefahrenpunkte wie der vorliegende zu erwarten sind.
35
Insbesondere das Anbringen eines entsprechenden Zaunes wäre dem Beklagten auch
zuzumuten gewesen und steht nicht außer Verhältnis zu dem Treibvorgang im Übrigen.
Allein aufgrund der Breite der Kreisstraße durfte der Beklagte nicht auf ein geordnetes
36
und ruhiges Gangbild der Tiere schließen. Aus diesem Grund kann sich der Beklagte
letztlich nicht darauf berufen, auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfaltsmaßnahmen
sei ein Schadenseintritt unvermeidbar gewesen.
3.
37
In Anbetracht dieser Umstände müssen sich die Klägerinnen nach Überzeugung des
Gerichts auch kein Mitverschulden gemäß § 254 BGB i.V.m. §§ 1, 4 HPflG anrechnen
lassen.
38
Die Betriebsgefahr, die von einer in Bewegung gesetzten Schienenbahn ausgeht, tritt
hier vollständig hinter der vom Beklagten verursachten Gefährdungslage zurück.
39
Für die Anrechnung eines Mitverschuldensbeitrages gemäß § 254 I BGB bedarf es
eines Verschuldensbeitrages des Geschädigten im Hinblick auf Entstehung des
Schadens. Es genügt ein Verhalten, das zurechenbar zumindest zur Vergrößerung des
Schadens beigetragen hat (BGHZ 52, 168). Hierzu zählt auch die Betriebsgefahr, die
von einer Sache ausgeht (BGH NJW 1952, 1015; Palandt/Heinrichs, a.a.O., § 254 Rn.
10).
40
Zwar haben sich die Geschwindigkeit der Regionalbahn und die damit verbundene
Intensität des Aufpralls in der Unfallfolge der Beschädigung des Steuerwagens
ausgewirkt. Dies kann den Klägerinnen jedoch nicht angerechnet werden. Im Hinblick
auf die Verursachung, also die Entstehung des Schadensereignisses, trifft den
Bahnführer keine Verantwortung. Vielmehr ist das Entweichen des fraglichen Schafes
eine Folge der mangelnden Absicherung der Umgebung durch den Beklagten. Der
Zugführer hatte keinerlei Möglichkeit mehr auf das über die Gleise laufende Schaf zu
reagieren.
41
Ist ein ganz überwiegendes Verschulden des Schädigers festzustellen, tritt die
Betriebsgefahr der Bahn so weit zurück, dass sie nicht berücksichtigt werden kann (OLG
I, VersR 82, 1010; abweichend OLG N2 NZV 1991, 189).
42
4.
43
Die geltend gemachten Zinsforderungen der Klägerinnen rechtfertigen sich aus § 288
Abs. 1 BGB. Mit den Rechnungsschreiben der Klägerin zu 1) vom 13.08.2006 sowie der
Klägerin zu 2) vom 12. 07 2006 ist der Beklagte nach Ablauf der gesetzten Frist in
Verzug geraten.
44
II.
45
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91; 709 S. 1, 2 ZPO.
46